Marx ist Muss für die neue Linke

Volkhard Mosler legt dar, dass ein angewandter Marxismus als Kompass für eine Orientierung der Neuen Linken unumgänglich ist.

Im Zusammenbruch des „Ostblocks“ 1989-90 sahen große Teile der Linken einen „historischen Sieg des Kapitalismus“ und gingen von einer dauerhaften Etablierung einer „neoliberalen Hegemonie“ aus. Heute, 16 Jahre später, ist diese „Hegemonie“, d.h. die ideelle und politische Vorherrschaft neoliberaler Ideen, erschüttert. Die Entstehung einer weltweiten globalisierungs- zugleich kapitalismuskritischen Bewegung, das Erstarken der politischen Linken in großen Teilen Lateinamerikas und Europas sind Ausdruck dieser Erschütterung. In breiten Teilen der Bevölkerung verbreiten sich Unsicherheit und Zukunftsängste. Wir erleben zurzeit eine gewaltige soziale Polarisierung zwischen der Klasse der Produktionsmittelbesitzer und den besitzlosen bzw. lohnabhängigen Klassen. Dieser Prozess beschränkt sich nicht auf Deutschland, sondern findet global statt.

Kapitaloffensive und „Prekariat“

Die 2003 beschlossene Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung beschleunigte diesen sozialen Polarisierungsprozess. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die zeitgleiche Deregulierung der Arbeitsmärkte, insbesondere die Aushöhlung des Kündigungsschutzes, haben das Kräfteverhältnis zwischen den sozialen Klassen nachhaltig verschoben. Der frühere IG-Metallvorsitzende Zwickel hatte Recht, als er 2003 die Agenda 2010 als den „schärfsten Angriff auf den Sozialstaat nach dem Krieg“ bezeichnete. Das Hauptziel dieses Angriffes war und ist eine massive Erhöhung der gesamtgesellschaftlichen Mehrwertrate, d.h. der unbezahlten Arbeitsleistung im Verhältnis zur bezahlten. Allein im letzten Jahr ist die durchschnittliche Wochenarbeitszeit um eine Stunde gestiegen, ohne Lohnausgleich. Der Krankenstand – eine Art Fieberthermometer der Angst vor Arbeitsplatzverlust – ist in den letzten 5 Jahren um 2 Prozentpunkte auf 3,2 % gefallen. Das gewerkschaftsnahe Wirtschaftsinstitut WSI hat errechnet, dass der Anteil der Arbeitnehmer am verfügbaren Einkommen von 1990 bis 2005 von über 70 auf 65,7 % des Volkseinkommens gefallen ist. Die Zahl der offiziell Armen steigt als Folge der Hartz-IV-Gesetze nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands von 2,5 auf 4,8 Millionen.

Die Unternehmeroffensive geht mit Anbruch der Großen Koalition in eine neue Runde: Tarifbruch im großen Stil, Vernichtung von Arbeitsplätzen in hochprofitablen Branchen und Betrieben wie Telekom, Deutsche Bank und AEG erreichen eine neue Qualität. Die Anhebung des Rentenalters um zwei Jahre auf 67 und die Verkündung von zehn Nullrunden für Rentner läuft auf eine Rentenkürzung um mindestens 25 Prozent hinaus. Auch der Angriff auf die tarifliche Normalarbeitszeit spitzt sich zu, wie u.a. die Streiks gegen die Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche im Öffentlichen Dienst verdeutlichen. Der Aufstand der jungen Generation in Frankreich gegen die Aussetzung des Kündigungsschutzes in den ersten beiden Berufsjahren müsste in Deutschland seine Fortsetzung finden: Denn die große Koalition will die zweijährige Schutzlosigkeit nicht nur für Berufsanfänger, sondern für alle neu eingestellten Lohnabhängigen. Angst vor sozialer Verelendung ist – auch das ist gar nicht neu – eine wichtige Waffe der Bereicherung der Unternehmer.

An dieser Stelle lohnt es sich, den ersten Band des „Kapital“ von Marx aufzuschlagen. Hier geht er dem Verhältnis von „Prekariat“ – um einen Modebegriff aufzunehmen – und „Arbeitsplatzbesitzern“ nach. Das Heer der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten ist natürlich keine neue Erscheinung und sie stehen auch nicht außerhalb des Verwertungsprozesses des Kapitals. Marx’ These von der „industriellen Reservearmee“ geht von einer objektiven Klasseneinheit aus, freilich einer widersprüchlichen: „Die Verdammung eines Teils der Arbeiterklasse zum erzwungenen Müßiggang durch Überarbeit des anderen Teils, und umgekehrt, wird Bereicherungsmittel des einzelnen Kapitalisten.“ Arbeitslose und prekär Beschäftigte bilden eine „Reservearmee“ (wenn auch nicht mehr nur eine „industrielle“) für die Unternehmer. In Zeiten des Aufschwungs können sie in die Produktion hineingezogen werden, in schlechten Zeiten dienen sie als Lohndrücker, eben als „Bereicherungsmittel“ der Kapitalisten. Da ein nachhaltiger Aufschwung seit 1975 nicht mehr stattfand, erleben wir seitdem, dass die Verlängerung und Leistungsverdichtung der Arbeit zur Quelle steigender Gewinne und zugleich neuer Arbeitslosigkeit wird. Seitdem befinden wir uns in einer Phase, die allgemein durch stagnative Grundtendenzen gekennzeichnet war. Die innerhalb der „Stagnationskrise“ stattfindenden kleinen konjunkturellen Aufschwünge konnten die Massenarbeitslosigkeit und die sich verschärfende soziale Polarisierung nicht umkehren.

Globale Konkurrenz und neuer Imperialismus

Der Kapitalismus war schon zu Marx’ Zeiten ein Weltsystem, das allerdings in Zeiten der Globalisierung noch universeller und noch vernetzter ist, d.h. noch weniger an den Grenzen von Nationalstaaten oder Blöcken von Nationalstaaten halt macht. Die letzte Weltrezession von 2000/01 und das ungleichzeitige wirtschaftliche Entwicklungstempo zwischen China, den USA und Japan sowie den westeuropäischen Staaten (etwa 9:3:1) hat den Konkurrenzdruck auf den Weltmärkten enorm erhöht. Der Krieg der USA gegen Irak zur Eroberung und Kontrolle der größten Ölvorkommen der Welt ist ebenso Ausdruck dieser Tendenz, wie der Preisverfall auf den Märkten neuer Technologien (Handys, Computer usw.). Die konkurrierenden Kapitale wachsen nicht „friedlich“ nebeneinander, sondern das stärkere Kapital wächst zu Lasten des Schwächeren und sucht dieses aus dem Markt zu verdrängen. Je mehr dieser Prozess sich verschärfender Konkurrenz ungleicher Kapitale die nationalstaatlichen Grenzen überschreitet, umso größer die Gefahr des Umschlagens wirtschaftlicher in politisch-militärische Konflikte. Die unmittelbar nach Ende des Kalten Kriegs sehr populäre Sicht der Welt, dass „die wirtschaftliche Leistungskraft [im Gegensatz zur militärisch-politischen] als Maßstab für Machtpositionen und den Einfluss von Staaten einen höheren Stellenwert“ gewönne – so eine von der Kohl-Regierung 1990 in Auftrage gegebene Studie – erwies sich als grundfalsch. Auch linke Theoretiker erlagen diesem Irrtum, als sie von einem Bedeutungsverlust nationalstaatlicher Macht ausgingen. Die beiden Irakkriege und die Balkankriege, der drohende Militärschlag gegen Iran, die atomare Aufrüstung Indiens durch die USA gegen China sprechen eine andere Sprache. Die Barbarei des Politischen ist Ausdruck eines unkontrollierbaren Akkumulationsdrucks konkurrierender transnationaler Konzerne.

Schröder verkündete seine Agenda 2010 zwei Wochen vor Beginn des angloamerikanischen Überfalls auf den Irak. Er selbst stellte den Zusammenhang zwischen politischer Macht und ökonomischer Stärke durch Wachstum her und betonte, dass die Agenda 2010 wichtig sei, damit ein wirtschaftlich erstarkendes Deutschland in einem „starken Europa“ auch in Zukunft „die Unabhängigkeit unserer Entscheidungen […] in einer multipolaren Welt“ wahren könne. Anders ausgedrückt: Die Rückgewinnung einer wirtschaftlichen Führungsrolle durch höhere Wachstumsraten ist aus der Sicht des deutschen Kapitals der Schlüssel für ein stärkeres weltweites politisch-militärisches Gewicht. „Amerikanische Verhältnisse“ herzustellen bedeutet u.a.: Verlängerung der Jahresarbeitszeit um 500 Stunden (unbezahlt), denn die Jahresarbeitszeit eines US-Arbeiters beträgt 2000 Stunden, die eines mitteleuropäischen 1500. Die deutschen Arbeiter gelten zwar bei der Arbeitsproduktivität pro Stunde als vergleichsweise „wettbewerbsfähig“, bei der Arbeitsproduktivität pro Jahr sind sie das nicht. Es ist Schröders zweifelhafter „Verdienst“ auf diese Verknüpfung von Ökonomie und Politik, von Agenda 2010 und schneller Eingreiftruppe hingewiesen zu haben. Ohne höheres Wirtschaftswachstum besteht keine Chance, die militärische Machtlücke gegenüber den USA zu verringern. Daher auch das Bestreben, die Bundeswehr von einer großen Territorialarmee zu einer kleineren, zu internationalen Interventionen fähigen Eingreiftruppe umzubauen. Dies ist indes nur die halbe Miete, solange diese Eingreiftruppe selbst im Bündnis mit Frankreich über nicht annähernd die gleiche Vernichtungs- und Zerstörungskraft wie die US-Armee verfügt.

Krise und marxistische Krisentheorie

Auf den ersten Blick scheint zumindest die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wieder hergestellt zu sein. Die „Arbeitskosten“ sind drastisch gefallen, die Profite der großen und mittleren Unternehmen entsprechend gestiegen, Deutschland ist wieder „Exportweltmeister“. Das Land durchläuft aber seit dem Börsencrash von 2000/01 eine mittlerweile vierjährige Stagnationsphase bei nicht mehr als gut einem Prozentpunkt Wachstum pro Jahr. Trotz globaler Exporterfolge zeichnet sich kein stabiler Aufschwung ab. Vielmehr droht 2007 sogar das Abrutschen in eine Konjunkturkrise, wenn es u.a. aufgrund der geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer und einem weiteren Verfall der Reallöhne zu einem bedeutsamen Einbruch im Einzelhandel kommen wird.

Die Anhänger des Neoliberalismus werden nicht müde zu behaupten, zu hohe Lohnkosten seien die Ursache der Stagnationskrise seit den 1970ern. Wie falsch diese These ist, macht ein einfacher Vergleich deutlich: In Deutschland stiegen die realen Stundenlöhne in den 60er Jahren, während des großen Nachkriegsbooms, um 5,4 % jährlich. In den 90er Jahren, wo das Wachstum im Schnitt nicht einmal ein Drittel des Wertes der 60er Jahre erreichte, stiegen die Reallöhne nur um 0,95 % an. Nicht zu hohe Löhne haben die Stagnation herbeigeführt. Vielmehr hängt die Lohnentwicklung von der Akkumulationsrate des Kapitals ab, und diese folgt wiederum ihren eigenen ökonomischen Gesetzen. Löhne sind also eine vom wirtschaftlichen Wachstum abhängige Größe, und nicht umgekehrt. Neoliberale wie auch Neokeynesianer, Angebotstheoretiker wie auch Unterkonsumtionstheoretiker, unterliegen spiegelbildlich dem gleichen Irrtum, wenn sie die Löhne (die einen als Kosten, die anderen als Nachfrage) zum Ausgangspunkt von Krisentheorien machen.

Marx ging davon aus, dass der Kapitalismus ein höchst dynamisches und zugleich zerstörerisches Wirtschaftssystem ist. Das System des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs ist eines der profitgetriebenen Konkurrenz. Das unabhängige Agieren verschiedener Einzelkapitale führt seit dem Bestehen des Kapitalismus zu zyklischen Krisen. Produktionsentscheidungen für ein neues Auto-Modell werden auf Grund von beobachtbaren Markverhältnissen 2006 gefällt. Wer sagt aber, dass im Jahr 2010, wenn das Auto vom Band geht, noch die gleiche Absatzlage besteht wie vier Jahre zuvor vermutet? Was Marx’ Genosse, Friedrich Engels, vor 130 Jahren über den Kapitalismus schrieb, gilt auch heute noch: „Keiner [der Kapitalisten] weiß, wie viel von seinem Artikel auf den Markt kommt, wie viel davon überhaupt gebraucht wird […] Es herrscht Anarchie der gesellschaftlichen Produktion.“ Die Gesetze dieser Produktionsweise verglich Engels mit „blindwirkenden Naturgesetzen“, die sich auch ohne und gegen die Produzenten durchsetzen. „Das Produkt beherrscht die Produzenten.“

Marx und Engels gingen weiterhin davon aus, dass in einem auf freier Lohnarbeit beruhenden Ausbeutungsregime die Konsumbeschränkung der Massen eine dauerhafte Barriere für den Verkauf der Waren bedeutet. Als schriebe er heute, erklärte Engels im 19. Jahrhundert: „So kommt es, dass die große Industrie, die den ganzen Erdteil nach neuen Konsumenten abjagt, zu Haus die Konsumtion der Massen auf ein Hungerminimum beschränkt.“

Zudem – und dieser Faktor bildet das zentrale Argument der Marxschen Krisentheorie – ist die menschliche Arbeit die einzige Quelle des Mehrwerts und damit des Profits. Diese Quelle droht auszutrocknen, weil ihr Anteil an der gesamten Wertmasse des Kapitals (des neu geschaffenen Reichtums) langfristig sinkt, Maschinen („konstantes Kapital“) die lebendige Arbeit als Profitquelle verdrängen und es so zu einem langfristigen, tendenziellen Fall der Profitraten kommt. Dabei können die unmittelbaren auslösenden Faktoren einer Krise durchaus unterschiedlich sein, z.B. 1928 in den USA der Rückgang der Konsumnachfrage nach Autos und der 1929 folgende Börsencrash. Es ist wichtig, dabei zwischen auslösendem Faktor und Ursache zu unterscheiden.

Kritik der Neokeynesianer

Diese Unterscheidung trifft die zitierte Studie des WSI leider nicht. Das WSI fordert eine „andere Verteilungspolitik“ der Bundesregierung hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, z.B. durch Erhöhung der Erbschaftssteuer und stärkere Besteuerung der Unternehmergewinne. So könnten steuerfinanzierte Mehreinnahmen des Staates zu Mehrausgaben des Staates führen. Diese sich vor allem an dem Ökonomen John Maynard Keynes orientierende Schule ist heute auf der Linken fast „hegemonial“. Doch die Neokeynesianer wollen anders als Keynes nicht zusätzliche Nachfrage auf dem Weg defizitärer Haushaltspolitik des Staates (Neuverschuldung) schaffen, sondern durch die Umverteilung des Reichtums von oben nach unten. Dahinter steht die Vermutung, dass die Reichen eher bereit sind zu sparen, als die Ärmeren und Armen. Aus keynesianischer Sicht bedeutet aber Sparen fehlende Nachfrage. Sicher ist das nicht, denn einerseits kann Sparen ja dazu dienen, eine Investitionsnachfrage oder Exporte ins Ausland zu finanzieren, und andererseits könnten die Armen aus Angst vor noch schärferer Armut ebenfalls sparen.

Außerdem wäre eine Umverteilung, wenn sie wirklich einschneidend wäre, mit den Kapitalinteressen unverträglich. Paul Mattick, ein amerikanischer Marxist, schrieb in seiner Kritik des linken Keynesianismus aber auch: „Die Forderung, dass der Hang zum Verbrauch über höhere Löhne gefördert werden solle, läuft auf das Verlangen hinaus, mit der Marktwirtschaft Schluss zu machen“. Deshalb sollten Marxisten die Forderung der linken Keynesianer aufgreifen und unterstützen, nicht aber deren Illusion teilen, dass auf diesem Weg die Stagnationskrise überwunden werden könne.

Bei einem „Sozialismus-Forum“ von WASG und Linkspartei.PDS Ende 2005 in Berlin hat auch Gregor Gysi eine Ankurbelung der Binnenkonjunktur durch höhere Löhne gefordert. Da Klein- und Mittelbetriebe stärker als die Großen von der Binnennachfrage abhängig seien, lägen höhere Löhne in ihrem Interesse. „Sie wissen es nur noch nicht,“ fügte er schelmisch hinzu, „aber vielleicht können wir das denen noch beibringen.“ Gysi ist zwar ein begnadeter Redner, aber in diesem Fall wäre es ebenso aussichtsreich, einen Stein zum Sprechen bringen zu wollen. „Betriebwirtschaftliche“ Interessen kollidieren im Kapitalismus permanent mit „volkswirtschaftlicher“ Vernunft. Marx spricht in diesem Zusammenhang vom „widersprüchlichen Interesse jedes Einzelkapitalisten an größter Konsumtionskraft aller Arbeiter und an möglichst niedrigen Lohn seiner eigenen Arbeiter.“ So klagte der Präsident der deutschen Textil- und Modeindustrie, dass die seit fünf Jahren anhaltende Konsumflaute im Inland „eine verheerende Entwicklung“ darstelle – um im nächsten Satz eben dieser verheerenden Entwicklung das Wort zu reden und mehr „betriebliche Beschäftigungspakte für eine Bezahlung unter Tarif“ zu fordern.

Stagnationskrise und Massenarbeitslosigkeit sind nicht Ausdruck „falscher“ Politik, sondern einer „falschen“ Ökonomie unkontrollierbarer Marktgesetze und privater Eigentumsverhältnisse.

Marktwirtschaft und Sozialismus

Während des Sozialismus-Forums in Berlin haben die offiziellen Redner weder Marktwirtschaft und Konkurrenz noch die mit diesen verbundenen Eigentumsverhältnisse grundsätzlich in Frage gestellt. Sowohl Gysi als auch Lafontaine betonten, dass ein Wechsel der Eigentumsverhältnisse keine zentrales Ziel sozialistischer Politik mehr sei. Es gehe um die Regulierung der internationalen Finanzmärkte und um Regeln, nach denen die Banken handelten, nicht darum wem eine Bank gehöre. Beide verwiesen in diesem Zusammenhang auf das Scheitern des „Staatssozialismus“, ohne jedoch zu fragen, welche gesellschaftlichen Klassen den Staat „DDR“ denn beherrschten und damit auch die Kontrolle über die Produktionsmittel innehatten. Weder Gysi noch Lafontaine kamen in ihren Beiträgen zur Erkenntnis Willy Brandts, der 1989 sagte: „Es war ein schweres Versäumnis […] nicht energischer dagegen angegangen zu sein, dass der Begriff Sozialismus für diktatorische Kommandowirtschaft in Anspruch genommen wurde.“ So blieben „Staat“ und „Plan“ Synonyme für bürokratische Kommandowirtschaft. Eine demokratisch von unten kontrollierte und deshalb auch bedarfsorientierte Planwirtschaft blieb leider ungedacht und unausgesprochen. Sowohl Gysi als auch Lafontaine erweckten daher den Eindruck, als wäre eine umfassende Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Wirtschaftsplanung an sich unvereinbar mit Demokratie.

Kann es aber eine vernünftige, d.h. an der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse basierende Marktwirtschaft geben? Kann eine Zähmung des Tigers gelingen? Auch an dieser Stelle ist eine Rückbesinnung auf Marx angesagt: Die Profitlogik des Kapitalismus ist – das war seine zentrale Botschaft – nicht dauerhaft vereinbar mit zentralen Bedürfnissen der Gesellschaft, wie allgemeinem Wohlstand, Vollbeschäftigung, Aufrechthaltung eines effektiv funktionierenden Gesundheitssystems, Klimaschutz usw. Die private Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums durch eine kleine Gruppe von Eigentümern der Produktionsmittel und die Unterwerfung der Produktion unter das Prinzip der Profitmaximierung bleibt die eigentliche Barriere für eine vernünftige Organisation unserer Lebensgrundlagen. Kann die Profitlogik anders beschränkt, „reguliert“ werden, als durch die Enteignung derjenigen, deren Existenzbedingung auf der Ausbeutung fremder Arbeitskraft beruht?

Wir müssen wieder anknüpfen an Karl Marx und Rosa Luxemburg und der Vision einer freien Produzentendemokratie. Es geht nicht nur um „Umverteilung von oben nach unten“ durch eine sozial gerechte Politik. Der Kuchen wird im Wesentlichen nicht nach dem Backen, sondern beim Backen aufgeteilt, d.h. während der Produktion. Eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ist nur möglich, wenn es eine gerechte Verteilung der gesellschaftlichen Produktionsmittel gibt. Besitz und Kontrolle der Produktionsmittel sind auch heute der Schlüssel zu Wohlstand, Bildung und Kultur. Die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten ist die Folge ihrer Stellung im Prozess der Produktion als Besitzlose, die nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien es lange Zeit so, als gäbe es die Möglichkeit, im bestehenden Kapitalismus eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen. Die Brutalität und Gewalt des Angriffs der Herrschenden auf die Besitzlosen, wie er sich täglich vor unseren Augen vollzieht, belehrt uns ebenfalls täglich eines Besseren.

Arbeiterklasse: Sein und Bewusstsein

Die Neue Linke hat sich fast schon daran gewöhnt, wieder von einem „Klassenkampf von oben“ zu reden. Allerdings werden Marxisten immer noch eher belächelt, wenn sie von der Möglichkeit und Notwendigkeit eines Klassenkampfs von unten ausgehen und damit eine revolutionäre sozialistische Perspektive verbinden. Bei dem Sozialismus-Forum von WASG und Linkspartei in Berlin gab es keinerlei Vertrauen in die potentielle Kraft einer modernen Arbeiterbewegung. Das Standardargument lautete: „Segmentierung“! Die Arbeitnehmer bildeten heute keine handlungsfähige Klasse mehr, sondern seien auf Grund sozialer und anderer Unterschiede so gespalten und atomisiert, dass sie kein handlungsfähiges, gesellschaftsveränderndes Subjekt mehr bilden könnten. Zugleich wird die Vergangenheit idealisiert. Die Segmentierungs-Theoretiker schildern die „alte“ Arbeiterklasse als groß, einheitlich und deshalb politisch selbstbewusst und handlungsfähig. Dabei waren vor hundert Jahren, am Vorabend der Revolution von 1918, die sozialen Differenzen zwischen Arbeitern eines Betriebs und zwischen Arbeitern verschiedener Regionen wesentlich größer als heute. Auch die „gefühlte“ Distanz der Facharbeiter gegenüber Ungelernten, und zwischen weiblichen und männlichen Beschäftigten war eher größer als heute. Das betrifft ebenso den Gegensatz zwischen der Masse der „Angestellten“ und den „Arbeitern“. Die Arbeiterin eines Metallbetriebs verdiente 1906 18 Pfennig in der Stunde, ein gelernter Dreher dagegen 42 Pfennig – oder 250 % des Frauenlohns. 1994 verdiente die Arbeiterin eines Montagebetriebs im Schnitt 2600 DM, der durchschnittliche Facharbeiterlohn für die Männer betrug dagegen 3100 DM. Die Entstehung einer mächtigen politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts war zu keinem Zeitpunkt nur das Resultat einer objektiven Gleichheit der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Es waren bewusst und selbstbewusst handelnde politische Kräfte, die subjektive Anstrengung von handelnden Menschen, die zu einer politischen Vereinheitlichung der Klasse führten. Die Idee, dass gleiche oder ähnliche Lebenslagen gewissermaßen automatisch zu gleichen Bewusstseinslagen führen, ist mechanisch.

Lange Zeiten des Aufschwungs des Kapitalismus wie vor 1914 und nach 1945 haben Grundlagen für die Idee einer allmählichen, friedlichen Zähmung des Kapitalismus gelegt. Aber sowenig die Katastrophen des Kapitalismus automatisch zur Überwindung des Kapitalismus führen, sowenig sterben auch diese „Reformillusionen“ mit dem Untergang der Bedingungen, die sie hervorgebracht haben. Die Krise der deutschen und der europäischen Sozialdemokratie heute ist nichtsdestotrotz eine Art Wetterleuchten, ein potentieller Vorbote einer neuen politischen Epoche der Arbeiterbewegung. Auch heute sind es die Krisentendenzen des Kapitalismus, die den Boden bereiten für den Klassenkampf von unten und damit für den Sturz des Kapitalismus. Die Marxsche Kapitalismuskritik ging von der Unvermeidlichkeit katastrophaler Zerstörungen aus. Eine „Zusammenbruchstheorie“, wie sie andere Theoretiker vertraten und damit einen blinden Fortschrittsoptimismus verbanden, lässt sich daraus nicht ableiten. Die Barbarei war immer eine reale Alternative zum Sozialismus.

Die Wiedergeburt einer lebendigen Tradition des revolutionären Marxismus wie wir sie u.a. in den Werken von Marx, Engels, Luxemburg oder Gramsci finden können, steht auf der Tagesordnung. Allerdings fällt sie auch nicht vom Himmel, sondern muss neu erkämpf werden.

Reform und Revolution

Doch was ist unser Ziel? Neue Formen der Demokratie gab es im Experimentierstadium u.a. für kurze Zeit 1917-21 in Russland, 1918/19 in Deutschland. Dort bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, deren Delegierte in einer revolutionären Situation direkt aus den Betrieben, bzw. der Armee heraus gewählt wurden. Die Delegierten waren dem imperativen Mandat unterworfen, also ihrem Betrieb, bzw. ihrer Einheit rechenschaftspflichtig und durch diese jederzeit wieder abwählbar. Dies führte dazu, dass sich die Mehrheitsverhältnisse in den Räten entsprechend der Mehrheitsverhältnisse in der Arbeiterklasse veränderten, das heißt: die Räte waren keine Einparteiendiktaturen. Ähnliche erste Ansätze entstehen derzeit in Lateinamerika.

Die Rätedemokratie unterschied sich von der bürgerlichen Demokratie allerdings nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt. Das bürgerliche Parlament, wie wir es heute kennen, verschleiert die realen Machtverhältnisse. Der gesamte Gewaltapparat (Polizei, Armee, Gefängnisse, Justiz) steht unter strikter Kontrolle der Herrschenden. Es handelt sich um hierarchische Apparate, deren Mitglieder nicht wählbar sind, und die unabhängig von der Legislative – dem zu wählenden gesetzgebenden Parlament – agieren. Wir haben in Deutschland während des Kapp-Putsches 1920 die Erfahrung gemacht, dass die bürgerlichen Machteliten bereit sind, die Kontrolle über die Streitkräfte zu nutzen, um eine missliebige parlamentarische Regierung zu beseitigen. 1932/33 unterstützten die Unternehmerverbände im Bündnis mit der Staatsbürokratie die Beseitigung der bürgerlichen Demokratie durch die Nazis. Entsprechende Erfahrungen hat die Arbeiterbewegung seitdem immer wieder durchleben müssen. So in Chile 1973, als die herrschende Klasse den Sturz der gewählten Allende-Regierung durch einen Militärstreich bejubelte. In Frankreich zwang ein Wirtschaftsboykott der Unternehmer in den frühen achtziger Jahren die sozialistische Mitterrand-Regierung zur Aufgabe ihres antikapitalistischen Reformkurses. Marx zog im Anschluss an die Revolution von 1848/49 und der Pariser Kommune von 1871 den Schluss, dass die Arbeiterklasse nicht einfach die bestehenden Apparate der bürgerlichen Herrschaft übernehmen könne. Der Staat muss „zerschlagen“ und durch demokratische Institutionen von unten ersetzt werden.

Diese Erkenntnis darf uns nicht dazu verleiten, auf die Revolution „zu warten“. Wenn wir uns vor den kleinen Kämpfen des Alltags zurückziehen, werden wir keine Erfahrungen und Kräfte für die „großen“ sozialen Kämpfe gewinnen. Die Herausbildung einer neuen Linken entsteht aus einem dynamischen Prozess, der sich aus der Vielzahl solch einzelner Auseinandersetzungen speist. Im gemeinsamen Kampf erst können sich Arbeiter als Teil einer mächtigen Klasse fühlen, während sie der kapitalistische Alltag sich klein und machtlos fühlen lässt. Die Linke muss sich auf diese Kämpfe stützen, um jenseits der Parlamente eine Orientierung in der täglichen Arbeit zu finden. Erst durch ein systematisches und zähes Engagement auf Seiten der Lohnabhängigen kann die neue Linke Einfluss in den Gewerkschaften und so jenseits der Parlamente eine stabile soziale Verankerung gewinnen.

Gleichgültigkeit und Passivität gegenüber den Tageskämpfen der Beschäftigten ist allerdings nur eine Gefahr. Die andere ist es, „Abkürzungen“ zu suchen. Die Beteiligung an Koalitionsregierungen mit der SPD ist eine solche Abkürzung, die nur in die Irre führt. Durch die Übernahme von Verantwortung für das Funktionieren eines funktionsuntüchtigen Systems macht sich jeder es noch so gut meinende Linke am Ende zum Sachverwalter dessen, was er eigentlich bekämpfen wollte. „Schlimmeres zu verhindern“ ist angesichts der Angriffe durch das Kapital eine Daueraufgabe für die Arbeiterbewegung. Es ist allerdings eine Frage der Mobilisierung der eigenen Kräfte, nicht des Delegierens an eine Handvoll isolierter Minister. Auf den Vorwurf der Reformsozialisten, dass die bloße Opposition „unfruchtbar“ sei, antwortete die Marxistin Rosa Luxemburg: „Weit entfernt, praktische, handgreifliche Erfolge, unmittelbare Reformen fortschrittlichen Charakters unmöglich zu machen, ist die grundsätzliche Opposition vielmehr für jede Minderheitenpartei und ganz besondern für die sozialistische, das einzig wirksame Mittel, praktische Erfolge zu erzielen.“ Sie trat entschieden gegen anarchistische Tendenzen ihrer Zeit auf, die sich gegen die Teilnahme an parlamentarischen Wahlen aussprachen. Aber ebenso entschieden trat sie dafür ein, nur solche Positionen in der bürgerlichen Gesellschaft und dem bürgerlichen Staat zu besetzen, die es ihr erlaubten, den Klassenkampf zu führen. Daher kam sie zu dem Schluss, dass in der bürgerlichen Gesellschaft für die Linke dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet ist – „als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten.“

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