Rebellion im Wendland

Scharfe Kritik am Einsatz von Polizei und Bundesgrenzschutz beim Castor-Transport hat der Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft der Kritischen Polizisten, Thomas Wüppesahl, geübt. Es habe ständig Einzelattacken gegen Demonstranten gegeben, bei denen Polizisten ihren Aggressionen freien Lauf ließen. Wüppesahl war selbst Zeuge solcher Übergriffe. Vor allem, wenn keine Medienvertreter anwesend waren, sei es zu sinnloser Brutalität gekommen.


Die Konfrontation gegenüber friedlichen Demonstranten sei nicht nur von Einzelnen ausgegangen, sondern auch von der Einsatzleitung. Angesichts dessen sei die gewaltlose Disziplin der Eingekesselten beachtlich gewesen.

Vom 24. bis 29. März blockierten im Wendland entlang der Bahnstrecke zwischen Lüneburg und Gorleben tausende Atomkraftgegner den ersten Castor-Transport seit 1997. Hans Krause war für Linksruck vor Ort und schildert seine Eindrücke:


Schließlich erreichten die Castoren ihr Ziel. Dieser Satz lässt sich in der Nacht zum 29. März getrost hinschreiben, auch wenn die Behälter sich noch am Verladekran in Dannenberg befinden – etwa 20 Kilometer vom Atommülllager Gorleben entfernt.


Am Abend wurde die "Esso-Wiese" gegenüber einer Dannenberger Tankstelle von der Polizei "geräumt". Dort hatten sich die letzten Tage über Anti-Atom-Aktivisten versammelt. Ein Info-Wagen gab regelmäßig bekannt, wo sich der Castor-Zug gerade aufhält, und welche Blockade-Aktionen geplant und durchgeführt werden. In einem Zirkuszelt konnten sich die hungrigen KämpferInnen mit Essen versorgen. Eine alte Wendländerin brachte Wurstbrote vorbei, "zum Einpacken, für heute Nacht", wie sie betont.


Jetzt ist die Esso-Wiese menschenleer. Nur die wabernden Tränengasschwaden lassen erahnen, mit welcher Brutalität mehrere hundert Polizisten hier gerade sicherstellten, dass der Castor auch dieses Teilstück passieren kann. An einer Ecke stehen zwei Frauen heulend aneinandergelehnt. Sie müssen eine dicke Ladung Pfefferspray ins Gesicht bekommen haben. Woanders behandeln Sanitäter eine klaffende Platzwunde, die das ganze Gesicht des jungen Mannes rot färbt. Etwa 10 Polizeihubschrauber kreisen über dem Szenario.

Leider sind hier nicht viele Flüchtlinge zu sehen. Aber das soll nicht bedeuten, dass wir nicht solidarisch mit euch sind. Viele Flüchtlinge würden gerne hier sein, können es aber nicht, weil sie der Residenzpflicht unterliegen. Das heißt, sie dürfen ihren Landkreis nicht ohne Genehmigung verlassen.


Manche europäische Länder exportieren giftigen Atommüll nach Afrika, wo in unseren Heimatländern schreckliche Dikaturen militärisch, politisch und finanziell von europäischen Ländern unterstützt werden. Deshalb ist es auch unser Interesse, dass es einen Abschied von der Atomkraft gibt, nicht morgen, nicht übermorgen, sondern jetzt! Wir kämpfen nicht nur für euch sondern wir kämpfen alle gemeinsam für unser gemeinsames Ziel, bis alle Atomkraftwerke stillgelegt werden.


Deshalb werden wir immer wieder mit euch zusammen kämpfen. Gegen die Atomindustrie, gegen Residenzpflicht, gegen Abschiebungen, gegen Kapitalismus, gegen Imperialismus, gegen all diese menschenverachtende Politik.


Hoch die internationale Solidarität!


Sprecher der Flüchtlingsorganisation The Voice, bei der Auftaktdemonstration gegen Atomkraft am 24. März in Lüneburg


Wer sich erinnert, wie gleichmütig die Staatsmacht vor einigen Monaten die Blockade von Straßen und Autobahnen durch Fuhrunternehmer duldete, die keine Lust hatten, ihre Steuern zu bezahlen, der staunt, mit welchem Aufwand die Bundesrepublik Deutschland an diesem Montag im Wald bei Tollendorf ihre innere Sicherheit schützt.


Es geht um viel, dieser Tage im Wendland. Das wissen die Polizisten genauso wie die Bundesregierung, vor allem aber wissen das die Wendländer und tausende andere Aktivisten, die aus ganz Deutschland hergekommen sind, um das Symbol deutscher Konzernherrschaft aufzuhalten. "Für die Castor-Transporte gibt es nur einen einzigen Grund: Profitinteresse", sagt einer der 1.500, die am Dienstag mit x-tausendmal quer die Gleise besetzen. Tatsächlich gibt es keinen anderen Grund, warum man allein an diesem Tag, nur im Wendland, 16.000 Polizisten einsetzen sollte, um den Transport zu erzwingen. Die von Umweltminister Trittin beschworene "Verpflichtung Deutschlands, zur Rücknahme unseres Atommülls" aus Frankreich, hat sich als Verschleierungstaktik herausgestellt. Bereits am 10. April sind neue Castor-Transporte aus von den Atomkraftwerken Philippsburg, Biblis und Grafenrheinfeld in die Wiederaufarbeitungsanlage nach La Hague gefahren, um neues Plutonium zu gewinnen, für längere Kraftwerkslaufzeiten und mehr Atomprofite für E.ON, RWE oder EnBW.


Auch die Rot-Grüne Bundesregierung hat sich mit dem "Atomkonsens" ins Kreuzfeuer der Kritik manövriert. Da ist nicht nur der absolut folgenlose Ausstiegsbeschluss. Der "Konsensvertrag" sichert den Stromkonzernen eine Gesamtlaufzeit von 32 Jahren pro Kernkraftwerk zu. Länger könnten sie sowieso nicht betrieben werden, bevor sie schrottreif werden.


Und so drehen sich die Diskussionen an den Blechtonnen, in denen brennende Holzscheite ein wenig Wärme spenden, auch nicht nur über die tödliche Atomkraft, oder die beste Strategie für die nächste Blockadeaktion. Viele lehnen nicht nur Atomkraft sondern die Konzernherrschaft insgesamt ab. Die jungen Aktivisten haben fast alle von den antikapitalistischen Protesten in Seattle gehört, manche wollen bei der Blockade des G8-Gipfels in Genua im Juli mit dabei sein.

Unfall bei rot-grünem Castortransport

Bei der Einlagerung der vor gut einer Woche aus La Hague angelieferten Castoren ereignete sich ein Unfall. Aus dem unteren Teil eines der mit hochradioaktivem Atommüll beladenen Behälter ist beim Aufstellen auf den Boden heiße Luft entwichen. Nach diesem Zwischenfall demonstrierten in Gorleben und Philippsburg rund 900 deutsche und französische Atomkraftgegner. In Gorleben blockierten rund 30 Landwirte mit ihren Traktoren die Straße zum Zwischenlager. Andere Demonstranten protestierten mit Trillerpfeifen und Trommeln und schichteten Sandsäcke auf die Fahrbahn. Gegen drei Atommüllbehälter, die am Dienstag rollen sollen, haben die Aktivisten Sitzblockaden angekündigt Trotz der heftigen Proteste hat die Stromwirtschaft beim Bundesamt für Strahlenschutz bereits den Antrag für einen weiteren Transport in diesem Jahr gestellt.

Auch über eine andere Gesellschaft wird bei den "ständigen Versammlungsorten" der Aktivisten geredet. Über den Kapitalismus, die Möglichkeiten ihn abzuschaffen, ob es eine internationale Bewegung geben kann, die Schwächen des utopischen Sozialismus und vieles andere. "Vergiss das mit dem Kampf Männer gegen Frauen. Schuld an der Frauenunterdrückung ist vor allem der Kapitalismus", hört man einen Aktivisten aus Jena bei einer Diskussion über Feminismus sagen. Er ist mit ungefähr zehn anderen AntikapitalistInnen angereist. Zu Hause hatten sie selbst für die Castor-Blockade mobilisiert, Flugblätter vor Schulen verteilt und Straßentheater gegen den Castor aufgeführt. Wie gesagt, es geht um viel im Wendland.


Seit die Kraftwerksbetreiber und ihre rot-grünen "Widersacher" sich geeinigt haben, ist direkter Widerstand die einzige Alternative. So stellen die Aktivisten auch einiges auf die Beine: Blockade- und Sabotageaktionen zum Beispiel, mit denen sie in dieser Woche Schlagzeilen machten, aber da sind auch die 381 Trecker beim Protestumzug, die Kinder- und Schülerdemonstrationen, zahllose Mahnwachen bis hin zum Eintopf in Laase für Demonstranten, den eine Einheimische in der Lokalzeitung ankündigte.


Dabei kann die kleine Szene bei Tollendorf als beispielhaft gelten für die Castor-Blockaden: Eine relativ kleine Schar von Demonstranten hält eine Armee von Polizisten in Atem, unterstützt von Wasserwerfern und Räumpanzern, deren Schaufeln mit Stacheldraht umwickelt sind. 111 Millionen Mark wird dieser Einsatz nach bisherigen Schätzungen kosten. Und nichts spricht dafür, dass die nächste Großmobilisierung billiger wird.



Wer sich von all dem nicht überzeugen lässt, der sollte die Dorfjugend kennen lernen. Die Sporthalle der Gesamtschule Dannenberg ist von den Schülern besetzt worden, damit Aktivisten dort schlafen können. Die Polizei hatte alle Widerstandscamps verboten.


Der eine ist sechzehn und geht in die neunte Klasse; er humpelt ein wenig über den Marktplatz weil er gerade den ersten Knüppeleinsatz seines Lebens erlebt hat. Der andere ist achtzehn, ein Veteran der Bewegung: Er hat schon vor vier Jahren bei einer Sitzblockade die ersten Prügel bezogen.


Sie erzählen von Stahlträgern und Werkzeug an geheimen Verstecken in den Wäldern um die Transportstrecke. Und vom Höhepunkt des Abends: Wie man die Polizei zu einer "Ablenkungsblockade" von der Castor-Strecke fortgelockt und sich dann auf 60 Metern mit Schweißbrennern und Sägen an den Schienen vergangen habe. "Einfach nur Widerstand", sagt einer von ihnen.


Die Castoren haben ihr Ziel erreicht. Aber die beiden Jugendlichen werden auch nächstes Mal wieder dabei sein – oder vielleicht auch bei anderen Bewegungen gegen Umweltzerstörung, für ihre Arbeitsplätze, oder wo auch immer Protest gegen die Macht des großen Geldes aufkommt. Einfach nur Widerstand eben.

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