Die Revolution in der Revolution

In den letzten vier Jahren war Venezuela das politische Zentrum der Radikalisierung in Lateinamerika. Diejenigen, die dort einen revolutionären Prozess angestoßen haben, diskutieren jetzt darüber, wie dieser vorangetrieben werden kann. Chris Harman berichtet aus Caracas.


Chris Harman ist Herausgeber des britischen Theoriemagazins International Socialism (www.isj.org.uk). Im Januar hat er am Weltsozialforum in der venezolanischen Hauptstadt Caracas teilgenommen.

In Venezuela haben die Menschen in den letzten 30 Jahren enorm unter dem Weltwirtschaftssystem gelitten. Jetzt aber glauben Millionen Venezolaner selbstbewusst, dass sie die Dinge verbessern können.

Es ist nicht lange her, da war Venezuela reicher als die meisten Länder in Lateinamerika. Der Lebensstandard der Mehrheit war höher als heute. In den 1950ern zog Venezuelas Wohlstand sogar Einwanderer aus Südeuropa an. Dieser Wohlstand stammte aus Öleinnahmen, die jedoch vom Auf und Ab eines zutiefst instabilen Weltwirtschaftssystems abhingen. Wenn der Ölpreis hoch war, konnten die Regierungen sowohl die Unzufriedenheit unter den Armen besänftigen als auch große Summen für Prestige-Projekte ausgeben.

Als der Ölpreis allerdings fiel, fielen auch die Einnahmen. Es blieb wenig übrig, nachdem die Kapitalisten und die obere Mittelklasse einen großen Teil der Gewinne in die eigene Tasche gesteckt hatten. Die selbsternannten Direktoren der staatseigenen Erdölgesellschaft PDVSA und die multinationalen Konzerne (zwei von ihnen gehören den reichsten Familien Venezuelas) genehmigten sich den Löwenanteil. Der Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit verschlechterte sich – vor allem als die Regierungen, die Verbesserungen versprochen hatten, Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds schlossen. Die Reallöhne wurden halbiert. Die Arbeitslosen konnten ihren Lebensunterhalt nur noch im informellen Sektor verdienen. Sie bevölkern die Gehwege im Stadtzentrum, sie arbeiten ohne Vertrag, viele prostituieren sich.

Familien, die auf ein Leben in modernen Wohnungen gehofft hatten, sahen sich gezwungen, Hütten auf Brachland zu errichten. Im Laufe der Jahre ist es vielen gelungen, sie in gemauerte Gebäude umzubauen. Sie bemühen sich sehr, sie innen schön und sauber zu halten. Die Behausungen stehen aber nahe steiler Berghänge. Bei Unwetter sind diese Hänge gefährlich. Um die Jahrtausendwende starben tausende in Schlammlawinen.

Die Straßenhändler brauchen Schutz, den die korrupte Polizei ihnen nicht bietet. Sie haben ihre Baseballschläger. Wenn diese nicht ausreichen, wenden sie sich an Mafia-Banden. In den Barrios (Elendsvierteln) hat die Verzweiflung manche in die Drogensucht getrieben. Mafia-Banden konnten den Drogenhandel an sich reißen. Es ist kein Wunder, dass Caracas als einer der gewalttätigsten Orte der Welt gilt.

Menschen finden sich niemals einfach mit solchen Zuständen ab. So führte 1989 die Verdopplung der Buspreise dazu, dass die Leute aus den Barrios in das Zentrum strömten und die Geschäfte und Wohnungen der Reichen plünderten. Polizei und Armee gingen hemmungslos gegen sie vor. Die Kämpfe dauerten zwei Tage und forderten tausende Todesopfer. Schließlich waren die Armen aus der Stadt wieder auf die Hügel vertrieben. Die oberen Klassen atmeten auf in der Gewissheit, weiter im Luxus leben zu können.

Nach dem Aufstand von 1989 änderte sich dennoch etwas. In den folgenden neun Jahren verloren die alten Regierungsparteien, verantwortlich für weitere Verarmung und Repression, jegliche Glaubwürdigkeit. Bei den Wahlen von 1998 trat ein Armeeoberst namens Hugo Chávez an. 1992 hatte er einen gescheiterten Staatsstreich angeführt. Obwohl er ein Outsider war, wurde er mit großer Mehrheit ins Amt gewählt. Zunächst waren die oberen Klassen nicht beunruhigt. Der neue Präsident glaubte, er könne die Situation der Massen verbessern, ohne die Reichen oder ihren ausländischen Beschützer, die USA, anzugehen.

Die Besitzenden gaben schnell zu erkennen, dass ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Chávez Grenzen hatte. Als er versuchte, die staatliche Erdölgesellschaft umzuorganisieren, um die Veruntreuung der Einnahmen einzudämmen, wurde ihr Widerstand stärker. Am 11. April 2002 versuchten sie einen militärischen Staatsstreich. Chávez wurde gekidnappt, der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes ernannte sich zum Präsidenten. Aber sie hatten nicht mit der Reaktion der Armen gerechnet. Aus den Barrios strömten tausende Richtung Präsidentenpalast. Dadurch provozierten sie eine Spaltung innerhalb der Armee und brachten Chávez zurück in das Amt.

Acht Monate später scheiterte ein weiterer Umsturzversuch an Massenmobilisierungen. Diesmal versuchte die Opposition, durch flächendeckende Aussperrungen in der Ölindustrie die Regierung zu Fall zu bringen. Aber, vereint mit den Armen, gelang es organisierten Arbeitern, die Ölindustrie am Laufen zu halten oder gegebenenfalls wieder zum Laufen zu bringen. Seitdem konnte die Regierung Chávez teilweise über die Öleinnahmen verfügen und einen Teil für wirkliche Reformen verwenden. Vor 18 Monaten scheiterte der Versuch, Chávez per Volksentscheid abwählen zu lassen. Im Dezember letzten Jahres schließlich konnte er die Parlamentswahlen erneut für sich entscheiden. Dadurch wurde die Position der Regierung weiter gefestigt.

Paradoxerweise sind fast alle Symbole noch vorhanden, die für die Zeit vor Chávez stehen. Die Reichen haben nach wie vor ihren Luxus, und die Arbeitslosigkeit bleibt hoch, um die neun Prozent. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Zahl derer, die versuchen zu überleben, indem sie Waren oder sich selbst auf der Straße verkaufen, abgenommen hätte.

Dennoch hat in den letzten vier Jahren der Kampf zwischen dem Neuen und dem Alten ernsthaft begonnen. Es ist noch ein langer Weg. Viele Aktivisten haben uns erzählt, dass das Alte einige der Kräfte zu vergiften droht, die den Anspruch haben, für das Neue zu stehen.

In den Barrios

Der Barrio „23. Januar“ erstreckt sich vom Hügel in das Tal, das das Herzstück der Stadt bildet. Aktivisten im Barrio erzählten uns von den misiones (Sozialprogramme der Regierung). Zum ersten Mal gibt es für sie gute Schulen. Es gibt Lesekurse speziell für Erwachsene und Gesundheitszentren mit kubanischen Ärzten. „Wenn wir krank sind, werden wir hier sofort behandelt. Wir bekommen nicht nur eine Grundversorgung, sondern zum Beispiel moderne zahnärztliche Behandlung“, sagte Felicita, eine siebzigjährige Frau.

Die Geschichte des Widerstands des Barrios geht auf den 23. Januar 1958 zurück, als der Diktator Marcos Pérez Jiménez durch einen Aufstand gestürzt wurde. Nach der Erstürmung des Präsidentenpalastes besetzten die Aufständischen die 97 Hochhäuser, die der Diktator für die Mittelklassen hatte bauen lassen. Der Barrio wurde nach diesem Ereignis benannt.

Auch Guerillagruppen konnten sich im Barrio verankern. Sie setzten sich gegen die Polizei zur Wehr, die die Armen in Schach hielt. „Es gibt eine Tradition des Widerstands, die schon über vier Generationen andauert“, erklärte Juan Contreras, führender Aktivist in einer der Koordinationen (örtlichen Kampagnenvereinigung). Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Barrio
„23. Januar“ eine wichtige Rolle im Aufstand von 1989 gespielt hat. Auch 2002 stand er im Zentrum der Proteste gegen den Sturz von Chávez.

Nachdem der dritte Umsturzversuch gegen Chávez gescheitert war, wurde die alte Polizeiwache symbolträchtig in ein Sozialzentrum umgewandelt. Aus dem Ort der Folter und Gewalt gegen die Armen wurde ein Radiosender des Stadtteils. Das Gebäude wird von einem bewaffneten Soldaten bewacht, der als Mitglied der Nachbarschaft betrachtet wird.

Im Barrio ist die Polizei noch immer ein Problem. „Jahrelang gingen alle Sicherheitskräfte repressiv gegen jede Form von sozialem Protest vor“, sagte Gustavo, „Leider hat sich das nicht grundsätzlich verändert. Die Aufsicht über die Polizeikräfte haben die Gemeinden. Viele sind noch unter Kontrolle der Rechten. Obwohl der jetzige Bürgermeister von Caracas besser ist als sein Vorgänger, hat sich die lokale Polizei noch nicht verändert. Bei den Medien ist es ähnlich. Auch diese werden von den Rechten kontrolliert. Wie gehen wir mit diesen Problemen um? Es gibt im Moment eine Gesetzesinitiative im Kongress, eine landesweite Polizei zu schaffen. Wir hoffen, dass dann die Polizei kontrolliert werden kann.“

Es gibt mehr als 40 verschiedene Gruppen, die im Barrio „23. Januar“ arbeiten, jede mit ihrer eigenen losen Form der Organisation. Die Aktivisten, mit denen wir gesprochen haben, hatten ein beinahe religiöses Vertrauen in Chávez. Felicita, die sich mit Stolz als Revolutionärin bezeichnet, sagte: „Es hat nie jemanden gegeben, der uns so versteht wie er.“ Gustavo fügte hinzu: „Obwohl er von Bürokratie umgeben ist, weiß Chávez, wie die Bevölkerung denkt. ‘Aló Presidente’ (‘Hallo Präsident’) ist Chávez’ sonntägliche Fernsehsendung, sie ist das wichtigste Kommunikationsmittel zwischen Chávez und dem Volk. Deswegen dauert sie mehr als sieben Stunden. Aber wir müssen nicht warten, bis der Präsident uns sagt, was wir tun sollen, wir tun es von alleine.“

Die wichtigste Botschaft, die uns diese Aktivisten gegeben haben, war, dass nun dort Hoffnung ist, wo früher Verzweiflung war. Trotzdem sind sie oft sehr kritisch gegenüber den Teilen der Führung der Bewegung, die in der Regierung und in anderen Institutionen arbeiten.

Gustavo meinte: „Es ist sehr wichtig, dass es einen Druck von der Basis gibt. Es gibt Gesellschaftsschichten, zum Beispiel die Bürgermeister, die sehr besorgt sind, wie viel Raum den Massen gegeben wird. Sie sind dabei, ihnen diesen Raum wieder zu nehmen. Es gibt einen Kampf von unten gegen die Bürokratisierung und die Korruption. Jetzt müssen Leute wie Juan für den Bezirksrat kandidieren, denn diese bürokratische Schicht ist ein großes Problem.“

Juan beschrieb den Kampf als „Kampf gegen Individualismus und für Kollektivität.“ Er erklärte: „Die Regierung ermutigt uns, gegen Korruption und Missstände in den Institutionen vorzugehen. Am Anfang war uns nicht klar, wie viel Macht wir haben. Jetzt haben wir die Möglichkeiten, uns von unten zu organisieren.“ Felicitas Tochter fügte hinzu: „Im Moment gibt es niemanden, der so wäre wie Chávez, aber mit der Zeit können sich andere Führungspersönlichkeiten entwickeln. Wir verteidigen Chávez, weil er die Zukunft für unsere Kinder ist. Die Rechte glaubt, wenn sie Chávez beseitigen kann, wird sie all unsere Hoffnungen zerstören.“

Fabrikbesetzung

Die Bewegung, die Chávez dreimal erfolgreich verteidigt hat, hat auch einige Belegschaften ermutigt, sich gegen Fabrikschließungen zu wehren. Sie gehen davon aus, dass die Regierung sie unterstützen wird. Wir besuchten die Kleidungsfabrik Seifex im Osten von Caracas. Sie liegt in einer Gegend, in der die untere Mittelklasse zuhause ist. Am 12. Dezember letzten Jahres wurden die 240 Beschäftigten von den Eigentümern informiert, dass die Fabrik geschlossen wird. Die Arbeiter haben die Fabrik sofort besetzt. Sie bewachen die Fabrik seitdem Tag und Nacht.

Als wir Carmen Fuentes fragten, wer entschieden hat, dass die Fabrik besetzt werden soll, antworteten die umstehenden Frauen: „Wir alle!“ Carmen erklärte: „Neunzig Prozent der Belegschaft sind Frauen. Ich habe hier 24 Jahre an der Nähmaschine gearbeitet. Ich habe mit 22 angefangen und habe vier Kinder. Als die Besitzer gesagt haben, dass sie die Fabrik dichtmachen werden, wurde mir klar, dass sie uns angelogen und bestohlen hatten. Ich hatte kein Vertrauen mehr in sie.“

„Einige von uns sind seit 40 oder 50 Jahren hier“, fuhr sie fort. „Aber wir hatten nie Streiks oder Ähnliches. Wir hatten keine Konflikte mit unserem Management, wir vertrauten ihnen. Natürlich gab es Dinge zu beklagen, aber wir haben uns nicht beklagt.“ Auf die Frage, wie es ihnen jetzt geht, sagten die Frauen: „Schlecht. Wir haben keinen Job, wir haben kein Geld. So mussten wir Weihnachten überstehen, und wir haben Kinder.“

Die Arbeiterinnen leben nicht in dem Bezirk, in dem die Fabrik liegt. Aus der Nachbarschaft haben sie keine Unterstützung bekommen. Ihre Familien in den Barrios stehen hinter ihnen. An Weihnachten und Sylvester sind sie in die Fabrik gekommen, um ihnen Gesellschaft zu leisten.

Die wichtigste Unterstützung haben die Frauen von der Textilgewerkschaft bekommen. Wir sprachen mit Elidio Rojos, einem ehemaligen Textilarbeiter, der jetzt für die Gewerkschaft arbeitet. Er erklärte uns den Hintergrund dieser Auseinandersetzung. Die Betriebsstilllegung, eine von vielen in Venezuela, ist ein Ergebnis der wirtschaftlichen Krise des letzten Jahrzehnts. Die Textilgewerkschaft für Caracas und Miranda hatte lange Zeit 11.000 Mitglieder, jetzt hat sie nur noch 2.400. Vor drei Jahren war die Mitgliedschaft auf 1.400 gefallen und ihr Überleben stand auf dem Spiel. Nachdem der alte Gewerkschaftsdachverband jedoch 2002 sowohl den Staatsstreich gegen Chávez als auch die Aussperrung unterstützt hatte, wurde der neue Dachverband UNT gegründet.

Rojos beteiligte sich an der Gründung der UNT: „Als erstes haben wir eine Rekrutierungskampagne gemacht. Jetzt haben wir 1.000 Neumitglieder. Ich glaube, dass die UNT für unsere Bewegung die Rettung ist.“ In der neuen Gewerkschaft gibt es auch eine neue Vorstellung von Führung. „Ich merke, dass ich in dieser Gewerkschaft nicht der Kopf, sondern der Schwanz bin“, sagte Rojos. „Die Frauen sind der Kopf, weil die Gewerkschaft von unten aus aufgebaut ist und nicht von oben.“

In der Bewegung

Roland Dennis ist Mitglied eines Netzwerks von Basisaktivisten, die sich Bewegung 13. April nennen (benannt nach dem 13. April 2002, an dem die Massenbewegung Chávez wieder an die Macht gebracht hat). Er erklärte uns, dass der Sieg von Chávez und die Niederlagen der Rechten vielen Aktivisten die Möglichkeit gegeben hat, die sozialen Bewegungen wieder aufzubauen, nachdem sie in den 1980ern und 90ern viele Niederlagen erlitten hatten. In diesem Prozess sind jedoch einige vom institutionellen Rahmen der Regierung absorbiert worden.

Die drei Jahre vor dem Staatsstreich 2002 stellten eine Phase faschistischer Verschwörungen dar. Die Basisgruppen mobilisierten, um die Regierung zu verteidigen. Als klar wurde, dass die Rechte besiegt war, entstand eine neue Debatte. Sie drehte sich um den Konflikt zwischen jenen, die von den Regierungsinstitutionen aufgesogen wurden und jenen, die stark in der Bewegung verankert waren. Langsam gewann die Vorstellung an Einfluss, dass die Arbeiterklasse im Zentrum eines Programms der gesellschaftlichen Veränderung stehen muss. Trotz ihrer Kritik unterstützen die Basisgruppen nach wie vor Chávez.

„Das Problem mit den Institutionen ist nicht nur ein Problem mit der Bürokratie. Es ist auch ein Problem mit Korruption. Bürokratie und Korruption verwandeln sich in eine fürchterliche Maschine, die droht, den revolutionären Prozess zu zerstören. Sehr viel Geld kommt vom Erdöl, aber sehr wenig davon kommt bei den Menschen unten an. Viel geht in jenen sozialen Bewegungen verloren, die in direkter Verbindung mit der Regierung stehen. Die radikalen Reformen haben bisher nur einem Viertel der Bevölkerung genützt“, sagte Roland.

Er gab uns ein erschreckendes Beispiel dafür, was das Fortbestehen der bürokratischen Staatsinstitutionen bedeutet. Ende letzten Jahres gab es einen Bergarbeiterstreik im äußeren Süden des Landes. Die Bosse setzten Berufskiller ein und töteten 11 Arbeiter. In den Landesmedien wurde kaum darüber berichtet. Die Bergarbeiter protestierten, sie trugen ein großes Bild von Chávez mit sich. Sie wurden von einer Armeeeinheit zurückgeschlagen. In der chavistischen Rhetorik heißt es dagegen, die Armee stehe an der Spitze der Volksbewegung.

Roland sagte: „Es gibt Versuche, die Bewegungen von der Basis aus zusammenzuführen. Nicht als Partei, sondern als breite Organisation, die einen gemeinsamen revolutionären Ansatz zum Ausdruck bringen könnte. Wir hatten schon zwei landesweite Vollversammlungen. Der Prozess ist sehr schwierig, denn die Organisationskultur ist hier sehr schwach.“

„Es gibt für die Basis der Bewegung keine Möglichkeit, eigene Forderungen aufzustellen, denn die Massen haben keine eigenständige Organisation. Bewusstsein, das keinen materiellen Ausdruck in einer Organisation findet, bedeutet nichts.“ Wie dringend so eine Organisation aufgebaut werden muss, zeigt sich darin, wie die herrschende Klasse auf Chávez und die Bewegung reagiert hat.

Roland meinte dazu: „Im Moment schließen die gehobenen Klassen Kompromisse mit Chávez und verschwören sich gleichzeitig gegen ihn. Chávez hat den Ton auch etwas geändert. Früher sprach er ziemlich oft gegen die Reichen, das macht er jetzt viel seltener.“

„Der Gegner, von dem er jetzt spricht, ist der Imperialismus. Meist greift er unsere herrschende Klasse nicht an. Er geht mit den Kapitalisten der Landwirtschaft und dem Finanzkapital Bündnisse ein, aber er hat mit ihnen noch keinen endgültigen Pakt geschlossen. Die Bourgeoisie hat also ihre gewaltsamen Aktionen gegen Chávez eingestellt, aber sie treibt ihre Verschwörung voran.“ Roland verwies darauf, dass es am Tage zuvor den Kapitalisten und der Rechten gelungen war, eine sehr große Demonstration zu organisieren, die den Sturz von Chávez forderte: „Um die 100.000 Menschen. Das ist nur ein Drittel von dem, was sie vor zwei Jahren mobilisieren konnten, aber es ist immer noch ziemlich viel.“

In der Regierung Chávez kontrollieren die weniger radikalen Mitglieder die Ministerien für Finanzen, Auswärtiges, Innere Sicherheit und Verteidigung. Stalin Perez, eines der wichtigsten Führungsmitglieder des neuen Gewerkschaftsdachverbandes, spricht von „neoliberalen und anti-neoliberalen Flügeln der Regierung“.

„Chávez ist ein Symbol für uns“, sagte Roland. „Unsere Herausforderung ist, das Symbol nicht mit Politik zu verwechseln. Im Moment ist es unsere Aufgabe, unabhängig vom Symbol eine eigenständige Politik aufzubauen.“ Denis sah zwei Gefahren, falls diese Alternative nicht aufgebaut würde: „Die erste Gefahr ist, dass die Rechte stark genug wird, um gewaltsam oder gewaltlos die ganze Bewegung zu besiegen. Die zweite Gefahr ist, dass die Bewegung noch weiter institutionalisiert wird.“ Beides würde bedeuten, dass der venezolanische Kapitalismus erhalten bleibt, und mit ihm die gewaltige Ungleichheit, die die Masse der Bevölkerung zu Armut und Unsicherheit verdammt. Aber alle Aktivisten, mit denen wir gesprochen haben, selbst jene, die keine Kritik an der Regierung haben, kämpfen für etwas viel Besseres.

Übersetzung: Daniel Friedrich

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