Die große Enttäuschung

Viele Gewerkschafter unterstützten die SPD in der großen Koalition von 1966 bis 1969, um Schlimmeres zu verhindern. Doch sie wurden bald enttäuscht.


Oben: Beste Stimmung bei SPD-Wirtschaftsminister Schiller und CSU-Finanzminister Strauß. Mit Zustimmung von Unternehmern und Gewerkschaftsspitzen griffen sie in die Tarifautonomie ein

Unten: Zehntausende gingen im Mai 1968 gegen die Notstandsgesetze auf die Straße. Der DGB unterstützte die Proteste nicht mehr, seit die SPD in der Regierung war

„Die hoffnungsvollen Kollegen haben eine ziemliche Enttäuschung erlebt.“ So fasst der Kölner Gewerkschafter Franz Kersjes seine Erfahrungen mit der ersten großen Koalition in Deutschland von 1966 bis 1969 gegenüber Linksruck zusammen. Er war in den 60er und 70er Jahren ehrenamtlich in der IG Druck und Papier aktiv, bevor er in den 80er und 90er Jahren als ihr Landesvorsitzender arbeitete.

1966 endete das “Wirtschaftswunder”, der lange Aufschwung nach dem Krieg. „Viele waren beunruhigt, weil wir damals die erste Rezession nach dem Krieg erlebten. Viele hatten geglaubt, das Wachstum würde ewig weitergehen. Plötzlich begannen die Unternehmer mit den ersten Kürzungen. Manche kürzten die übertarifliche Bezahlung und andere betriebliche Zusatzleistungen“, erinnert sich der Gewerkschafter.

Im Oktober 1966 traten die FDP-Minister aus der Regierung von CDU-Kanzler Erhard zurück, weil sie das entstandene Haushaltsloch nicht durch höhere Steuern füllen wollten. Die SPD bot eine große Koalition an.

Franz Kersjes: „In den Gewerkschaften war die große Koalition umstritten. Die meisten Gewerkschafter hofften, dass es mit der SPD bei der Bewältigung des wirtschaftlichen Abschwungs für die Arbeitnehmer nicht so schlimm werden würde. Bei anderen hat die große Koalition starke Bedenken ausgelöst.“

Die CDU stellte den Kanzler Kiesinger, ein ehemaliges Mitglied der Nazis, der SPD-Vorsitzende Brandt wurde Vizekanzler und Außenminister. Der Gewerkschafter Leber wurde Verkehrsminister.

Der Industriekurier, das heutige Handelsblatt, schrieb damals: „Die engen Verbindungen zwischen SPD und Gewerkschaften, die bisher als Einfluss der Gewerkschaften auf die SPD in Erscheinung traten, müssen jetzt umgekehrt die Einflussnahme der SPD auf die Gewerkschaftsführer ermöglichen.“

„Das bedeutete insbesondere Zurückhaltung bei Lohn- und Gehaltsforderungen. Das staatliche Investitionsprogramm zur Wiederankurbelung der Wirtschaft hatte Vorrang“, fasst Franz Kersjes zusammen.

Die Bundesregierung gab Orientierungsdaten für die Lohnerhöhungen aus. 1967 und 1968 empfahl sie 3,5 und 4-5 Prozent und die Gewerkschaften stimmten Abschlüssen von 3,5 und 4,3 Prozent zu.

„Der Vermögenszuwachs bei den Unternehmern war dann in der Folge unverkennbar. In einem zweiten Schritt der konzertierten Aktion sollte dann eine soziale Symmetrie hergestellt werden, dem sich die Vermögensbesitzer jedoch beharrlich widersetzten.“

1968 und 1969 wuchs die Wirtschaft wieder um 7,2 und 8,2 Prozent. Auch die Kluft zwischen Arm und Reich wuchs: 1968 stiegen die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um 20 Prozent, die Lohneinkommen um 5 Prozent.

Ein weiterer Angriff waren die 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze. Die Unternehmer hatten sie schon seit den 50er Jahren gefordert.

Mit diesen Gesetzen sollte eine Regierung in Krisen demokratische Rechte einschränken oder außer Kraft setzen können. Dafür war eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig.

1962 kritisierte der Präsident des Bundes Deutscher Arbeitgeber, Paulssen, die Gewerkschaftspolitik und beklagte den Zwang zur Erfüllung ihrer Forderungen. „Nachgeben“ – so erklärte er – „das müssen wir eben, solange es keine Notstandsgesetze gibt.“

Darum sprach sich der DGB-Kongress 1962 mit klarer Mehrheit dagegen aus. Die Gewerkschaften beteiligten sich an gemeinsamen Protesten mit Studenten und Intellektuellen.
Nur eine Minderheit im DGB um das führende SPD-Mitglied und späteren Verkehrsminister Leber war für die Mitarbeit an einer so genannten demokratischen Notstandsverfassung. Die SPD gab ihren Widerstand 1962 auf.

Als 1966 die große Koalition kam, bröckelte der Widerstand auch in den Gewerkschaften. SPD und CDU einigten sich vor allem auf die Möglichkeit der Zwangsverpflichtung im Krieg sowie die Absetzung von Bundestag und Bundesrat und den Einsatz der Bundeswehr im Inland bei so genannter innerer Gefahr.

„Die ehemalige IG Druck und Papier war die einzige Gewerkschaft, die damals in Köln eine Demonstration und Kundgebung gegen die Beratungen auf die Beine gestellt hat. Der DGB war nicht dabei“, erinnert sich Gewerkschafter Kersjes.

In einigen Betrieben organisierten aktive Gewerkschafter im Mai 1968 Streiks gegen die Notstandsgesetze.

Auch gegen die Kürzungen der Unternehmer gab es allein in der Metallindustrie 1967 und 1968 200 Abwehrstreiks.

Im September 1969 konnten die Aktivisten in den Gewerkschaften den Kurs der Regierung aufhalten. In der Metall- und Steinkohleindustrie streikten gegen den Willen der oberen Führungen 140.000 Gewerkschafter in 69 Betrieben für mehr Lohn.

Die Empfehlung der Bundesregierung für 1969 hatte bei 5,5 bis 6,5 Prozent gelegen. Tatsächlich erkämpften die Gewerkschafter 10,3 Prozent.

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