Der SDS: „Ein Lehrstück sozialistischer Politik“

Tilman Fichter hatte seit 1963 dem Berliner SDS bis zu dessen Auflösung 1970 angehört. Heute ist er an der SPD-Parteischule beschäftigt. Die erste Auflage der "Kleinen Geschichte des SDS" war 1977 erschienen. In einer Verlagsbemerkung zur 2. Auflage von 1998 heißt es: "Mit größerer Distanz und unter Berücksichtigung neuer Quellen haben die Autoren diesen Überblick vollständig überarbeitet und ergänzt."
Nicht immer führt "größere Distanz" bei der Aufarbeitung von Zeitgeschichte auch zu einer verschärften Sichtweise, insbesondere dann nicht, wenn ehemals revolutionäre Sozialisten der 68er Generation von gar nicht mehr revolutionären Standpunkten ihre eigene Geschichte aufarbeiten. Dies gilt mit gewissen Einschränkungen auf für die überarbeitete Fassung der "Kleinen Geschichte…" Weitgehend überarbeitet wurde die Zeit der Neugründung des SDS (1946-48, Kapitel 1), sowie die Zeit der Linkswende des SDS gegen Ende der 50er Jahre und der anschließende Ausschluss aus der SPD. (1960-61, Kapitel 2)


Buchrezension: "Macht und Ohnmacht der Studenten. Kleine Geschichte des SDS" von Tilman Fichter, Siegward Lönnendonker (Rotbuch Verlag, 1998, 2. Auflage)

Von der zentristischen zur revolutionären Organisation

Das Kapitel 3, das die Umwandlung des SDS von einem "seminarmarxistischen" in
einen revolutionär-aktionistischen Verband behandelt, blieb weitgehend unverändert und hat deshalb auch
nichts von seiner ursprünglichen Authentizität eingebüßt.

In diese Zeit (1965) fiel der Eintritt einer Gruppe von "revolutionären Unterwanderern" in den
SDS, die bis dahin einer eher anarchistisch als marxistisch orientierten Gruppe namens "Subversive
Aktion" angehört hatten. Zu dieser Gruppe gehörte auch der spätere Studentenführer Rudi Dutschke.
Zwischen der revolutionären Aktivisten und den Seminarmarxisten oder auch "Traditionalisten"
entspann sich ein heftiger Fraktionskampf, der von Berlin auf den gesamten SDS übersprang. Der SDS machte
die Transformation von einem eher noch links sozialdemokratischen (man könnte auch sagen

"zentristischen", d.h., zwischen Reform und Revolution schwankenden) Studentenverband in einen
revolutionären durch. Dieser Prozess dauerte von 1965 bis zur 22. Delegiertenkonferenz im September 1967,
auf der die Aktionisten (die sich selbst damals "Antiautoritäre" nannten) die Führung im SDS
übernahmen.
Fichter und Lönnendonker (F&L) dokumentieren den Durchbruch und den Sieg des revolutionären Flügels und
nicht zuletzt Dutschke selbst näherte sich in dieser Phase einem undogmatischen Marxismus an und
distanzierte sich von dem Teil der ehemaligen "Subversiven Aktion", die 1967 dann die Kommune I in
Berlin bildeten. Sie zeigen aber auch, dass der Seminarmarxismus der frühen sechziger Jahre eine gewisse
Berechtigung hatte, als es nämlich galt, den aus der SPD ausgeschlossenen Verband zu konsolidieren. Durch
den Ausschluss aus der SPD war der bis dahin gültigen Perspektive einer Gesellschaftsveränderung vermittels
der SPD der Boden entzogen. Eine "Selbstverständnisdebatte" des nun plötzlich politisch

"heimatlos" gewordenen SDS kreiste um die Frage nach der Rolle der Intelligenz im Kapitalismus.
F&L zeigen auch, dass ohne die Theoriearbeit in der Phase des Seminarmarxismus die politische Kraft des SDS
in seiner revolutionären Phase nicht denkbar war.

Der Weg aus der Isolation

Obwohl politisch isoliert, verfiel der SDS nicht in politisches
Sektierertum, und nicht zuletzt wegen seiner politischen Offenheit und unbürokratischen
Organisationsstruktur konnten neue Ideen und neue Erfahrungen ab Mitte der 60er Jahre einen so
durchschlagenden und umwälzenden Erfolg haben.

Die Durchbrechung der Isolation gelang jedoch nicht auf dem
Weg der politischen Aufklärung, sondern durch die Aktion und damit verbundene Agitation und Propaganda, wozu
natürlich nicht nur der revolutionäre Wille und Tatkraft einer neuen Generation von Mitgliedern beitrugen,
sondern ebenso die sich verändernden politischen Rahmenbedingungen weltweit und in Deutschland selbst. Wo
Adenauers antikommunistischen Kreuzzüge noch Lähmung auf der Linken erzeugten, hinterließ Erhards
Inellektuellenschelte ("Pinscher!") Mitte der sechziger Jahre nur noch eine Spur von
unfreiwilliger Selbstsatire. Der faszinierende Sprung aus der Isolation zu einer politischen Massenbewegung
liest sich bei F&L so: "Nicht nur der Senat von Berlin, sondern auch der Berliner SDS starrte gebannt
auf die sich in geometrischer Reihe entwickelnden Teilnehmerzahlen der Demonstrationen."

F&L zerstören aber auch den Mythos "1968" , wonach die Studenten damals angeblich in ihrer großen
Mehrheit von vornherein so viel politischer gewesen wären als heute. So schreiben sie: "Der SDS stand
(nach dem 2. Juni 1967) vor dem Problem, dass es nicht "die" revolutionäre Studentenschaft gab und
dass eine Vereinheitlichung des Bewusstseins von heute auf morgen ein Ding der Unmöglichkeit war. Die
Ungleichzeitigkeit der Lernprozesse war Realität und musste vom Verband ausgehalten werden." Es waren –
auch dies ist Teil des Mythos 68 – jedoch keinesfalls nur politischen Aktionen gegen Krieg und
Unterdrückung, die aus der Isolation führten. Mindestens ebenso wichtig war die Hochschulpolitik des SDS im
engeren Sinn und Aktionen dazu. Dazu gehörten Streiks und Boykottmaßnahmen gegen Mensapreiserhöhungen,
Aktionen gegen alte Naziprofessoren und gegen Studienbeschränkungen aller Art.

Die vielleicht fruchtbarste Verbindung zwischen der Zeit des Seminarmarxismus und des Aktionismus war die
Hochschuldenkschrift des SDS aus dem Jahr 1961, eine wissenschaftliche Untersuchung über die Stellung der
Hochschulen im Kapitalismus, die auch heute noch lesenswert ist. In der Tradition dieser Analyse
kapitalistischer Hochschulpolitik leisteten SDS-Sprecher wie der Berliner Wolfgang Lefévre 1966-67 eine
konkrete Kritik der damals allenthalben geplanten Hochschulreform und die Kritik dieser vom SDS so
kritisierten "technokratischen Hochschulreform" als Scheinreform im Interesse des Kapitals war
weit über den SDS hinaus in das Bewusstsein studentischer Aktivisten eingedrungen. Der SDS war der von den
Aktionisten geforderten Einheit von Theorie und Praxis hier wohl am nächsten gekommen. Eine Generation
kämpfender Studenten wurde so mit theoretischem Rüstzeug bewaffnet.

Die Verbindung zwischen Politik und Ökonomie

Gerade hier trifft auch zu, was der Rotbuch-Verlag 1977 auf die Rückseite des Buches drucken ließ: dass "die Geschichte des SDS den Charakter eines Lehrstücks für … sozialistische Politik an den Hochschulen"
gewinnt. Und die wichtigste Lehre dieses Stückes ist vielleicht, dass der SDS eine Trennung von

"ökonomischen" und politischen Studenteninteressen stets abgelehnt hat. Eine "nur-gewerkschaftliche"
Orientierung, wie sie später zeitweise vom DKP Studentenverband "MSB-Spartakus" verfolgt wurde, oder eine
"rein-politische", wie sie von an den Autonomen orientieren Asten und Basisgruppen in den achtziger Jahren
verfochten wurden, waren ihm gleichermaßen fremd. Er ging von einem Begriff der politischen Ökonomie der
Hochschulen aus, der es ihm ermöglichte, die Verbindung von technokratischer Hochschulreform
(Studienzeitbeschränkungen usw.) und politischen Themen (Vietnamkrieg, Notstandsgesetze) konkret
herzustellen.

Was die Neuauflage des Buches angeht, so halte ich sie trotz einiger interessanter Verbesserungen und neuem
Informationsmaterial insgesamt für eine Verschlimmbesserung. F&L liefern im Kapitel l der 2. Auflage
interessantes Zahlenmaterial über die Wohnungssituation von Studenten nach dem Krieg, über frühere
Nazimitgliedschaft der ersten Nachkriegsstudenten-Generation, die Nachkriegsgeschichte der verfassten
Studentenschaft, die besondere Rolle der Berliner Studentenschaft. Über den Ausschluss des SDS konnten sie
sich bei der 2. Auflage auf die internen Sitzungsprotokolle des SPD-Parteivorstands stützen und haben daraus
weitschweifig zitiert. Sie haben dabei so uninteressante Details herausgefunden wie, dass das eine oder
andere Vorstandsmitglied Bauchschmerzen über den Ausschluss bekam, dass sie aber unter dem Druck der
Parteiführung Herbert Wehners (und Helmut Schmidts) bei der nächsten Vorstandssitzung umfielen.

Wirklich Neues ist beim Studium der SPD-Protokolle nicht herausgekommen. Sie dokumentieren vor allem eines:
dass Herbert Wehner auch in den Sitzungen des erweiterten Vorstandes seine Karten nicht offen auf den Tisch
legte. Offiziell wurde der Ausschluss des SDS stets mit der angeblichen kommunistischen Unterwanderung des
SDS begründet. Den wahren Grund hat der "Sozialdemokratische Pressedienst" am 9.11.61 dargelegt. CDU und FDP
hätten im vorangegangenen Bundestagswahlkampf "mit Hinweis auf die ausbleibende Unvereinbarkeitserklärung
von SPD und SDS erklärt, das Godesberger Programm sei nur Taktik… Wenn die SPD jetzt (d.h., nach der
Bundestagswahl 1961) … ihre Entscheidung getroffen hat, dann betont sie damit sehr nachdrücklich, dass es
ihr ernst ist mit dem Godesberger Programm und seinen politischen Konsequenzen." (Nachzulesen leider nur in
der l. Auflage.)

Zu den "Konsequenzen" gehörte, dass Wehner schon 1962 mit dem "gaullistischen" Flügel im Regierungslager
(Strauß, Guttenberg, Gerstenmeier) Kontakt aufnahm und mit diesen über die Wahl des nächsten
Bundespräsidenten und eine mögliche Regierungskoalition Geheimverhandlungen führte. Wehners eiserner Wille
war es, durch konsequente Anbiederung und Anpassung der SPD an die Konservativen den Odem der ewigen
Opposition abzuschütteln. Der Ausschluss des SDS war in der Tat, wie F&L noch in der l. Auflage mutmaßten,

"nur ein Bauernopfer der Bündnispolitik Herbert Wehners."

Die Wurzeln der Spaltung

Nicht der Linksruck des SDS, sondern der Rechtsruck der SPD erklären den Bruch von 1961. Der SDS war
keineswegs stalinistisch unterwandert oder moskauorientiert, Die damals führende "Mittelgruppe" um Jürgen
Seifer oder Michael Mauke standen eher in der Tradition der USPD als der KPD, d.h., sie schwankten zwischen
Reform und Revolution. Solche politische Positionen waren in der SPD vorher und später wohlgelitten. z.B.
nach 1969, als sich die SPD Führung unter Willy Brandt es zum Ziel setzte, die SPD nach links zu öffnen, um
eine ausgebrochene, revolutionär gestimmte Jugend wieder an die SPD und den bürgerlichen Staat
heranzuführen.

Eine Verschlimmbesserung ist die 2. Auflage vor allem deshalb, weil in ihr wichtige Passagen über die
Auseinandersetzung zum Godesberger Parteiprogramm 1959 fehlen, die zeigen, dass der damalige SDS wichtige
Positionen des Sozialismus und Marxismus gegen die damaligen "Modernisierer" verteidigte. Stattdessen wecken
F&L durch Zitieren eines Beitrags von Thomas von der Vring aus der SDS-Zeitschrift "neue kritik" (Juli
1961), in dem dieser Bernstein gegen Kautsky verteidigte, dass der SDS eigentlich auch für eine
Modernisierung und "Entrümpelung der SPD von pseudo-revolutionärem Vokabular", für eine Erlösung der SPD

"aus ihrer vulgärmarxistischen Selbstverkrampfung" zu gewinnen gewesen wäre, wenn sie nicht mit
"Theorieverboten" gegen undogmatische Marxisten verbunden gewesen wäre. Man der gleichen Logik könnte man
auch sagen: Das Opfer wäre auch für seine Beraubung eingetreten, wenn der Täter bloß keine Gewalt angewandt
hätte! Für den SDS stellte sich die Debatte um das Godesberger Programm ganz anders: was F&L heute

"Entrümpelung" nennen, erschien ihnen als Bruch mit den Resten von sozialistischen Bestrebungen in der
SPD.

1999 steht die SPD-Regierung unter Gerhard Schröder vor einer heranschleichenden Krise des Weltkapitalismus,
die damaligen marxistischen Kritiker am Godesberger Programm allemal Recht gibt. Godesberg bleibt auch aus
heutiger Sicht ein Desaster für die deutsche Arbeiterbewegung. Das dort beschlossene Programm hat sie nicht
nur "einem naiven Glauben an die Moderne angesichts der ökologischen Krise und der wachsenden atomaren
Gefahr" anheim fallen lassen, wie F&L in der 2. Auflage schreiben. Das Godesberger Programm hat durch sein
uneingeschränktes Loblied auf Wettbewerb und Privateigentum eine zentrale Erfahrung der Arbeiterbewegung
ausgelöscht, nämlich dass der Kapitalismus kraft ihm innewohnender Gesetzmäßigkeit zu verheerenden
Wirtschaftskrisen, Faschismus und Krieg führen muss, wenn dies nicht durch die Arbeiterbewegung verhindert
wird.

Die politische Zuspitzung zwischen SDS und SPD-Führung Ende der 50er Jahre wird in der 2. Auflage nur noch
aus Uninformiertheit und Borniertheit der damaligen SPD-Führung, aus generationsbedingten unterschiedlichen
Erfahrungen (dabei gab es durchaus auch ältere SPD-Mitglieder, die sich mit dem SDS solidarisierten!)
abgeleitet. Der Bruch bleibt in seinem Wesen unbegreiflich, überflüssig auch vom Standpunkt der damaligen
SPD-Führung, so als wollten die Autoren auch heute noch die SPD davon überzeugen, dass der damalige
Ausschluss ein vermeidbarer Fehler gewesen sei, ohne den es heute DIE GRÜNEN nicht gebe. Merkwürdig nur,
dass solche "Fehler" (Ausschluss der USPD 1916, Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts durch Noskes
Soldateska 1919, Ausschluss linksradikaler SAJ-Führer 1932, Absetzung und Rausschmiss eines
Juso-Bundesvorsitzenden 1977) die Wegstrecke der SPD seit 1914 säumen.

Wie weit F&Ls "Distanz" nicht nur zeitlich, sondern politisch zu den eigenen Erfahrungen und Standpunkten
vor 30 Jahren gewachsen ist, zeigt sich, wenn in der 2. Auflage von der "ökoloigsch-lebensreformerischen
68er Kultur der GRÜNEN" die Rede ist. Diese entstand jedoch nicht 1968 sondern zehn Jahre später. Nicht aus
den Siegen der Studentenbewegung von 1968, sondern aus den Niederlagen der Antiatombewegung 1977-78.

Wenn auf einem SDS-Kongress 1968 ein Abgesandter der GRÜNEN hätte auftreten können und für eine politische
Strategie der Weltverbesserung mittels Stimmzettel geworben hätte, er oder sie wäre höhnisch verlacht worden
und man hätte ihm oder ihr empfohlen, doch mal bei der SPD anzuklopfen. Der Glaube an die Kraft radikaler
außerparlamentarischer Aktionen war im SDS 1968 ungebrochen. Die bisherigen Erfahrungen eines
Umweltministers Trittin, als Minister von Rot-Grün die Atomkraftwerke abzuschalten, zeigen, wie Recht sie
hatten.

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