Interview mit Kamal Khalil über die Verfolgung ägyptischer Kriegsgegner

Kamal Khalil ist Bauingenieur und Direktor des Centers for Socialist Studies in Kairo. Er ist als Kommunist politisch aktiv seit der Studentenbewegung 1972, hat die Kämpfe der Stahlarbeiter 1979 mitunterstützt und die Proteste der Kleinbauern gegen die Rücknahme der Landreform 1997. Wegen dieser Aktivitäten ist er selbst insgesamt 15 mal inhaftiert worden. Er gehört der Strömung der Revolutionären Sozialisten an.Warum verfolgt der ägyptische Staat Kriegsgegner?
Wir leben in einem Polizeistaat. Dieser Staat hat nicht nur die Kriegsgegner verfolgt. Er hat jeden Protest niedergeschlagen- die Streiks der Eisenbahner, der Stahlkocher und die Bauernproteste. Wir haben im Moment ca. 20.000 politische Gefangene in den ägyptischen Gefängnissen. Heute konzentriert das Regime die Schläge auf die Bewegungen, die die Verbindungen herstellen zwischen der Besatzung in Palästina und im Irak und der Situation in Ägypten.
Als die Studenten der Universität in Alexandria im Frühjahr gegen den Krieg protestierten, hat die Polizei mit Gummigeschossen einen Studenten getötet und etliche so schwer verletzt, dass sie bleibende Schäden davontrugen- zwei sind erblindet. Der Staat hat über 1000 Leute verhaftet, die am 20.3., dem Tag des Kriegsbeginns demonstriert haben. Der Staat hat die Gewerkschaft der Rechtsanwälte angegriffen und zwei Parlamentsabgeordnete trotz ihrer Immunität verhaftet und zusammengeschlagen.
Die Protestbewegungen bei uns haben natürlich auch ihre Höhen und Tiefen. Man kann hier drei Höhepunkte erkennen. Der Beginn und erste Höhepunkt war beim Ausbruch der Intifada am 28.9.2000, dann mit dem Massaker in Dschenin am 1.April 2002 und der dritte Höhepunkt kam jetzt mit der Invasion der Amerikaner im Irak. Die ersten Bewegungen hier wurden hauptsächlich von Studenten und Intellektuellen geführt und der Anteil der Volksmassen war kleiner. Beim dritten Höhepunkt war es umgekehrt: der größere Teil, der der Bewegung ihre Wucht gegeben hat, waren die einfachen Menschen und der kleinere Teil waren Intellektuelle und Studenten.

Momentan steht ein ägyptischer Kriegsgegner, der Ingenieur Ashraf Ibrahim, vor Gericht, vier weitere- Nasser Farouq, Yehia Fakry, Mustafa El Basiony und Remoan Edward Gendi sind angeklagt und untergetaucht. Was ist passiert mit diesen angeklagten Kriegsgegnern?
– Ashraf Ibrahim sitzt seit acht Monaten im Tora Gefängnis. Die anderen vier sind seit über vier Monaten untergetaucht. Alle fünf sind Sozialisten. Sie werden verfolgt, weil sie aktiv waren in der Bewegung gegen den Krieg. Sie haben immer die Verbindung hergestellt zwischen den Ereignissen in Palästina, Irak und Ägypten. Es gibt drei Anklagepunkte gegen sie: 1. Teilnahme an Demonstrationen, die die öffentliche Ordnung stören, 2. Verbreitung von falschen Informationen an Menschenrechtsorganisationen und 3. – das ist der wichtigste Punkt, kraft dessen sie zwischen 5 und 15 Jahren Haft bekommen können- die Gründung einer illegalen politischen Organisation. Wir befinden uns im Ausnahmezustand. Sie stehen vor dem Staatssicherheitsausnahmegericht. Wenn Richter dieses Gerichts moderate Urteile fällen, darf der Staatspräsident diese Urteile kassieren und vor ein anderes Gericht ziehen. Die Angeklagten dürfen dagegen nicht in eine zweite Instanz gehen, wenn das Urteil zu drakonisch ist. Das Verfahren wurde am 6.Dezember eröffnet. Über 40 Rechtsanwälte verteidigen die Leute. Die Symbolfiguren der Antikriegsbewegung sind vor Gericht vertreten um den Angeklagten Beistand zu leisten. 13 Europaabgeordnete fordern die sofortige Freilassung der Gefangenen. Wir haben unter anderem Unterschriften von den verhafteten Parlamentsabgeordneten gesammelt. Wir haben auch auf der Internationalen Kairokonferenz am Wochenende die Unterschriften fast aller Teilnehmer gesammelt. Wir werden unsere Sache weiter verteidigen. Wir werden für den Sozialismus in Ägypten im Gericht und außerhalb des Gerichts kämpfen. Wir wissen nicht, wie das Verfahren ausgehen wird. Vor solchen Gerichten werden die Richter gelenkt. Es gibt keine wirklichen juristischen Kriterien für das Verfahren. Falls unsere Genossen milde Urteile bekommen oder gar freigesprochen werden, dann ist das dem Erfolg und dem Druck der Solidaritätsbewegung zu verdanken.
Einer der Genossen auf der Flucht will sich der Polizei stellen, damit er im Gerichtssaal eine Verteidigungsrede halten kann, in der er das ganze Regime anprangert, eine Gesamtanalyse gibt und den Standpunkt der Sozialisten erklärt. Das ist eine Chance, die man nutzen muss und dafür lohnt es sich, sich der Polizei zu stellen.

Wie können Kriegsgegner in Deutschland die verhafteten Kriegsgegner unterstützen?
Jedes Land hat seine Besonderheiten. Wir haben hier Unterdrückung und wenig Demokratie und ihr habt viel Demokratie und könnt euch so organisieren wie ihr wollt. Auf der anderen Seite, wir können frei über Israel und Palästina reden und das scheint bei euch schwierig zu sein. Wichtig ist, dass wir beide uns als Teil einer Weltbewegung betrachten und diese Besonderheiten in ihrem Rahmen sehen. Wir müssen in unserem Kampf das Globale mit dem Lokalen verbinden. Da ist immer eine Beziehung. Die Solidaritätsbewegung hat uns schon geholfen. Ich wurde am 19.Februar vom Regime auf der Straße gekidnappt. Ich und meine Freunde, die mit mir verhaftet wurden, dachten, dass wir jetzt ein paar Jahre im Gefängnis sitzen- das ist hier so üblich. Nach 15 Tagen wurde ich wieder frei gelassen- das hat mich total überrascht und verwirrt. Erst dann wurde mir die Sache klar, warum ich wieder herauskam. Ich stellte fest, dass eine gigantische weltweite Solidaritätsbewegung entstanden war, die dazu beigetragen hat. Das Regime ist so schwach und diese Solidarität, dieser druck macht dem Regime ganz schön Angst. Selbst wenn bei euch nur 50 Leute vor der ägyptischen Botschaft demonstrieren, ist bei uns der Teufel los.

Du hast auf der Konferenz am Wochenende davon gesprochen, dass das Regime in Ägypten bald stürzen wird. Woher kommt dein Optimismus?
Der Grund für meinen Optimismus liegt darin, dass heute die Massen in Ägypten gegen das Regime sind. Wenn du vor 5 Jahren Menschen auf der Straße über das Regime befragt hättest, hätten viele Leute gesagt: das Regime wolle im Grunde etwas Gutes, aber es habe ein paar Probleme. Heute findest du keinen einzigen Menschen mehr, der die Mubarakclique verteidigt. Das ist ein Unterschied und ich rede von den Massen. Die palästinensische Intifada und der Krieg im Irak, die Besatzung des Irak haben die ägyptische Straße revolutioniert. [der Dolmetscher wendet ein: Ich würde sagen, sie haben einen Stein ins Wasser geworfen. Ich bin nicht so optimistisch wie Kamal, deswegen würde ich nur sagen: ein Stein ins Wasser, obwohl Kamal ein alter Genosse von mir ist.] In den letzten Monaten hat die Krise wegen des Verfalls des ägyptischen Pfunds die Basis der Gesellschaft erreicht. Die Preise sind so in die Höhe gestiegen, dass die Massen jetzt aufschreien wegen der Teuerung. Mubarak sitzt seit 22 Jahren im Amt. Die Leute haben ihn satt. Die Menschen wollen eine Änderung haben. Es gibt einen ganz gewaltigen Zorn in der Bevölkerung. Ein Zeichen für diesen Zorn, der jetzt herrscht, ist die Situation, die entstanden ist durch die Haltung des Schriftstellers Sonhalla Ibrahim, der auch auf der Kaironkonferenz war. Sonhalla Ibrahim hat den Preis gewonnen für den arabischen Roman [dotiert mit 100.000 Ägyptischen Pfund] und er hat diesen Preis dem Regime öffentlich vor die Füße geworfen und das begründet. Er ist dadurch zum Nationalhelden geworden. Es ist eine große Bewegung entstanden für Sonhalla Ibrahim, von Menschen, die ihn als ein Beispiel sehen. Das ist ein Zeichen für den Zustand, in dem wir uns befinden. Die Leute suchen nach Beispielen, die diese Polarisierung der ägyptischen Gesellschaft darstellen. Wir wollen die Leute auseinander halten: für oder gegen das Regime. Das ist der Grund für meinen Optimismus. Ein anderes Zeichen dafür: Sonhalla Ibrahim ist natürlich ein Intellektueller. Es gibt aber einen anderen Fall, der nicht unter die Intellektuellen fällt. Es gibt einen Ingenieur, der vor einer Woche verhaftet wurde, weil er mit Pinsel und Farbe an die Wand geschrieben hat: "Ich bin gegen Vererbung der Präsidentschaft". [Anm.: in Ägypten gibt es derzeit eine Debatte über die Nachfolge für Präsident Mubarak. Es wird angenommen, dass er seinen Sohn zu seinem Nachfolger ernennt.] Jetzt sitzt er in Haft. Als ihn die Anwälte fragten, warum hast du das gemacht, sagt er: "Weil ich in keiner der Äußerungen von den Parteien, die im Parlament sitzen, diese Frage beantwortet bekommen habe. Aber ich als Bürger muss das aussprechen, denn ich bin dagegen und ich habe keine andere Möglichkeit, das auszudrücken." Und das ist ein Mensch, der noch nie in einer Partei oder in irgendeiner Organisation war, sondern ein ganz einfacher Bürger. Das ist ein Zeichen dafür, dass es hier unter der Oberfläche kocht. In den letzten zwei Monaten hat sich besonders die Streikbewegung in den Betrieben gesteigert. Eine Woche vor unserer Kairokonferenz gab es wieder einen Streik in einem Betrieb [Anm. des Übers.: Streiks sind bei uns immer illegal, das muss man wissen. Streik heißt, du gehst aufs Ganze, in frontale Konfrontation mit dem Regime]. Der Zustand in Ägypten heute ist kurz vor der Explosion, so ungefähr wie in Argentinien oder Indonesien [1997/98]. Diese Explosion wird kommen. Unser Problem als Sozialisten- und ich glaube, das ist in Argentinien auch der Fall gewesen- ist, dass wenn der Knall kommt, dann ist er so wuchtig und viel größer als die Kapazitäten unserer Organisation.
Ich baue meinen Optimismus auf die Menschenmassen und das tut jeder Sozialist. Ein weiteres Beispiel: es ist ein sehr kleiner Fall aber bezeichnend: der Fall einer Glühbirnenfabrik in Kairo. Diese Fabrik gehört einem Kapitalisten, der sein Geld von den staatlichen Banken geklaut hat. Das heißt: durch seine Beziehungen zur politischen Macht hat er einen Riesenkredit in Milliardenhöhe bekommen. Er hat auch seine Mitgliedschaft im Parlament gekauft. Sein Name ist Rami Lakah. Diese Milliarden wollte er nicht zurückzahlen und hat sich einfach aus dem Staub gemacht, abgesetzt- jetzt lebt er seit einigen Monaten in Paris. Eine seiner vielen Fabriken ist die Glühbirnenfabrik mit 1200 Arbeitern. Seit Monaten haben sie weder eine Führung im Betrieb, noch Geld und stehen da wie bestellt und nicht abgeholt. Jetzt haben die Arbeiter beschlossen, die Sache in die eigene Hand zu nehmen und führen den Betrieb mit den Lagerbeständen selbst weiter. Sie haben den Staat aufgefordert, einen Kredit zu geben, den sie zurückbezahlen wollen. Sie haben sozusagen einen Sowjet, einen Arbeiterrat gegründet. Und dieser Rat leitet den Betrieb immer noch und sie verhandeln immer noch mit der Regierung, damit sie nicht auf die Straße gehen.
Vor ein paar Wochen, während des Fastenmonats Ramadan, hat Mubarak im Parlament einen Schwächeanfall erlitten und ist vor den laufenden Kameras umgefallen. Die Menschen in Ägypten haben sich gefreut, aber sie konnten diese Freude nicht offen zeigen. Der Staat hat sofort den Plan B aus der Schublade geholt und ganz Kairo mit der Polizei belagert. Mubarak ist natürlich wieder aufgewacht. Aber du merkst: Die Leute haben ihre Freude dann in Witzen darüber zum Ausdruck gebracht.Mit Kamal sprach Sebastian Zehetmair im Dezember 2003.

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