Argentinien nach der Revolte: Ruhe vor dem Sturm?

Nach der Protestwelle Anfang des Jahres scheint etwas Ruhe in Argentinien eingekehrt zu sein. Aber die Krise ist noch da und eine Lösung nicht in Sicht. Chris Harman, Chefredakteur der britischen Zeitung Socialist Worker, berichtet von seinem Aufenthalt in Argentinien.

Wie weiter?

Die revolutionäre Linke muss den Streit mit denjenigen gewinnen, die an Reformen glauben. Die 8-10.000 Menschen, die jede Woche zu den Versammlungen in Buenos Aires gehen und die 100.000, die sie auf die Straße bringen können, können nicht allein eine revolutionäre Veränderung erreichen. Sie müssen Millionen auf ihre Seite ziehen.


Aber die revolutionäre Linke ist durch ihre eigenen Spaltungen schwer beschädigt. Es gibt vier wichtige revolutionäre Organisationen und eine Menge weiterer. Es gab Fälle von Schlägereien unter linken Gruppen auf Demonstrationen.


Die Idee, Kampagnen um einzelne Forderungen zu schmieden und dann die Unterstützer über die Frage, wie die Forderungen durchzusetzen sind, von revolutionärer Politik zu überzeugen, ist wenig verbreitet. Den meisten der revolutionären Gruppen mangelt es an Verständnis dafür, wie sie auf die Argumente derjenigen eingehen können, die von den Reformhoffnungen beeinflusst sind.


Die revolutionäre Linke in Argentinien muss ihrer Verantwortung gerecht werden. Sozialisten müssen daran arbeiten, die massiven Kräfte zu vereinigen, die sich nach links bewegen.


Auf diese weise kann die Linke die Wurzeln der Bewegung vertiefen und in der Praxis zeigen, dass revolutionäre Veränderung von unten eine echte Alternative zu Verelendung, Hoffnungslosigkeit und den Alpträumen der Rechten darstellt.


Vor 4 Monaten stürzte ein Volksaufstand den argentinischen Präsidenten De La Rua. Sein Nachfolger wurde eine Woche später aus dem Amt gedrängt. Seitdem wird das Land von einer Koalition der zwei traditionell stärksten Parteien regiert – den Peronisten und der konservativen, so genannten „Radikalen“ Partei.


Die Koalition unter dem Peronisten Duhalde hat keine Stabilität gebracht. Argentinien erlebt eine Wirtschaftskrise, wie sie seit den 30ern kein Industrieland mehr durchgemacht hat.

Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit bei 22 Prozent – Tendenz steigend. Jedes sechste Geschäft an den Hauptstraßen hat ein Schild mit der Aufschrift "Geschäftsaufgabe" im Fenster.


Während des letzten Jahres rutschten täglich 2.400 Menschen unter die Armutsgrenze ab. Dazu kamen täglich 1.200, die in die absolute Armut abglitten. Die Preise dagegen sind allein in den letzten zwei Monaten um 30 Prozent gestiegen.


Rund 400.000 ehemals privat Krankenversicherte Menschen drängten in das öffentlichen Gesundheitssystem, das am Rand des Zusammenbruchs steht. 20 Prozent der Bevölkerung haben Geld auf der Bank, das die Regierung sie nicht abheben lässt.


Die Regierung hofft auf ein Geschäft mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), um die Wirtschaftskrise abzumildern und etwas Stabilität zu gewährleisten. Zudem ließ sie den Besserverdienenden den Zugang zu ihren Bankkonten, um deren Unterstützung zu behalten. Indem sie Geld für das soziale Netz bereitstellt, versucht die Regierung Duhalde auch, es den zwei großen korrupten Gewerkschaftsverbänden leichter zu machen, sie weiterhin zu unterstützen.


Aber der IWF wird dieses Geschäft nicht mitmachen. Er verlangt, dass Duhalde die Ausgaben weiter kürzt, indem er 400.000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst vernichtet. Die Regierung fürchtet, dass diese Maßnahme die beiden Parteien ihren letzten Rückhalt kosten wird. Mehr Kürzungen könnten die Gewerkschaften zum Widerstand zwingen und eine Plünderungswelle verursachen wie die, die den Protesten im letzten Dezember vorausging.


Die Regierung ist unbeliebt. Einer Umfrage zufolge unterstützen nur 30 Prozent der Bevölkerung die einstmals mächtige Peronistische Partei.


Im Gegensatz dazu zeigte eine andere Umfrage, dass fast die Hälfte der Bevölkerung von Buenos Aires und Umland die Volksversammlungen als einen Ausweg ansehen. Die Versammlungen entstanden überall in der Stadt durch Aktivisten, die an den großen Demonstrationen im Dezember und Januar beteiligt waren. Sie sind mit der Piquetero-Bewegung der vielen Arbeitslosen verbunden.


Sie treffen sich in 80 bis 100 Vierteln. Jede Woche kommen 50 bis 100 Leute zusammen, um darüber zu diskutieren, wie es weitergehen kann.


Sie versuchen, die Probleme anzugehen, die die Bevölkerung bedrängen – Arbeitslosigkeit, Hunger, der nahe Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung und steigende Preise.


In einem Viertel organisierten sich auf einer Volksversammlung Facharbeiter: Sie schließen Häuser und Wohnungen wieder an das Netz an, wenn ihnen wegen der unbezahlten Rechnungen die Strom-, Gas- oder Wasserversorgung gekappt wurde.


Die Versammlungen sind keine Delegiertentreffen, die die 15 Millionen Menschen in der Region Buenos Aires vertreten. Aber wöchentliche Treffen fassen die Versammlungen der Stadt zusammen und eine landesweite Versammlung fand vor einem Monat statt.


Öffentliche Demonstrationen sind heute kleiner und finden seltener statt. Die Menschen merkten, dass sie so nicht viel erreichen werden. Es gab Gerüchte, dass rechte Gruppen die Gelegenheit zum Putsch ergreifen könnten. Die offizielle Zeitung der Streitkräfte behauptete, dass eine Militärdiktatur die "Ordnung wiederherstellen" und die Krise beenden könnte.


Aber die bleibende Kraft der Massenbewegung zeigte sich am 24. März auf einer großen Demonstration von mindestens 120.000 Menschen. Sie erinnerte an den 26. Jahrestag des Militärputsches von 1976 und den folgenden Terror.


Die Versammlungen geben dem Kern den Bewegung von Dezember und Januar die Möglichkeit, sich unabhängig von den alten politischen Strukturen zu organisieren. Das ist wichtig in Argentinien, wo der Peronismus die linken Kräfte an den Rand gedrückt hatte.


Lose Gruppen diskutieren, was getan werden kann und wie die Gesellschaft verändert werden kann. Die Linke wächst. Linke Aktivisten spielen in allen Bewegungen Schlüsselrollen.


Die Versammlungen fordern wie selbstverständlich, die Banken zu verstaatlichen. Jeder akzeptiert Forderungen nach der Wiederverstaatlichung der privatisierten Industrie und nach Aussetzung der Auslandsschulden als unrechtmäßiges Erbe der Militärherrschaft.


Aber die Linke selber ist gespalten zwischen denen, die glauben, eine Veränderung durch Reformen sei möglich und jenen, die glauben, eine Revolution sei nötig. Während einige glauben, auf die gegenwärtige Regierung Druck ausüben zu können, meinen andere, sie sei unrechtmäßig und müsse gestürzt werden. Es gibt auch bedeutsame politische Gruppen, deren Hauptziel es ist, den Stimmenanteil für die Linke bei den Wahlen im nächsten Jahr zu vergrößern.


Aber die Arbeiter brauchen jetzt Widerstand gegen die Regierung und die Maßnahmen des IWF – nicht in einem Jahr. Die Armut steigt täglich und mit ihr die Hoffnungslosigkeit. Sie kann den Rechten und dem Militär die Gelegenheit geben, die sie suchen.


Die Bedrohung steigt durch das Verhalten der Gewerkschaftsbürokratie. Die Führer von zwei Verbänden, die mit der Peronistischen Partei verbunden sind, unterstützen die Regierung. Die Gewerkschaften haben bisher erfolgreich Arbeiter davon abgehalten, als organisierte Kraft in der Bewegung eine Rolle zu spielen, obwohl tausende Arbeiter und einige lokale Gewerkschaftsgliederungen sich beteiligt haben.


Die Regierung hofft verzweifelt, nicht die Kraft der Arbeiterklasse herausfordern zu müssen. In den letzten sechs Jahren gab es sechs Generalstreiks gegen die Abkommen der Regierung mit dem IWF, die die Menschen in die Armut stürzten.


Im Moment herrscht unter den meisten Menschen in Argentinien das Gefühl, in einer Flaute zwischen zwei Orkanen zu leben. Sie nehmen an, dass der nächste größer und gewaltiger sein wird als der letzte.


Millionen von Menschen sind gefangen zwischen Begeisterung über das, was sie im Dezember erreicht haben und tiefen Sorgen über die sich verschlimmernde Wirtschaftskrise.

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