Perspektiven für die Emanzipation der „Dritten Welt“

Viele Länder in der Dritten Welt werden von westlichen Mächten in politischer und militärischer Unterdrückung gehalten. Sozialisten befürworten den Kampf um nationale Befreiung. Auch viele andere Menschen, vor allem Jugendliche, identifizieren sich mit dem Kampf unterdrückter Völker. Viele nationale Befreiungsbewegungen scheinen aber in einer Sackgasse festzusitzen. Viele ihrer Führer haben sich heute von ihren früheren Zielen verabschiedet. Wie kann in Zeiten der Globalisierung der Kampf um nationale Befreiung erfolgreich geführt werden?


Buchrezension: "Tony Cliff: Die umgelenkte Permanente Revolution"

Bis 1989 herrschte in Südafrika strenge Rassentrennung, die Apartheid. Schwarze hatten kein echtes Wahlrecht, obwohl sie die Mehrheit der Bevölkerung waren. Die weiße Bevölkerung entschied alles. 1990 wurde durch eine Massenbewegung das Apartheidssystem gestürzt. Der African National Congress (ANC), die Bewegung des schwarzen Bürgerrechtlers Nelson Mandela, stellt seit dem die Regierung. Mandela wurde weltweit als Held und Hoffnungsträger gefeiert. Heute hat jeder Mensch Wahlrecht, die Regierung besteht mehrheitlich aus Schwarzen. Es gibt immer mehr schwarze Unternehmer. Für die Mehrheit der Schwarzen Bevölkerung jedoch hat sich wenig geändert. Sie leiden zwar nicht mehr unter der Rassentrennung, sie sind aber immer stärker von Privatisierungen, Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Heute gibt es in Südafrika einen „schwarzen“ Kapitalismus – aber es ist immer noch Kapitalismus.
Zwischen 1948 und 1967 vertrieb Israel die Palästinenser aus ihrem Heimatland und gründete auf dem Gebiet Palästinas einen jüdischen Staat. Die Palestinian Liberation Organisatin (PLO) kämpfte Jahrzehntelang bewaffnet um einen nichtreligiösen Staat in den Grenzen des historischen Palästina, wohin die durch Israel vertriebenen Palästinenser wieder sicher zurückkehren könnten. In den 80er Jahren haben viele Jugendliche das Palästinenser-Tuch als Zeichen der Solidarität getragen. Heute Regiert der PLO-Führer Arafat ein winziges zerstückeltes Territorium. Die palästinensische Polizei muß sich an den Rahmen halten, den das israelische Militär und die israelischen Siedler vorgeben. Die Palästinenser leben in bitterer Armut und die PLO-Führer beschäftigen sich statt mit der Erreichung ihrer ursprünglichen Ziele mit der Niederhaltung derjenigen Palästinenser, die die Bewegung fortsetzen wollen.
Die Kurden werden von vier Nationen, Türkei, Iran, Irak und Jordanien, unterdrückt. Sie dürfen nicht einmal ihre eigene Sprache sprechen. Die Türkische Armee hat 4.000 Dörfer dem Erdboden gleich gemacht und Tausende ermordet. Obwohl der Kampf um Befreiung so berechtigt und bitter nötig ist, haben die PKK-Führer den Kampf um Befreiung aufgegeben und ihre Anhänger dazu aufgerufen, die Waffen niederzulegen und mit dem türkischen Staat zusammenzuarbeiten. Die Kurden bleiben weiter rechtlos.
Die Führer der Guerrilla-Bewegung in El Salvador und anderen Lateinamerikanischen Ländern haben sich an den Verhandlungstisch mit den Diktatoren gesetzt.
Die wichtigsten geschichtlichen Vorbilder für die nationalen Befreiungsbewegungen sind die chinesische Revolution von 1949 und die kubanische von 1958.
China war über ein halbes Jahrhundert Halbkolonie, beherrscht von wechselnden imperialistischen Mächten. Die chinesische Revolution von 1949 warf die japanischen Besatzer hinaus. Die feudalen Verhältnisse auf dem Land wurden ausgerottet. Aber was trat an die Stelle der alten Unterdrückung? Keine gerechte Gesellschaft, sondern neue Unterdrückung: Die chinesischen Arbeiter und Bauern blieben geknechtet. Das grausame Massaker von 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens hat endgültig die Hoffnung ad absurdum geführt, das maoistische China habe die Arbeiter der Befreiung näher gebracht. Später hat die sogenannte Kommunistische Partei die freie Marktwirtschaft wieder eingeführt, auf Kosten der Arbeiter.
Kuba war vor 1959 die Zuckerplantage der USA. Die Landarbeiter mussten die meiste Zeit des Jahres Baumrinde essen oder verhungern und fanden nur während der Ernte Arbeit. Seit Fidel Castro an der Macht ist, wurden zwar die amerikanischen Plantagenbesitzer hinausgeworfen und russische Kredite haben das Leben der kubanischen Arbeiter erleichtern können. Das Land wurde aber in neue Abhängigkeit, diesmal von Russland gebracht. Außerdem gibt es auf Kuba keine Demokratie. Heute ist Kuba isoliert und steht vor dem wirtschaftlichen und politischen Ruin.
Es gibt unzählige andere Beispiele, und alle haben sie dieselbe traurige Geschichte: Selbst wenn die Fremdherrschaft beendet wurde (häufig, wie in Kurdistan, wurde nicht einmal das erreicht), veränderte sich doch nicht das Schicksal der Mehrheit der Bevölkerung. Die Knechtung ging weiter, häufig (wie in China und Kuba) noch mit dem Wort Sozialismus geschmückt. Die Befreier wurden im Falle des Sieges Unterdrücker (wie Mao), im Falle der Niederlage Kapitulanten (wie Öcalan). Oder beides (wie Arafat).
Wie ist diese traurige Situation zu erklären? Welches Interesse hatten Mao, Castro, Mandela, Arafat, Öcalan und viele andere, sich so zu verhalten, wie sie sich verhalten haben und immer noch verhalten?
Das Programm der Führer der nationalen Befreiungsbewegungen bestand darin, das Vaterland von der Unterdrückung der Imperialisten zu befreien. Die Forderung nach sozialer Gleichheit oder gar Sozialismus spielte nur in Sonntagsreden eine Rolle. Tatsächlich legte Castro erst 1961 fest, dass die Revolution von 1959 eine sozialistische gewesen sei. Hinter diesem Verhalten stand das Interesse, einen eigenständigen, unabhängigen Kapitalismus aufzubauen, um mit dem Westen wirtschaftlich gleichzuziehen. Castro sah als den wichtigsten Punkt seines Programms „Industrialisierung im schnellstmöglichen Tempo“ an. Das Ziel war schlicht und einfach: Akkumulation, die Ansammlung von Reichtum. Deswegen bestand das Schicksal der Arbeiter und Bauern in China und Kuba hauptsächlich darin, für immer ehrgeizigere Planziele ausgepreßt zu werden. Deswegen fällt es den ehemaligen Guerrilla-Führern auch nicht schwer, sich mit den ausländischen Kapitalisten an einen Tisch zu setzen, wenn das dem Aufbau der heimischen Wirtschaft dienlich sein könnte.
Dieses Interesse kam nicht von ungefähr. Die Führer waren kleinbürgerliche Intellektuelle, mit der eigenen nationalen Kultur aber vor allem der Wissenschaft und Technik des zwanzigsten Jahrhunderts vertraut, und mußten die Rückständigkeit der eigenen Nation um so krasser erleben. Dieses Empfinden wurde noch verstärkt durch die Intellektuellen-Arbeitslosigkeit. Sie nahmen deshalb den Kampf um die Macht auf, um ihr Land aus der wirtschaftlichen Rückständigkeit zu führen. Dieser Kampf wurde sehr stellvertreterisch geführt, da es darum ging, als Elite zur Macht zu kommen. Deshalb bauten sie Guerrilla-Bewegungen auf dem Lande auf. Castros Armee war eine solche von Intellektuellen geführte Bauernarmee. Sie zählte beim Sturz Batistas ganze 803 Soldaten! Nicht alle nationalen Befreiungsbewegungen waren so klein, manchmal waren es wirkliche Massenbewegungen. Aber es war immer die Bewegung einer Minderheit, im Interesse einer noch kleineren Minderheit, der intellektuellen Führer. Die Führer der Kommunistischen Partei Chinas taten sogar alles, um Aufstände in den Städten zu verhindern. Bevor Maos Armee in Peking einmarschierte, rief sie das Volk auf, „Ordnung zu bewahren und der jeweiligen Beschäftigung weiter nachzugehen.“
Die Nationalen Befreiungsbewegungen waren keine Arbeiterrevolutionen. Diese Tatsache ist sehr wichtig, weil nur die Arbeiterklasse zugleich das Interesse und die Möglichkeit hat, eine gerechte Gesellschaft aufzubauen – sie ist ausgebeutet und unterdrückt und ist gleichzeitig in den Städten konzentriert, um dort den größten Teil des gesellschaftlichen Reichtums zu produzieren. Wenn sie kollektiv handelt, kann sie die Herrschenden stürzen und die Produktionsmittel in Besitz nehmen, um den Reichtum für die Mehrheit zu verwenden. Genauso wichtig ist die Tatsache, dass sie dieses Potential nur umsetzen kann, wenn sie sich unabhängig auf Basis ihrer Klasseninteressen organisiert.
Der marxistische Ansatz zur Lösung der Probleme in den unterentwickelten Ländern ist, den Kampf um bürgerliche Ziele, also notwendige Ziele wie nationale Unabhängigkeit, Demokratie und Ausrottung des feudalen Großgrundbesitzes auf dem Land, die aber im Rahmen des Kapitalismus bleiben, nicht zu trennen vom Kampf um den Sturz des Kapitalismus durch die Arbeiterklasse. Wir lehnen die Etappentheorie der Führer der nationalen Befreiungsbewegungen entschieden ab, die sich allein auf die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit beschränken und die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit auf später verschieben. Das Ergebnis war nämlich allzu oft, dass weder die Unabhängigkeit des Landes, noch die soziale Befreiung der Arbeiter letztendlich erreicht worden ist.
Den Ansatz der Verbindung von bürgerlichen und sozialistischen Zielen wurde zum ersten mal vom russischen Revolutionär Leo Trotzki systematisch ausgearbeitet, in Form der Theorie der Permanenten Revolution. Diese Theorie war eine Schlußfolgerung aus der Russischen Revolution von 1905. Damals ging es darum, den diktatorischen, halb feudalen Zarismus zu stürzen und demokratische Freiheiten zu erkämpfen. Die Chance dazu war da. Trotzki schreibt: „Der Russisch-Japanische Krieg hatte den Zarismus gelockert. Auf dem Hintergrunde der Massenbewegung jagte die liberale Bourgeoisie durch ihre Opposition der Monarchie Angst ein. Die Arbeiter organisierten sich unabhängig von der Bourgeoisie und im Gegensatz zu ihr in den Sowjets, die im Augenblick des höchsten Aufstieges der Revolution der Monarchie die Macht offen streitig machten. […] Die Liberalen prallten demonstrativ gerade in dem Augenblick vor der Revolution zurück, als sich herausstellte, dass es nicht genügte, den Zarismus zu lockern, dass man ihn außerdem noch umwerfen müsse.“ Das „erleichterte der Monarchie […] über Arbeiter und Bauern ein blutiges Gericht zu halten.“
Wie konnte die bürgerliche Revolution erfolgreich durchgeführt werden? Das Bürgertum sperrte sich gegen die Revolution. Die armen Bauern hatten ein Interesse am Sturz des Zarismus. Sie rissen örtliche Gutshäuser nieder und hingen den Gutsbesitzer auf, aber das allein konnte den zentralisierten zaristischen Staatsapparat nicht stürzen. Der Schlüssel für den Sieg über den Zarismus war die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse in den Ereignissen von 1905. Trotzki sah die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse als Weg, die Probleme der bürgerlichen Revolution mit Hilfe der sozialistischen zu lösen.
Das Hauptargument der Etappentheoretiker gegen die Theorie der Permanenten Revolution ist der Hinweis auf die Rückständigkeit der Länder der Dritten Welt. 150 Jahre Industrialisierung und Aufbau von Arbeitermassenorganisationen lägen hinter der Arbeiterbewegung der Industrienationen, trotzdem habe sie die Macht noch nicht erobert. Die Industrialisierung der Dritten Welt dagegen habe erst vor wenigen Jahren begonnen, die Arbeiterklasse sei eine Minderheit, es gäbe kaum Gewerkschaften – wie könne von einer Arbeiterrevolution die Rede sein, wenn sich noch nicht einmal der Kapitalismus voll entfaltet habe? Die Arbeiterklasse müsse durch eine lange Periode des Kapitalismus gehen, bevor sie reif genug werde, die Macht zu übernehmen. Daraus folgt in der Praxis, den politischen Kampf um die Befreiung der Dritten Welt in zwei Etappen zu teilen: Zunächst solle eine bürgerliche Demokratie im Rahmen des Kapitalismus durchgesetzt werden, und eine ganze Epoche später die sozialistische Revolution in Angriff genommen werden.
Dieses Argument wurde schon Trotzki von zunächst fast allen Sozialisten entgegengehalten. Die rechten Sozialdemokraten, die Menschewiki, behaupteten, die bevorstehende Revolution müsse eine rein bürgerliche sein, deshalb müsse das Bürgertum unterstützt werden. Trotzkis zentrales Argument gegen die Etappentheorie war das „Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung“, die Grundlage der Theorie der Permanenten Revolution. Der Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, daß er zwar extreme Ungleichheiten im Weltmaßstab produziert, also extrem fortgeschrittene und extrem rückständige Länder und Regionen. Aber das ist nicht alles. In den rückständigen Ländern wurden Elemente des Mittelalters mit dem letzten Schrei des Fortschritts kombiniert. „Gezwungen, den fortgeschrittenen Ländern nachzueifern, hält das rückständige Land die Reihenfolge nicht ein.“ Die „historische Verspätung […] erlaubt, oder richtiger zwingt, sich das Fertige vor der bestimmten Zeit anzueignen, eine Reihe Zwischenetappen zu überspringen. Die Wilden vertauschen den Bogen gleich mit dem Gewehr ohne erst den Weg durchzumachen, der in der Vergangenheit zwischen diesen Waffengattungen lag.“ Für das halb feudale Rußland bedeutete das, nicht vom primitiven Handwerk zum Zunfthandwerk, vom Zunfthandwerk zur Manufaktur, dann zur Dampfmaschinerie und schließlich zur Großindustrie überzugehen, sondern gleich die neuesten Errungenschaften der Großindustrie als Inseln des Fortschritts in das Meer der Rückständigkeit hinein zu setzen. „Während die bäuerliche Landwirtschaft in ihrer Hauptmasse bis zur Revolution fast auf dem Niveau des siebzehnten Jahrhunderts verblieben war, stand Rußlands Industrie in bezug auf Technik und kapitalistischen Struktur auf der Stufe der fortgeschrittenen Länder und eilte diesen in mancher Beziehung sogar voraus.“ So stand die größte Fabrik nicht in Manchester, der Wiege des Kapitalismus in Großbritannien, sondern – in Petrograd: In der Putilowfabrik waren 40.000 Arbeiter beschäftigt, und das in einem Land, in dem 1914 80% der werktätigen Bevölkerung auf dem Land lebten.
Das hatte fundamentale Auswirkungen auf das gesellschaftliche Gewicht der Arbeiterklasse in Rußland. Sie war zwar mit 3 Millionen Industriearbeitern zahlenmäßig winzig im Vergleich zu der Gesamtbevölkerung von 140 Millionen, aber dafür in wenigen Zentren zusammengeballt, gut organisiert und kämpferisch.
Das französische Bürgertum hatte 1789 bis 95 den Feudalismus zerstört. Die russischen Kapitalisten dagegen hatten größere Furcht vor dem revolutionären Potenzial der Arbeiterklasse, als vor den feudalen Grundbesitzern, mit denen sie ein gemeinsames Interesse hatten: die Verteidigung ihres Besitzes. Sie waren deswegen nicht bereit, die Führung der bürgerlichen Revolution zu übernehmen. Dadurch dass die Bauernschaft aufgrund ihrer räumlichen, wirtschaftlichen und sozialen Zersplitterung nicht eigenständig den Zarismus stürzen konnte, fiel die führende revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse zu, auch wenn sie zahlenmäßig schwach entwickelt war.
Um ans Ziel zu gelangen, musste die Revolution von rein bürgerlichen Zielen ohne Unterbrechung, das heißt permanent, zu sozialistischen Zielen übergehen. Trotzki trifft es genau, wenn er schreibt: „Damit der Bauer den Boden säubern und von Zäunen befreien konnte, mußte an die Spitze des Staates der Arbeiter treten.“
Trotzki war aber nicht der Meinung, dass die sozialistische Revolution isoliert in einem Lande zu Ende geführt werden konnte. Gerade rückständige Länder brauchen massive Unterstützung aus entwickelten Staaten, um die Bedürfnisse der Mehrheit der Menschen zu befriedigen, der Zweck einer sozialistischen Gesellschaft. Deshalb muss sich die Revolution international ausbreiten.
Die Errichtung eines Arbeiterstaates in Rußland im Oktober 1917 und die darauf folgenden Revolutionen in Europa gaben ihm vollständig recht. Die Ereignisse in China 1925 bis 27 führten Trotzki dazu, die Theorie der Permanenten Revolution allgemein auf die Dritte Welt anzuwenden. Im Verlauf der antikolonialen Revolution begann die noch junge chinesische Arbeiterklasse immer stärker im eigenen Interesse einzugreifen. In Schanghai, Kanton, Hongkong und anderen Großstädten explodierten Massenstreiks. Das nationale Bürgertum, und seine Partei, die Koumintang, zog es vor, die Arbeiter niederzuschießen, auch wenn das bedeutete, daß die imperialistische Fremdherrschaft nicht gebrochen wurde. Damit scheiterte nicht nur die sozialistische, sondern auch die nationale bürgerliche Revolution. Dies war möglich, weil die Führung der Kommunistischen Internationale die chinesischen Arbeiter an die Koumintang-Kapitalisten verkaufte, um dadurch mit der Koumintang einen Handelspartner zu behalten. Die Ursache dafür war, dass in Rußland die Arbeiterklasse ihre Macht an die stalinistische Bürokratie verloren hatte. Die wollte ihre Machtstellung international festigen, die auf sie hörenden Arbeiter waren dabei nur Faustpfand. Sie setzte die alte menschewistische Etappentheorie wieder auf den Thron, nach der die Arbeiterklasse noch nicht reif für die Macht sei. Auch während der spanischen Revolution von 1936 bis 39 verfocht Stalin wieder die Etappentheorie: Die spanischen Arbeiter sollten sich mit einer bürgerlichen Demokratie zufriedenstellen, um später für den Sozialismus zu kämpfen. Das Motiv Stalins war, dem Westen gegenüber respektabel zu erscheinen, um günstige Handelsverträge mit ihnen abschließen zu können. Das Ergebnis dieser Strategie war der Sieg des Franco-Faschismus und die totale Zerschlagung der Arbeiterbewegung. So erwies sich der Stalinismus in China 1927 und in Spanien 1936 als Totengräber der Revolution und machte den Übergang von einer bürgerlichen zu einer sozialistischen Revolution, die Vision der Permanenten Revolution, zunichte.
Nach dem Krieg fanden in der Dritten Welt, namentlich in China und Kuba, Revolutionen unter der Fahne des Sozialismus statt. Zahlreiche Staaten der Dritten Welt nannten sich phasenweise sozialistisch. Auf der anderen Seite wissen wir, daß auch dort die Arbeiter unterdrückt wurden. Es könnte scheinen, als sei die sozialistische Revolution alles andere als ein Weg zur Befreiung der Dritten Welt sondern eine Fortsetzung der Tyrannei unter roter Fahne. Wir haben aber oben schon gesehen, daß die nationalen Befreiungsbewegungen keine Arbeiterrevolutionen waren, sondern Machtübernahmen von kleinbürgerlichen Intellektuellen, die eine Guerrilla-Armee anführten, in einigen Fällen an die Macht kamen, und versuchten, ein Wirtschaftsentwicklungsprogramm zu verwirklichen. Wie konnte es dazu kommen, daß entgegen Trotzkis Annahme keine Arbeiterrevolution stattfanden? Mit was für Revolutionen haben wir bei den nationalen Befreiungsbewegungen zu tun?
Die Arbeiterklasse der Dritten Welt blieb passiv, weil sie weiterhin gefesselt wurde durch die Etappentheorie. Diese Theorie wurde in die Arbeiterklasse hineingetragen von den Kommunistischen Parteien, also durch den Stalinismus. Er wirkte weiter als Bremsklotz der Arbeiterbewegung.
Der Stalinismus spielte aber noch eine zweite wichtige Rolle: Die gigantischen industriellen Leistungen ließen den russischen Staatskapitalismus als idealen Weg erscheinen, die westlichen Länder wirtschaftlich einzuholen – die Intelligenz scharte sich deswegen um das Banner des Kommunismus oder lehnte sich zumindestens an das staatskapitalistische Entwicklungsmodell an.
Wir haben es also nicht mit klassischen bürgerlichen Revolutionen zu tun, denn das Bürgertum blieb wie zu Trotzkis Zeiten konservativ. Andererseits haben wir es auch nicht mit Arbeiterrevolutionen zu tun. Auch die Bauernschaft war nicht die Führerin der Revolution, sondern die kleinbürgerliche Intelligenz. Der Stalinismus hat so die Permanente Revolution Jahrzehntelang verhindert und zugleich den Weg geebnet für eine kleinbürgerliche Machtübernahme.
Je stärker jedoch die internationalen Verflechtungen des Kapitalismus weltweit zunahmen, desto mehr erwies sich der abgeschottete bürokratische Staatskapitalismus vieler Länder als Sackgasse. Das Jahr 1989 war dabei der entscheidende Wendepunkt. Die wichtigste Auswirkung des Zusammenbruchs des Ostblocks war aber, dass dem Stalinismus, dem stärksten Bremsklotz in der Arbeiterbewegung der Dritten Welt, der entscheidende Schlag versetzt wurde. Dadurch ist der Weg frei geworden für eine selbständige Rolle der Arbeiterklasse in der Dritten Welt.
Das Elend der Arbeiter in Südafrika, die Isolation Kubas, das Elend der Palästinenser in den autonomen Gebieten und die Kapitulation der PKK dürfen nicht als zwangsläufig hingenommen werden. In Südafrika und Brasilien streikten 1999 Zehntausende gegen die neoliberalen Angriffe der Regierung. Das ist die Kraft, die den Imperialismus in die Knie zwingen kann. 70% der Bevölkerung Jordaniens sind Palästinenser. In ganz Arabien sind Palästinenser, genauso wie die Kurden in der Türkei, ein integraler Bestandteil der Arbeiterklasse. Der Weg zur Befreiung der Palästinenser führt über Amman und Kairo. Der Weg zur Befreiung der Kurden über Istanbul und Izmir.
Dieses gewaltige Potential wird weder von Castro, noch von Arafat oder Öcalan genutzt werden. Dieses Potential ungenutzt zu lassen, bedeutet aber, nicht nur den Kampf um soziale Befreiung der Arbeiterklasse, sondern auch den um nationale Unabhängigkeit zu verlieren. In China konnte 1949 die koloniale Fremdherrschaft und der Feudalismus besiegt werden. In Kuba konnte 1959 die Abhängigkeit von den USA beendet werden, aber nur um den Preis der Abhängigkeit von Russland. In Südafrika bilden Weiße und Schwarze gemeinsam die herrschende Klasse. Die meisten weißen Unterdrücker wurden nicht vor Gericht gestellt. Die PLO hat Israel nur ein zerstückeltes verelendetes Ödland abtrotzen können, in dem Arafat heute die Drecksarbeit für Israel erledigt: die Entwaffnung der PLO. Die Kurden haben nichts von alledem erreichen können. Je aktueller die Beispiele, je mehr das Zusammenwachsen des Kapitalismus weltweit voranschreitet, desto geringer wird der Spielraum für eine nationale Befreiung an der Arbeiterklasse vorbei. Gerade weil wir als Sozialisten die konsequentesten Kämpfer für nationale Befreiung sind, heben wir die Bedeutung des unabhängigen Kampfes der Arbeiterklasse um den Sozialismus hervor. Das heißt konkret, eine unabhängige Arbeiterpartei aufzubauen, die nicht nur der nationalen Unterdrückung, sondern dem Kapitalismus den unversöhnlichen Kampf ansagt. Denselben Kampf müssen wir hier und jetzt in Deutschland aufnehmen.

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