Erklärung zum ESF-Prozess

1. Die französischen Organisatoren der außerordentlichen Europäischen Versammlung in Paris werden gebeten, Tagesordnung und Geschäftsordnung so zu gestalten, dass vor der allgemeinen Debatte zunächst alle anwesenden Länderdelegationen in zwei Gesprächsrunden einmal zum Stand des ESF-Prozesses und zum Zweiten zu den Perspektiven und notwendigen Veränderungen das Wort erhalten. Damit soll zu jedem der beiden Themen ein allgemeines Meinungsbild der europäischen Bewegung hergestellt und zugleich vermieden werden, dass besonders zahlreich vertretene Delegationen den Rest der Versammlung dominieren. Auch in der allgemeinen Debatte soll das jeweilige Präsidium neben dem gender balance auf die Ausgewogenheit der Redner und Rednerinnen aus den teilnehmenden Ländern achten. Um die Ausgrenzung bestimmter Personenkreise zu reduzieren, werden die Organisatoren ferner gebeten, Übersetzung nicht nur in den bisher üblichen Sprachen Englisch, Französisch und Italienisch anzubieten. Überhaupt sollten wir auf den künftigen Europäischen Versammlungen zu gewissen Grundregeln der Geschäftsordnung kommen. Das betrifft insbesondere die Punkte Rednerfolgen, Redezeiten, Übersetzungen.

2. Um die Diskussion während der Pariser Versammlung zu erleichtern, tragen wir schon jetzt unsere Gedanken zur Kritik am ESF-Prozess, ihren Perspektiven und notwendigen Veränderungen vor:

London war für viele tausend Menschen ein tolles politisches und menschliches Erlebnis. Mit viel Diskussions- und Streitlust machten sie von dem umfassenden Angebot politischer Themen Gebrauch. Der ESF-Prozess hat in London durch die aktive Einbeziehung der Gewerkschaften und vieler anderer Gruppen und Initiativen an politischer Breite und Bedeutung gewonnen. Die Chance, dass diese neue soziale Bewegung zu einem politischen Faktor in Europa wird, ist damit gestiegen.

Das ESF in London hat Probleme und Schwächen der Bewegung deutlich werden lassen, die schon früher angelegt waren: Mangelnde Transparenz, fehlende Kompromissbereitschaft, Beharren auf nationalen Prioritäten, Dominanz einzelner Gruppen oder ad hoc-Koalitionen. Mit der frühzeitigen Einrichtung einer Homepage und mit ausführlichen Protokollen der Vorbereitungssitzungen wurden zwar Schritte zu mehr Transparenz gemacht. Diese Ansätze müssen wir jedoch noch gemeinsam weiter ausbauen.

Das Hauptproblem scheint die Unfähigkeit oder die mangelnde Bereitschaft der äußersten Enden im politischen Spektrum der Bewegung zu sein, zu einem Konsens zu finden. In London waren – etwas vereinfacht – die Kontrahenten Autonome und Gewerkschaften. Die potentiellen Vermittler schlugen sich – grob gesagt – auf die Seiten der Kontrahenten: Socialist Workers Party, KP Britanniens, CND und Tobin Tax Initiative, manche NGOs zu den Gewerkschaften – Attac, lokale Sozialforen, andere NGOs und Anarchogruppen zu den Autonomen. Mangelnde Bereitschaft zur Konsenssuche ist jedoch auch schon früher und in anderen Zusammenhängen deutlich geworden. So waren die italienischen Basisgewerkschaften in Paris nur mühsam davon zu überzeugen, einen gemeinsamen europäischen Aktionstag mit den EGB-Gewerkschaften gegen den Sozialabbau am 3. April 2004 zu veranstalten. In der Praxis haben sie ihn ignoriert. Sie waren es auch im Verein mit ihren französischen Kollegen, die bei der Vorbereitung der Versammlung der Sozialen Bewegungen in London verhinderten, dass im Schlussappell zur Beteiligung an den antifaschistischen Aktionen anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung vom Hitlerfaschismus am 8. Mai 2005 aufgerufen wird, wie es im Namen der Internationalen Widerstandskämpferorganisationen von der deutschen und österreichischen Delegation gefordert wurde. Die Betonung des antifaschistischen Charakters der Bewegung erscheint jedoch unerlässlich.

Zur Transparenz und zur Vermeidung politischer Dominanz gehört auch der offene Zugang zu den Vorbereitungsgremien der Europäischen Versammlung. Da jedoch auf vielen wichtigen Treffen regelmäßig nur Italienisch, Französisch und Englisch übersetzt wird, wird die Teilnahme aus allen übrigen europäischen Ländern schon deswegen auf Eliten beschränkt und eine erdrückende Dominanz der Muttersprachler programmiert. Es muss künftig je nach Teilnahme ausreichend Übersetzung sichergestellt werden.

Natürlich gibt es in jedem Land unterschiedliche politische Prioritäten. Das sollte als Bereicherung der Bewegung betrachtet werden. Daraus ergibt sich jedoch eine gewisse politische Dominanz der jeweiligen Veranstaltung. Nicht immer ist der europäische Charakter solcher Treffen gewahrt. Das müssen die jeweiligen Organisatoren künftig garantieren.

Viele Teilnehmer der jüngsten Europäischen Versammlung in London üben jetzt in ihren Stellungnahmen zum Londoner ESF Kritik an der Dominanz politischer Gruppierungen. Gleichzeitig wird Kritik an der Entscheidung für Athen als Ort des nächsten ESF geäußert. Die Entscheidung für Athen war eine schwierige Entscheidung. Doch sie bestätigte zugleich die bereits in Bobigny getroffene Vereinbarung, die Bewegung der Sozialforen in Europa mit dem Forum in Griechenland fortzusetzen. In der Debatte in London dazu waren Bedenken deutlich geworden, dass die Vorbereitung des ESF in Athen von einer zerstrittenen politischen Koalition dominiert werden könnte, die die Beteiligung einer Reihe von Gewerkschaften, Friedens- und Studentenorganisationen ausschließt. Insofern ist die Bestätigung der Entscheidung für Athen mit der Aufforderung verbunden, dass die griechischen Gruppen zu einem Konsens finden und die Breite der unterstützenden Organisationen sichtbar erweitern.

Das wichtigste Problem, das diese Bewegung zu lösen hat, ist die Förderung der Dialogbereitschaft und des Willens zum Konsens. Wie aber geht die Bewegung mit solchen Gruppen auf der einen oder anderen Seite des politischen Spektrums um, die dazu nicht bereit oder in der Lage sind? Grenzen wir die einen aus und nehmen ihre Störaktionen in Kauf? Verzichten wir auf die anderen und damit auf deren breiten politischen Einfluss in der Bevölkerung? Die Konsequenz wäre die Spaltung und damit das Scheitern einer Idee, die die Welt verändern könnte. Aber wäre es im Interesse einer politischen Erfolgsstrategie nicht auch eine gerechtfertigte Konsequenz, sich von solchen Minoritäten zu trennen, die das ESF im Geiste von Porto Alegre mit seinem freien Diskussionsraum überhaupt nicht wollen, sondern bestenfalls ein Vehikel für gruppenegoistische Ziele suchen? („Who the fuck needs the ESF?“)

Es gibt keine Alternative zu dem Bemühen, sensibel und mit großer Rücksichtnahme eine neue politische Streitkultur zu entwickeln, in der die notwendige Einigung auf unser politisches Grundanliegen erzielt wird. Ohne Kompromisse von allen Seiten wird es dabei nicht abgehen. Wer dazu nicht bereit ist, wer gar mit Gewalt andere Meinungen unterdrückt, sollte seine eigenen Wege gehen.

Hugo Braun (Attac Koordinierungskreis), Christine Buchholz (Initiative für ein Sozialforum in Deutschland), Erhard Crome (Rosa-Luxemburg-Stiftung), Karen Genn (Marx-Engels-Stiftung), Willy van Ooyen (Friedens- und Zukunftswerkstatt) Christine Karch (Netzwerk Cuba), Stefan Krull (IG Metall), Jutta Ried (Babels-de), Hannelore Tölke (Initiative für ein Sozialforum in Deutschland)

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