Bolivien: Die Macht liegt auf der Straße

Der bolivianische Präsident Evo Morales verspricht, für die Menschen zu kämpfen und gegen die Konzerne. Harte Auseinandersetzungen werden seinem Wahlsieg folgen.


Steine legten diese Frauen im März dem Ausverkauf der Energiereserven in den Weg. Überall behinderten die Menschen Ausfuhren und bedrohten die Profite der Konzerne

Evo Morales ist Indio, wie zwei Drittel der Bolivianer. Trotzdem ist er der erste indigene Präsident.

Er ist, wie sein venezolanischer Kollege Chávez, der erste Präsident seines Landes, der kein Angehöriger der kleinen weißen Oberschicht ist, sondern aus der armen indianischen Mehrheit stammt.

Er ist auch der erste Präsident, der von der Mehrheit gewählt wurde: 51 Prozent. Bisher lag der Rekord bei 36 Prozent für Morales’ Vorvorgänger.

Die Wahl des Bauernführers ist ein Erfolg für die arme und arbeitende Bevölkerung. Auf der anderen Seite bedeutet sie einen Hieb gegen den weltweiten Ausverkauf öffentlichen Eigentums und eine Niederlage für die US-Regierung. Doch geschlagen sind die Besitzenden noch lange nicht.

Die Reichen Boliviens, die US-Regierung und die transnationalen Konzerne, die in Bolivien Rohstoffe ausbeuten, haben fast alles versucht, um Morales zu verhindern. Die Besitzenden behaupteten, sein Sieg würde den Ruin des Landes bedeuten.

Das Verfassungsgericht veränderte die Wahlkreise zu Ungunsten von Morales. Die US-Regierung verlegte Soldaten auf eine Militärbasis in Paraguay, an die Grenze zu Bolivien.
Doch die Wut der meisten Bolivianer ist so groß, dass weder die Lügen der Besitzenden noch die Drohungen der US-Regierung sie einschüchtern konnten. In Bolivien leben 70 Prozent von weniger als zwei US-Dollar am Tag. Seit knapp sechs Jahren wehren sich die Menschen gegen ihre Ausplünderung.

2003 und 2005 stürzten Massenbewegungen den jeweils amtierenden Präsidenten, weil sie die Erdgasvorkommen von den transnationalen Energiekonzernen zurück haben wollten. Boliviens Vorräte sind nach den venezolanischen Erdölreserven die größten Energiequellen Lateinamerikas.

1997 hatte der damalige Präsident sie an die Konzerne verkauft. Die entsprechenden Verträge hat das Parlament aber nie verabschiedet.

Trotz der riesigen Energiereserven ist nur ein Prozent der Bevölkerung an das Erdgasleitungsnetz angeschlossen; der Rest muss sich Gasflaschen kaufen. So zahlen die Menschen für das Gas das Neunfache dessen, was die Energiekonzerne zahlen würden.
Der Kampf um das Erdgas, der „Gaskrieg“, hat einen Vorläufer im „Wasserkrieg“ von 2000. Damals war die Wasserversorgung der Großstadt Cochabamba privatisiert und an einen US-Konzern verkauft worden.

Ein halbes Jahr lang wehrten sich die Bewohner mit Demos und Streiks. Straßenschlachten folgten, als der Präsident versuchte, die Bewegung niederzuschlagen. Es gab Tote. Doch der Widerstand war erfolgreich, weil das Bündnis aus städtischen Armen, Kokabauern, Studenten, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen dadurch umso größer wurde.

Der „Wasserkrieg“ war der erste erfolgreiche Widerstand gegen neoliberale Politik seit den 80er Jahren. 1985 wurden nach der Privatisierung des Bergbaus 40.000 Bergarbeiter entlassen. Die Verstaatlichung der Minen war eines der wichtigsten Ergebnisse der Revolution von 1952 gewesen und die Bergarbeiter das Rückgrat der Revolution sowie des gewerkschaftlichen Widerstands seitdem.

Eine Welle von Privatisierungen und Sozialabbau folgte. Angeblich sollten die Senkung der Staatsausgaben und der Verkauf staatlicher Betriebe Investoren anlocken, die dann neue Arbeitsplätze schaffen. Doch die Arbeitslosigkeit sank nicht. Viele ehemalige Bergarbeiter halten sich seitdem als Kokabauern über Wasser.

Gegen sie kämpft die US-Regierung. Zwei Drittel der angeblichen US-Entwicklungshilfe von jährlich 150 Millionen Dollar gehen in ein Programm zur Ausrottung des Kokaanbaus. Doch die Kokapflanze wird in Bolivien traditionell angebaut und gekaut oder als Tee getrunken.
Die militärische Ausrottung des Kokaanbaus bedeutet angesichts von Arbeitslosigkeit und Armut die Vernichtung der Existenz.

Morales ist zum Anführer der Proteste der Kokabauern geworden und hat versprochen, das US-Programm zu beenden. Die bolivianischen Besitzenden und die US-Regierung nennen ihn deshalb einen Terroristen.

In einem Interview auf dem arabischen Nachrichtensender Al Dschasira antwortete der Beschuldigte: „Der einzige Terrorist, den ich kenne, ist Bush. Seine Militärinterventionen, wie die im Irak, das ist Staatsterrorismus.“

Als Führer der Kokabauern und Kandidat der Armen und der Arbeiter konnte Morales die Wahlen gewinnen. Aber die reichen Bolivianer werden nicht akzeptieren, dass die armen Bauern und Arbeiter ihnen jetzt den Reichtum streitig machen.

Vor einem halben Jahr drohten vier Provinzen im Osten des Landes, in dem die Energiereserven lagern, sich abzuspalten und Brasilien anzuschließen. Dann könnten sie den gestohlenen Reichtum an die Energiekonzerne verkaufen.

Ein Bürgerkrieg wäre die Folge, wenn Morales versuchen würde, weiterhin die Kontrolle über die Reserven zu behalten. Teile der Oberschichten haben schon bewaffnete Gruppen organisiert, die im Wahlkampf Morales’ Anhänger verprügelt haben.

Morales’ erste Auslandsreise nach der Wahl führte ihn unter anderem nach Spanien und Frankreich, wo einige der besagten Energiekonzerne ihren Sitz haben. Morales versucht, US-Konzerne zu umgehen und mit anderen Staaten ins Geschäft zu kommen. Ähnlich agiert Präsident Chávez, der Handelsbeziehungen mit dem Iran und China aufbaut. Morales nennt Chávez als eines seiner politischen Vorbilder, neben dem brasilianischen Präsidenten Lula und dem Revolutionär Ché Guevara.

Venezuela verfügt über noch größere Energiereserven als Bolivien. Angesichts des hohen Ölpreises kann Chávez mit den Einnahmen eine Reihe von sozialen Programmen finanzieren und dennoch den privaten Eigentümern ausreichende Gewinne garantieren.

Trotzdem versuchten die venezolanischen Besitzenden und die US-Regierung mehrfach, Chávez aus dem Amt zu putschen oder abwählen zu lassen. Die arme Mehrheit mobilisierte erfolgreich zu seiner Unterstützung.

Als die privaten Ölfirmen die Förderung lahm legen wollten, um Chávez zu stürzen, hielten die Ölarbeiter sie selbst aufrecht und vereitelten auch diesen Versuch.

Teile der bolivianischen Mittelschicht unterstützen Morales, weil sie hoffen, dass die Bewegung dann zu Ende geht. Doch Gewerkschafter fordern, die Energievorkommen in 90 Tagen zu verstaatlichen, um den Reichtum für die Bevölkerung einzusetzen.

Morales antwortete: „Wir haben eine enorme historische Verantwortung, und in diesem Zusammenhang spielen die Fristen, die einige setzen, dem Imperium und der Oligarchie in die Hände… Andererseits haben wir für die nächsten 50 Jahre gesiegt.“ Seine Regierung lehnt Enteignungen ab.

Viele arme Bolivianer sind misstrauisch, ob Morales’ Idee eines gerechteren „Anden-Kapitalismus“ ihre Lage wirklich verbessert. Der Bauernführer war im Parlament zwischen 2003 und 2005 die Stütze des Präsidenten Mesa, obwohl dieser die Forderung nach Verstaatlichung der Gasvorkommen nicht erfüllte.

Als Mesa deswegen 2005 durch einen Generalstreik gestürzt wurde, plädierte Morales dafür, den Streik abzubrechen und schlug statt der Verstaatlichung höhere Steuern für die Energiekonzerne vor.

Eine weitere Mobilisierung hätte möglicherweise eine Verstaatlichung erzwingen können, wie in der Revolution 1952, als die drei größten Minenbesitzer enteignet worden waren.
Morales steht jetzt am Scheideweg: Vertritt er die soziale Bewegung, die seinen Sieg möglich gemacht hat oder versucht er, zwischen ihr und den Besitzenden zu vermitteln?

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