Der Kopf-Arbeiter

Vor zwanzig Jahren starb der linke Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth. Arno Klönne erinnert an den Professor, der auf der Seite der Arbeiter stand.


Wolfgang Abendroth starb am 15.
September 1985

Buchtipp:
Wolfgang Abendroth: Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung

Das Buch liefert eine lebendige und praxisbezogene Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland.

Diestel Verlag, 1985, 10,00 Euro

Eine persönliche Erinnerung vorweg: Als ich im Jahr 1951 nach Marburg trampte, um mein Studium zu beginnen, war die Ortswahl ein bisschen zufällig. Was ich eigentlich studieren wollte, wusste ich nicht so genau. Auf irgendeine Weise sollte mir die Uni dazu dienen, die Jugenderfahrungen der Nazi-Zeit und des Krieges zu „verarbeiten“. Ich wollte dahinter kommen, was denn in diese Katastrophe hineingeführt hatte und wie man deren Wiederholung vermeiden könne. Mir war der Name von Wolfgang Abendroth, der gerade an die Marburger Uni berufen worden war, bekannt geworden. Dieser Professor, so hieß es, sei in der durchweg reaktionären westdeutschen Hochschullandschaft der einzige, von dem man etwas über marxistische Wissenschaft hören könne. Das bestätigte sich. Für mich eröffnete sich in den Vorlesungen und Seminaren von Abendroth eine andere gedankliche Welt, als sie sonst irgendwo im Adenauer-Staat zu finden war. Ich blieb in Marburg, wurde einer seiner ersten Doktoranden, und meine Forschungsarbeit über „ Jugend im Dritten Reich“ erschien 1955 als erster Band in der von Abendroth herausgegebenen Buchreihe des Instituts für wissenschaftliche Politik.

Was machte Abendroths Faszination aus? Er verkörperte eine politische Tradition, die in Westdeutschland innerhalb wie außerhalb des akademischen Betriebs völlig quer lag. Seine Lebensgeschichte war für einen westdeutschen Professor höchst ungewöhnlich. Vor 1933 war er (Jahrgang 1906) in der Freien Sozialistischen Jugend tätig gewesen. Diese Jugendbewegung wollte unabhängig bleiben von den Parteizentralen der SPD und KPD, aber Sozialdemokarten und Kommunisten zusammenführen. 1928 wurde er aktiv in der „Kommunistischen Partei – Opposition“, einer Gruppe, die wegen ihrer Kritik an Stalin aus der KPD ausgeschlossenen worden war. Nach 1933 ging er als junger Jurist in den Widerstand und wurde 1937 von der Gestapo verhaftet und zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Krieg wurde er in ein „Strafbataillon“ der Wehrmacht eingezogen und ging 1944 beim Einsatz in Griechenland zu den Partisanen über. Nach Kriegsende war er zunächst an Hochschulen in der sowjetischen Besatzungszone tätig. Doch aus Enttäuschung über die Entwicklung hin zur SED-Diktatur wechselte er dann nach Westdeutschland. Hier musste der ehemalige Widerstandskämpfer neben Kollegen lehren, die im Dritten Reich noch die Nazis unterstützt hatten.

Nicht nur das machte Abendroth zur Ausnahmeerscheinung. Sein Lebensweg hatte ihn stärker in die Arbeiterbewegung eingebettet als in den bürgerlichen Universitätsbetrieb. Seine Wissenschaft war kein Selbstzweck, sondern sollte dem Kampf der Arbeiterbewegung gegen die Herrschenden dienen.
Er schrieb Texte und hielt Vorträge weil „die Gewerkschaften im Kampf gegen die Restauration der wissenschaftlichen Unterstützung ihrer Position bedurften“.

Die Restauration im Adenauerstaat lief auf verschiedenen Ebenen. Der Bruch zum 3. Reich war in Verwaltung und Justiz kaum vollzogen worden. Alte Nazis saßen in führenden Positionen im Adenauerstaat. Keine zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit seinen Millionen Opfern betrieb Adenauer die Wiederbewaffnung. Kern der neuen Bundeswehr sollten die alten Offiziere der Wehrmacht sein.

Abendroth sah noch eine andere Gefahr heraufziehen: die Einschränkung der Freiheitsrechte und damit letztendlich auch der politischen Betätigung der Arbeiterbewegung. Schon in den 50er Jahren arbeitete die Regierung an Notstandsgesetzen, mit denen grundlegende Rechte wie das Demonstrationsrecht eingeschränkt werden sollten. Schon vor den Notstandsgesetzen wurden Demonstrationen oft brutal von der Polizei auseinandergeknüppelt.

Abendroth warf sich in die Proteste gegen diese Entwicklungen. An vielen Stationen des Weges einer linken Opposition in der Alt-Bundesrepublik war er es, der mit seinen Referaten und Diskussionsbeiträgen den politischen Schwung in die Bewegung hineinbrachte: Bei der Opposition der Gewerkschaftsjugend gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik; bei der Kampagne gegen die Atombewaffnung; bei dem Massenprotest gegen die Notstandsgesetze der „Großen Koalition“.
Von ihm war zu lernen, dass sozialistische Politik „unten“ vertreten und entwickelt werden muss: Vor Ort, in den Gewerkschaften, bei außerparlamentarischen Bewegungen. Abendroth war sich nie zu schade, irgendwo in der Provinz die gesellschaftspolitische Diskussion zu befördern oder Beiträge für kleine oppositionelle Zeitschriften zu schreiben.

Nach 1945 hatte Abendroth zunächst die Hoffnung, in der Sozialdemokratie werde sich eine marxistische Position durchsetzen lassen. Er war überzeugt, dass Marx’ Kritik am Kapitalismus immer noch Gültigkeit hatte und dass die Aufgabe der SPD nicht in der „Sozialpartnerschaft“ bestand, sondern in der kompromisslosen Interessenvertretung der Arbeiter gegenüber den Unternehmern. Auf die SPD setzte er vor allem deshalb, weil sie den größten Teil der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterbevölkerung an sich gezogen hatte. Seine Hoffnungen auf die SPD wurden im Laufe der Jahre immer mehr enttäuscht. 1961 schloss der Parteivorstand Abendroth und andere Linke aus der SPD aus, weil sie nicht bereit waren, dem „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“ ihre Förderung zu entziehen – der SDS, in dem dann Rudi Dutschke aktiv wurde, war den Parteioberen zu aufmüpfig.

Abendroth war ein Mensch, der die Sache, die er vertrat, nie verraten hat. Das hat ihm Respekt eingebracht, auch bei vielen seiner politischen Gegner. Deshalb haben mehrere Generationen der Linken gesagt: „Hören oder lesen wir doch mal nach, was Abendroth dazu meint“. Das lohnt sich immer noch.

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