Montagsdemos: Wir kommen wieder

Werner Halbauer zieht eine Zwischenbilanz der Proteste gegen Hartz IV.Seit über zwei Monaten demonstrieren Zehntausende gegen Hartz IV. Auf dem Höhepunkt der Montagsdemonstrationen waren über 200.000 Menschen auf der Straße.

Diese Proteste haben einige Korrekturen des Gesetzes erreicht: Die Kinderfreibeträge wurden erhöht und gegen den Widerstand von Wirtschaftsminister Clement wurde die Auszahlung des Arbeitslosengeldes II schon ab Januar durchgesetzt. Dadurch bekommen Arbeitslose insgesamt 1 Milliarde Euro mehr.

Zurzeit lässt die Beteiligung an den Demonstrationen in vielen Orten nach. Die Ausweitung der Proteste auf Westdeutschland ist bisher nicht in ausreichenden Maß gelungen. Das wäre notwendig gewesen, um die Rücknahme von Hartz IV zu erreichen.

Über 17 Prozent der Ostdeutschen sind arbeitslos. Es gibt keine Aussicht auf Besserung. Solange Arbeitslosenhilfe, ABM-Maßnahmen und Sozialhilfe eine geringe Absicherung boten, konnten sich manche noch über Wasser halten. Mit Hartz IV bedroht die Regierung Millionen mit bitterer Armut. Viele werden auf der Suche nach Arbeit ihre Heimat verlassen müssen.

Die Demonstrationen sind entstanden, indem einzelne Aktivisten Plakate aufgehängt und Flugblätter verteilt haben. Weil vielen Menschen durch Hartz IV Armut droht, konnten innerhalb von wenigen Tagen Tausende zu den Protesten mobilisiert werden. Die Teilnehmer waren vor allem Menschen, deren Hoffnung auf ein besseres Leben 15 Jahre nach der Wende enttäuscht wurde.

Der Slogan „Weg mit Hartz IV, das Volk sind wir“, knüpfte an die Tradition der Montagsdemonstrationen 1989 an, mit denen die Ostdeutschen die SED-Diktatur der DDR gestürzt haben. Das globalisierungskritische Netzwerk attac, viele Gewerkschaftsgliederungen in Ostdeutschland, einschließlich Berlin, die PDS und zahlreiche Arbeitsloseninitiativen schlossen sich schnell den Demonstrationen an und versuchten, sie auszuweiten. Bild und andere Massenmedien lieferten zunächst Argumente gegen Hartz IV und Interviews mit Gegnern der Reform.
In SPD und CDU begann ein Streit um Nachbesserungen, weil sie massive Verluste bei den Wahlen befürchteten. Der sächsische Ministerpräsident Milbradt dachte gar öffentlich darüber nach, sich an den Demonstrationen gegen Hartz IV zu beteiligen. Auch im Westen organisierten Aktivisten kleine Protestdemonstrationen und Gewerkschafter diskutierten darüber, ob sie die Proteste unterstützen sollten.

Am 13. September hatten die Montagsdemonstrationen mit 231 Veranstaltungen ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Viele Gewerkschaftsgliederungen in den Städten hatten sich der Bewegung angeschlossen, wie zum Beispiel die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in Berlin. Immer mehr Mitglieder forderten von ihren Führungen, zu mobilisieren.

Jetzt begannen SPD und Unternehmerverbände eine Kampagne gegen die Bewegung. Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie Rogowski lobte mehrfach Kanzler Schröders Politik. Gleichzeitig lehnte Rogowski Überlegungen einiger CDU-Politiker ab, Schröder über die Proteste zu stürzen. Würde der Kanzler tatsächlich auf Druck einer Massenbewegung zurücktreten, hätte es die folgende CDU-Regierung noch schwerer, den Sozialabbau weiterzuführen.

Die Wahlen im Saarland zeigten, dass die CDU, anders als beim Unmut über die Praxisgebühr, nicht von den Protesten gegen Hartz IV profitierte, sondern Stimmen verlor. Danach beendeten die Medien ihre Unterstützung für die Proteste und gaben den Demonstranten zu Unrecht die Schuld für die Erfolge der rechtsradikalen NPD und DVU.

Die Regierung startete eine millionenschwere Werbekampagne für Hartz IV, unterstützt von Journalisten und Politikern aller großen Parteien. Die Allparteienkoalition für Sozialabbau war wieder hergestellt.

Zur gleichen Zeit traf Schröder den Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes Sommer und die Vorsitzenden der einzelnen Gewerkschaften. Danach erklärten sie gemeinsam, dass Hartz IV auch seine guten Seiten habe. Die Ausweitung der Proteste im Westen über örtliche Gewerkschaftsgliederungen hinaus, wurde dadurch erheblich erschwert.

Sommer hatte am 3. April auf der Demonstration gegen Sozialkahlschlag in Berlin vor Hunderttausenden den Kampf gegen Hartz IV angekündigt. Jetzt, wo Aktivisten diesen Kampf ohne Unterstützung der Gewerkschaftsspitzen begonnen hatten, rührte Sommer keinen Finger für die Bewegung.
Die Gewerkschaftsspitzen gehen nicht konsequent gegen den Sozialabbau der rot-grünen Regierung vor, weil sie es nicht wagen, Schröder fallen zu lassen. Viele Gewerkschafter halten die Sozialdemokraten für das kleinere Übel. IG-Metall-Chef Peters sagte kürzlich dem Spiegel „wir wollen eine andere Politik – wir wollen keine andere Regierung“.

Sowohl Schröder als auch Clement haben den Rücktritt angekündigt, wenn Hartz IV kippt. Entweder Hartz IV oder diese Regierung – so war die Frage gestellt. Wenn die Gewerkschaft um jeden Preis an dieser Regierung festhält, dann ist sie beliebig durch die Rücktrittsdrohung erpressbar.

Wenn eine CDU-Regierung an die Macht kommt, dann als Konsequenz aus der massenhaften Enttäuschung mit Schröders Politik. Wenn diese CDU-Regierung ein weitergehendes Programm des Sozialabbaus präsentieren kann, dann deshalb, weil die Schröder-Regierung mit der Agenda 2010 den Boden für die Schwächung der Gewerkschaften bereitet hat. Ob die Gewerkschaften die Kraft haben, sich gegen ein solches Pogramm zu wehren, wird nicht erst nach der Wahl entschieden, sondern jetzt, im Widerstand gegen die rot-grüne Regierung. Deshalb schädigt der Verzicht auf Widerstand mit dem Verweis auf das „kleinere Übel“ SPD die Gewerkschaften und die Bewegung insgesamt – zum Nutzen der CDU.

Das zweite Problem besteht darin, dass in den Gewerkschaften eine politische Antwort auf das Programm des Sozialabbaus fehlt. Ohne einen politischen Abwehrkampf, ohne Politisierung der betrieblichen und gewerkschaftlichen Arbeit, ohne gemeinsame politische Kampfmaßnahmen der Gewerkschaften bis hin zu politischen Streiks wird eine nach der anderen Bastion verloren gehen. Wenn die ver.di im nächsten Frühjahr in die Tarifauseinandersetzung geht, wird Otto Schily, wie jedes Jahr, sagen „die Kassen sind leer“. Ohne die politische Forderung nach einer Vermögensteuer, nach einer gesellschaftlichen Umverteilung von oben nach unten, wird die ver.di den Tarifkampf nicht bestehen können.

Die Großdemonstration in Berlin mit 100.000 Teilnehmern gegen Agenda 2010 am 1.11.2003, der Demonstrationen am 3.4.2004 mit über 500.000, die Montagsdemonstrationen in den letzten Wochen und die Demonstration mit über 50.000 am 2.10.2004 gegen Hartz IV haben gezeigt, dass es eine relevante Minderheit in der Gesellschaft gibt, die bereit ist, selbst die Initiative zu ergreifen und Proteste zu organisieren.

Diese Minderheit muss um politischen Einfluss in den Gewerkschaften und der Gesellschaft kämpfen. Es gilt all diejenigen zu erreichen, die verzweifelt sind und in Scharen den etablierten Parteien den Rücken kehren. Der Klassenkampf von oben wird sich weiter verschärfen. Es ist nicht nur eine Auseinandersetzung auf der Strasse, sondern auch ein alltäglicher Kampf um die Köpfe und gegen die Desinformation der Massenmedien. Deshalb braucht die Oppositionsbewegung nicht nur Vernetzung der Aktionen, sondern benötigt dringend auch eine politische Organisierung.

Der Zusammenschluss der faschistischen Parteien NPD und DVU für die kommenden Landtagswahlen und die Bundestagswahl 2006 unterstreicht deutlich die Dringlichkeit des Aufbaus der Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit, die sich als aktiver Teil der Protestbewegung verstehen muss.

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