„Der beste Hitler aller Zeiten“

Das bisherige Standardwerk Hitler1 erschien bereits 1973. Es entstammt der Feder des Herausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Joachim C. Fest. Zwar ist die Faktenfülle der mehr als 1.000 engbedruckten Seiten überwältigend. Inhaltlich aber ist das Buch seit jeher umstritten.

Der kürzlich erschienene erste Band der Hitler-Biographie des britischen Historikers Ian Kershaw behandelt die Zeit von Hitlers Geburt 1889 bis zur Konsolidierung der faschistischen Staatsmacht 1936. Daß Kershaws Werk das Potential hat, Fests konservativen Hitler-Klassiker als Standardbiographie abzulösen, ist ein wahrer Segen für kommende Generationen von Geschichtsstudenten.

Das bisherige Standardwerk: Schicksalsdrama der Großbourgeoisie
Fest schreibt sehr zutreffend über Adolf Hitler: Die eigene Person zu verhüllen wie zu verklären, war eine der Grundanstrengungen seines Lebens. Kaum eine Erscheinung der Geschichte hat sich so gewaltsam, mit so pedantisch anmutender Konsequenz stilisiert und im Persönlichen unauffindbar gemacht.

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Die Grundanstrengung Fests besteht darin, die Stilisierung der Person Hitlers mit anderen Zielen fortzuführen.
Im O-Ton Fest klingt das dann so: Tatsächlich war er in einem beispiellosen Grade alles aus sich und alles in einem: Lehrer seiner selbst, Organisator einer Partei und Schöpfer ihrer Ideologie, Taktiker und demagogische Heilsgestalt, Führer, Staatsmann und, während eines Jahrzehnts, Bewegungszentrum der Welt.
In diesem Abschnitt namens Hitler und die historische Größe heißt es weiter, Hitler sei der Rousseau, der Mirabeau, der Robespierre, der Napoleon, der Marx, der Lenin, der Trotzki und der Stalin seiner Revolution in einem gewesen.

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Im Sinne von Leopold Rankes Maxime Große Männer machen Geschichte übernimmt Fest praktisch alle Mythen, die Hitler über sich selbst in die Welt gesetzt hat. Fest versucht, ihn als unwiderstehlichen Magier aufzubauen, an dessen Aufstieg nichts und niemand schuld gewesen ist, als seine eigenen, schier übermenschlichen Fähigkeiten.
Zwar wird Fests Biographie, in der in den Worten Franz Josef Degenhardts die deutsche Großbourgeoisie ihr Krisenmanagement namens Faschismus als Schicksalsdrama darstellt, mit einem plebejischen Dämon als tragischer Held
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, in Kershaws Einleitung brav für Stil und Faktenreichtum gelobt. Inhaltlich aber ist Kershaws Hitler eine Frontalattacke auf die wesentlichen Aussagen Fests.
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Kindheit und verkrachte Jugend, Weltkrieg als Rettung
Bereits in der Darstellung der Hitlerschen Kindheit vermeidet Kershaw den Fehler der meisten Biographen, den Terror im elterlichen Beamtenhaushalt (insbesondere die annähernd täglichen Gewaltausbrüche des Vaters) zu verharmlosen. Dadurch wird der Dämonisierung Hitlers als böses Genie von Anfang an ein Riegel vorgeschoben.
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Kershaw zeigt, wie das jähe Scheitern von Hitlers hochfliegenden Künstlerträumen in den Wiener Jugendjahren innere Zerrissenheit, Selbsthaß und Frust steigerte. Anschließend durchlebte Hitler den Alptraum jedes Kleinbürgers: Er vollzog den sozialen Abstieg ins Lumpenproletariat und landete in einem Obdachlosenheim.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bot dann die Chance, dem Alltag des ständigen Scheiterns zu entfliehen. Zum ersten Mal erlebte der damals in München wohnhafte Hitler in der jubelnden Masse der Kriegsbegeisterten das Gefühl, als Teil einer Gemeinschaft wirklich gebraucht zu werden.
Nachdem er überwältigt von stürmischer Begeisterung in die Knie gesunken war und dem Himmel aus vollem Herzen dankte, in dieser Zeit leben zu dürfen

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, meldete sich Hitler freiwillig zum Krieg, an dem er anschließend als Meldegänger und mit großer Hingabe teilnahm.

Revolution und Konterrevolution
Das plötzliche Kriegsende traf den nach einem Gasangriff im Lazarett befindlichen Hitler aus heiterem Heldenhimmel. Bis zuletzt hatte Hitler den Siegesmeldungen der Obersten Heeresleitung geglaubt und sah sich nun um die Früchte eines vierjährigen Kampfes betrogen. Seine bereits in Wien entstandene Ablehnung von Marxismus und Arbeiterbewegung erreichte durch diesen vermeintlichen Verrat krankhafte Ausmaße: In diesen Nächten wuchs mir der Haß, der Haß gegen die Urheber dieser Tat.

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Hitler schwor bittere Rache.
Die mußte allerdings warten. Denn zunächst war die Revolution am Drücker für Hitler die entsetzlichste Gewißheit meines Lebens
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Ohnmächtig mußte Hitler die Wochen der Arbeiterherrschaft im roten Räte-München erleben. Den Einmarsch der Freicorps und das anschließende Blutbad unter den revolutionären Arbeitern empfand Hitler als Erlösung.

Ian Kershaw arbeitet mit großem Aufwand heraus, welche Bedeutung der millionenfachen Erfahrung von Kriegsniederlage, Revolution und Konterrevolution für den Aufstieg der Nazis zukommt. Das gilt einerseits für den gesellschaftlichen Rahmen für Hitlers kommende Aktivitäten: Ohne diesen jähen Gang der Geschichte wäre Hitler ein isolierter Spinner geblieben. So fand er Millionen, durch die Ereignisse ebenfalls radikalisierte Mitspinner. Gleichzeitig bot München mit einer durch den Blutrausch der Freicorps traumatisierten Arbeiterbewegung ideale Aufbaubedingungen für die extreme Rechte.
Darüberhinaus aber zerlegt Kershaw zwei Führermythen, die sich bis zum heutigen Tag gehalten haben. Der erste ist die Idee, Hitler habe sich allen Widrigkeiten zum Trotz durch die alleinige Kraft seines eisernen Willens und die beharrliche Verfolgung seiner weltanschaulichen Ziele durchgesetzt.
Diese Sichtweise dominiert Joachim C. Fests 1.000 Buchseiten und seinen dazugehörigen (und zum Pflichtfilm jeder Schulklasse gewordenen) Film Hitler – Eine Karriere. Kershaw nimmt diesen Mythos gnadenlos auseinander.

Zerbrecher des Marxismus
Die Konterrevolution 1919 bereitete den Boden. Hitlers anschließender, rasanter Aufstieg in München aber war dem Interesse der Herrschenden geschuldet, sich schleunigst ein wirkungsvolles Gegengewicht zur schnell anwachsenden revolutionären Linken zu schaffen. Dafür wurde Bayern zur rechten Ordnungszelle im Reich ausgebaut und gleichzeitig das Wachstum einer völkischen Bewegung von oben befördert.
Wie Kershaw deutlich macht, kann von Widrigkeiten keine Rede sein kann. Vielmehr war der Weg (Hitlers. FK) von den Umständen, von Opportunismus, Glücksfällen und nicht zuletzt vom Rückhalt der Armee gekennzeichnet.

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Die Reichswehr beschäftigte Hitler zunächst als Spitzel, bildete ihn dann in einer längeren Schulungsreihe ideologisch aus, ernannte ihn nach einer rednerisch beeindruckenden Haßtirade gegen Juden zum Bildungsoffizier, schickte ihn als Aufbauunterstützung in die NSDAP-Vorläuferpartei DAP und half schließlich beim Kauf des Völkischen Beobachters mit 60.000 Reichsmark aus!
Der zweite Führer-Mythos, den Fest ebenso eifrig nacherzählt, ist die Behauptung, Hitler sei Organisator einer Partei und Schöpfer ihrer Ideologie gewesen. Nicht nur, daß Hitler Organisationsfragen grundsätzlich anderen überließ und in diesem Feld keinerlei Talent bewies. Kershaw legt auch ausführlich dar, wie sich völlig unabhängig von Hitler und seiner zunächst unbedeutenden Bewegung ein ganzes Segment des klassischen nationalkonservativen Milieus radikalisierte und zu einer schnell wachsenden völkischen Bewegung zusammenballte.

So brachte im Kapp-Putsch-Jahr 1920 ein Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund 7,6 Millionen Pamphlete, 4,7 Millionen Handzettel und 7,8 Millionen Aufkleber antisemitischen Inhalts unters Volk.
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Dazu kam ein Aufblühen völkischer Ideen im rechten Bildungsbürgertum. Alle wesentlichen Elemente der NS-Propaganda wurden von einem Heer rechter Intellektueller ausgearbeitet und öffentlich gemacht. Hitler mußte die verschiedenen Elemente nur aufnehmen und verbinden. Und selbst an dieser Leistung hatten andere völkische Ideologen mehr Anteil als Hitler.
Die Entwicklung der NS-Ideologie wird in den hervorragendsten Passagen des Werks detailliert dargestellt. Kershaw gehört dabei zu einer kleinen Minderheit bürgerlicher Historiker, die die zentrale Bedeutung des Antimarxismus verstanden haben. Denn der Kampf gegen die Arbeiterbewegung ist der vereinigende Knotenpunkt in Hitlers Weltbild. Hier fließen z.B. Lebensraumideologie und Antisemitismus zum Kampf gegen die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung, verkörpert durch die Sowjetunion, zusammen.

Auf dem Weg zum Durchbruch
Der gescheiterte Münchner Putschversuch beendete den ersten Anlauf der NSDAP zur Macht. Als Hitler 1924 aus der Haft entlassen wurde, fand er seine Partei völlig zerstritten und die völkische Bewegung zersplittert vor.
Für jene, die die Spaltung des Front National hintersinnig als eigentliche Stärkung des französischen Faschismus interpretieren, ist dieser zweite Teil der Biographie aufschlußreich. Was den Erben Hitlers seit Jahrzehnten nicht gelingen will, schaffte die NSDAP in der relativen Stabilität der Aufschwungjahre 1924-29. Sie saugte eine Reihe völkischer Sekten und Parteien auf, fusionierte mit anderen und stand bei Einbruch der Weltwirtschaftskrise mit 100.000 Mitgliedern als unumstrittene Hauptkraft der rechtsextremen Opposition in den Startlöchern.

Kershaw beweist hier sein exzellentes Verständnis der Dynamik faschistischer Parteien. Der Umbau der NSDAP zur Führerpartei, die Erringung der Hegemonie im rechten Lager und die zahlreichen innerparteilichen Brüche und Konflikte werden überzeugend dargestellt.

Kershaws analytische Grenzen
Mit der Vorbereitung auf den Durchbruch der Bewegung in den Jahren bis 1929 kommt Kershaw allerdings besser zurecht, als mit dem Durchbruch selbst. Hier werden die Grenzen von Kershaws strukturalistischem Ansatz deutlich.
Ironischerweise war es Kershaw selbst, der mit seinem Herangehen vor langen Jahren eine Abkehr vom rein hitlerbiographischen Erklärungsmodell des Faschismus
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einleitete. Ihn interessierte deshalb auch während der Abfassung seines eigenen Hitler, wie Kershaw in der Einleitung schreibt, nach wie vor weniger der merkwürdige Charakter des Mannes (…), als die Frage, wie Hitler möglich war

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Hitler kann als Musterbeispiel für einen Satz von Karl Marx dienen: ‚Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber (…) nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.
Kershaw vermag, Hitlers Aufstieg zum Führer einer Massenbewegung in diesem Sinne in die gesellschaftliche Entwicklung zu integrieren. Die entscheidende Rolle, die der Weltwirtschaftskrise und der Suche herrschender Kreise und Millionen Demoralisierter nach einem autoritären Ausweg in Kershaws Darstellung zukommen, entspricht weitestgehend der Auffassung der marxistischen Geschichtsschreibung.
An die Grenzen seiner analytischen Methode stößt Kershaw allerdings im Umgang mit der politischen Polarisierung der Krisenjahre. Kershaw übernimmt von Marx, daß die Handlungen des Individuums in ihrer dialektischen Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Umständen verstanden werden müssen.

Er verwirft aber die Marxschen Konzepte von Krise, Klassenkampf und Revolution. Für Kershaw scheint die Entscheidung, ob Hitlers Aufstieg gestoppt wird, alleine davon abzuhängen, ob sich die Wirtschaft rechtzeitig erholt. Der zentrale Zweikampf der Weimarer Endphase ist für ihn nicht Faschismus gegen Arbeiterbewegung, sondern Faschismus gegen bürgerliche Demokratie. Deren offenkundige Unfähigkeit, eine Krise der Weimarer Dimension zu meistern, schreibt er der Skrupellosigkeit einzelner Hintergrundlogen und Politiker zu.
Auch in diesen Kapiteln bleibt Kershaws Werk, was Recherche, Stil und die konkrete Analyse angeht, brilliant. Die gewaltige Explosion der NS-Bewegung ab 1930, die im Abfall Otto Strassers kulminierenden Konflikte in der NSDAP und das von Goebbels als Schachspiel um die Macht bezeichnete monatelange Hin und Her bis zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler all das schildert Kershaw mit gewohnter Eleganz und Überzeugungskraft.
Die Auffassung, daß die einzige Alternative zur braunen Machtergreifung die Verteidigung des Status Quo ist, führt aber zu einer wachsenden Einseitigkeit in Kershaws Darstellung. Seine Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verflacht, je mehr er sich der faschistischen Machtergreifung nähert.

Zwei Pole, das Kapital und die Machtübergabe
Da für Kershaw die KPD als potentieller Machtfaktor ebenso ausscheidet, wie eine sozialistische Revolution als Antwort auf die Krise, erscheint es, als gäbe es ab 1930 einen unaufhaltsamen und widerstandslosen Zug nach rechts. Daß der Explosion der Nazis die enorme Bereitschaft zu militantem Widerstand unter Millionen Anhängern von SPD, KPD und Gewerkschaften entgegenstand, läßt Kershaw nur ahnen.
Die bestorganisierte Arbeiterbewegung der Welt wird erst als Faktor im Spiel der Kräfte sichtbar, wenn sich Kershaw ihrer Zerschlagung kurz vor und nach Hitlers Machtübernahme zuwendet. Daß Kershaw den SA-Terror gegen die Arbeiterbewegung auf breitem Raum und sehr eindrucksvoll schildert, verstärkt in diesem Kontext die Einseitigkeit der Analyse.

Die Unterstützung des Kapitals für Hitler spielt Kershaw andererseits herunter. Aus der richtigen Feststellung, das lange Zeit nur wenige Kapitalisten Hitler unterstützten und nur wenige von ihnen ideologisch überzeugte Nazis waren, folgert er, daß diese Unterstützung nicht entscheidend für die Machtübernahme Hitlers war.
Das ist ein grobes Mißverständnis. Erstens war auch die anfänglich auf wenige Personen begrenzte Unterstützung von oben für die NS-Bewegung von zentraler Bedeutung. Etablierte Großbürger wie Ernst Hanfstängel eröffneten Hitler den Zugang zu den Salons der High Society. Einzelne Großkapitalisten wie Fritz Thyssen unterstützten Hitler schon seit den frühen 20ern. Ihre Geldspenden verhinderten den Zerfall der Bewegung nach dem gescheiterten Putsch 1923 und ermöglichten Neuaufbau und Wachstum der Partei 1924-29.

Zweitens behaupten selbst unter den krudesten stalinistischen Interpretationen nur die wenigsten, daß das Kapital von Hitler begeistert und von seiner Weltanschauung überzeugt war.
Das Krisenmanagement einer ökonomischen Katastrophe Marke Weimar ist eben auch für das Großkapital kein Badespaß in der Sommersonne. Leo Trotzki vergleicht die Einstellung der Großbourgeoisie zum Faschismus damit, daß man auch vom Ziehen eines kranken Zahns nicht begeistert ist, letztlich aber trotzdem gerne zu dieser Lösung greifen wird, wenn die Schmerzen unerträglich werden.

Die Kommandozentralen des Kapitals warfen sich hinter Hitler, als mit Heinrich Brüning, Franz von Papen und General Kurt von Schleicher bereits drei Anläufe zu einer autoritären Lösung der Weimarer Krise gescheitert waren.
Die Zerschlagung des Krisenknotens durch Hitler und die SA war für das Kapital die ungeliebteste und wie der Gang der Geschichte erwies auch riskanteste Option. Aber das schließliche Votum der Banken und Großkonzerne war nichtsdestotrotz das ausschlaggebende grüne Licht für Hitlers Machtübernahme.

Hitler und Milosevic

Aufgrund dieser Mängel bildet die Phase zwischen dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise und der Ernennung zum Reichskanzler den schwächsten Teil von Ian Kershaws Werk. Die letzten Kapitel über die Zeit von der Machtergreifung 1933 bis zur erfolgreichen Remilitarisierung des Rheinlands 1936 bestechen erneut durch Kershaws Fähigkeit, konkrete Vorgänge in einen gesellschaftlichen Gesamtprozeß einzubinden.
Nach einer ausgesprochen gelungenen Behandlung der Entmachtung der SA im sogenannten Röhm-Putsch wendet sich Kershaw verstärkt der Außenpolitik des frühen NS-Staates zu. Diese Schlußkapitel erhalten durch die Propagandaoffensive rund um den Serbien-Krieg ungeahnte Aktualität.

Das wesentlichste, von der CDU/CSU während der Raketenkrise der 80er aus der Taufe gehobene Argumentationsmuster lautet in etwa: Hätten die Alliierten Hitler sofort militärisch angegriffen, anstatt jahrelang seinem Treiben zuzuschauen, hätte der Holocaust verhindert werden können. Mit dieser Argumentation wird ein Widerspruch zwischen Nie wieder Krieg und Nie wieder Auschwitz konstruiert: Der Pazifismus der 30er Jahre habe, so Heiner Geißler in den 80ern, Auschwitz möglich gemacht.
Gegen diese These leisten Kershaws Schlußkapitel gute Arbeit. Kershaws Thema ist die NS-Außenpolitik, nicht diejenige der Westalliierten. Dennoch wird deutlich: Die diplomatische Frontstellung nach 1933 war keineswegs Alle gegen Hitler!. Alleine Frankreich war aufgrund der unmittelbaren Bedrohung durch den faschistischen Nachbarn von Anfang an für eine harte Linie.
Daß sich diese Linie durchsetzte, wurde vor allem durch die von Hitler geschickt genutzten Differenzen zwischen Frankreich und England verhindert. Wie man weiß, gab es im englischen Königshaus große Sympathien für Hitler, wie überhaupt die Zerschlagung der deutschen Arbeiterbewegung und insbesondere der KPD Hitler bei den Herrschenden aller Länder Respekt und Vertrauen einbrachte. Selbst in Kershaws auf Deutschland konzentrierter Darstellung ist ersichtlich, daß England Hitler über Jahre hinweg eher als Verhandlungs- und potentiellen Bündnispartner betrachtete, denn als kommenden Kriegsgegner.

Wie weit es mit dem Antifaschismus der Westmächte wirklich her war, zeigt insbesondere der Aufwand, mit dem England und Frankreich das faschistische Italien in ihre Bündnispolitik einzubinden suchten.
Erst als Italien Abessinien überfiel und Hitler immer sichtbarer nach der Macht in ganz Europa griff, kam es zu einem Wechsel Italiens ins deutsche Lager und einer schrittweisen strategischen Wende Englands gegen Deutschland. Mit anderen Worten: Nicht die Zerschlagung der Demokratie, die Auslöschung der Arbeiterbewegung , das Massaker gegen die eigenen Anhänger im Röhm-Putsch oder die Nürnberger Rassegesetze von 1935 brachten England gegen den NS-Staat in Stellung sondern die wachsende Bedrohung der eigenen imperialistischen Interessen.
Und genau das ist wie der verantwortungslose und desinteressierte Umgang mit den albanischen Flüchtlingen zeigt die eigentliche Parallele zwischen dem Krieg gegen Serbien und dem Zweiten Weltkrieg!

Fazit

Alles in allem ist Kershaws Hitler die beste Publikation zum deutschen Faschismus seit Jahren. Er revidiert nicht nur die Ergebnisse von Fests Hitler. Gewissermaßen im Vorbeigehen werden auch eine ganze Reihe der Kernthesen Daniel Goldhagens und der neurechten Historiker um Ernst Nolte widerlegt.
Wer sich einen umfassenden Hintergrund zur Entwicklung der NS-Bewegung verschaffen will, ist mit Kershaws Werk bestens beraten. Jede einzelne Seite lohnt die Mühe, sich durch das Mammutwerk zu arbeiten. Kershaws Biographie bietet ein breites historisches Fundament, auf dem sich durch ein Studium der Schriften Leo Trotzkis über Deutschland 1930-33 relativ problemlos eine kompakte marxistischen Analyse des deutschen Faschismus errichten läßt.

Florian Kirner


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Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie 1973, Frankfurt/M-Berlin

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Fest: Hitler (S.29)

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Fest: Hitler (S.18)

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Franz Josef Degenhardt: Brandstellen. Roman 1975 / 1997 Berlin

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Für Eingeweihte ist beispielsweise unübersehbar, daß Kershaw auf Fest abzielt, wenn er die gesammelte Debatte über Hitlers Größe als unsinnig verwirft (S.20f) oder seine Überraschung über den geringen Stellenwert der antijüdischen Politik in vorangegangenen Biographien zu Protokoll gibt (S.9).

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Als wirklich aufschlußreiche und einzig überzeugende Analyse der psychischen Entwicklung Hitlers ist Alice Millers Abfassung Adolf Hitlers Kindheit vom verborgenen zum manifesten Grauen (in: Am Anfang war Erziehung Frankfurt/M 1980) allerdings weiterhin unverzichtbar. Wie in ihren anderen Büchern, erliegt Alice Miller auch in ihrer Hitler-Darstellung eindeutig der Versuchung, ihre exzellenten Analysen von frühkindlicher Prägung und emotionalem Mißbrauch durch die Eltern zum Erklärungsansatz für Nationalismus und Faschismus zu verlängern. Für jeden Marxisten ist es aber ein Leichtes, ihre bahnbrechenden psychoanalytischen Erkenntnisse in eine gesamtgesellschaftliche Analyse zu integrieren.

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Zitiert nach: Kershaw: Hitler (S 107)

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ebenda

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Zitiert nach Kershaw: Hitler (S 143)

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Kershaw: Hitler (S 172)

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Kershaw: Hitler (S 182)

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Wobei ein wesentlicher Bezugspunkt und Förderer dieser Richtung Joachim C. Fest war.

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Kershaw: Hitler (S 8)

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