Die Vision einer anderen Welt

Der Aktivist und Autor Jonathan Neale sprach im November beim Europäischen Sozialforum in Florenz über die Frage: Wie würde eine sozialistische Gesellschaft aussehen?
"Auf unseren Demonstrationen rufen wir: Eine andere Welt ist möglich. Aber was heißt das? Auf einer antikapitalistischen Demonstration letztes Jahr in London trugen einige Leute ein Transparent mit der Aufschrift: Schafft den Kapitalismus ab und ersetzt ihn mit etwas Netterem.

Ungefähr diese Meinung haben Millionen Menschen in einer weltweiten Bewegung. Wir wissen, wogegen wir sind, aber es gibt eine große Debatte darüber, wofür wir sind. Hier ist meine Ansicht, wie eine andere Welt aussehen würde.

Als erstes: Sie hätte nichts zu tun mit den Diktaturen in der Sowjetunion, in China, Vietnam oder Kuba. Unsere Alternative ist nicht ein Polizeistaat. Aber sie wäre auch nicht wie die parlamentarischen Demokratien in Italien, Deutschland oder Indien.

Ich bin nicht gegen Wahlen. Doch ein Teil des Problems ist, dass wir nur alle vier bis fünf Jahre wählen können und egal wen wir wählen, sie machen niemals das, was sie im Wahlkampf versprechen.

Das grundlegende Problem ist jedoch, dass wir zwar demokratische Parlamente haben, aber unsere tägliche Arbeit einer Diktatur unterworfen ist.

Von dem Moment an, wo wir die Stechuhr ablochen bis zum Schichtende machen wir, was uns befohlen wird. "Wenn du das nicht machst, Jonathan”, sagen sie, "dann kannst du gleich gehen."

Wir verbringen den größten Teil unseres Lebens damit, uns auf die Arbeit vorzubereiten, zu arbeiten, nach Hause zu fahren und uns dann auf die Couch zu verkrümeln, um uns zu erholen. Also bedeutet die Diktatur der Arbeit, dass die grundlegende Erfahrung unseres Lebens eine undemokratische ist. Und zudem geben die Konzerne und Arbeitgeber auch in der Politik den Ton an.



Es fängt an, lange bevor wir alt genug sind zum Arbeiten. Die Schulen und Universitäten sind ebenso Diktaturen, die uns disziplinieren und auf die Arbeitswelt vorbereiten. Deshalb würden wir eine ganz neue Ära einleiten, wenn wir Demokratie bei der Arbeit erreichen würden. Wir würden die Manager aus unseren eigenen Reihen wählen und sie jederzeit, wenn wir wollen, absetzen.

Normale Leute können deren Aufgaben erfüllen. Wir sorgen auch jetzt schon dafür, dass die Züge fahren, Krankenhäuser funktionieren, oder wir entwerfen Gebäude. Alle möglichen Leute können in Verwaltungsaufgaben hineinwachsen, und wir würden weniger Manager brauchen, wenn die Menschen ihre Arbeit freiwillig machen würden. Aber das allein würde nicht genügen. Denn es gibt immer noch den Weltmarkt.

Ich habe zehn Jahre bei einer Abtreibungsklinik gearbeitet. Wir waren eine Kooperative. Wir teilten unsere Stellen. Wir erhielten alle den gleichen Lohn. Aber wir mussten mit anderen Kliniken auf dem Markt konkurrieren, und zum Schluss hatten wir ein Management, das alle Gewerkschaftsmitglieder hinauswarf. Dasselbe ist schon ganzen Ländern passiert, die versuchten, eine Demokratie inmitten des Weltmarktes aufrecht zu erhalten.

Also müssten die Arbeiter in jeder Firma oder Regierungsabteilung die ganze Branche übernehmen. Dann könnten wir Vertreter in jedem Betrieb wählen. Das wären Menschen wie wir, Putzkräfte und Klempner und Lehrer, nicht Anwälte und Politiker, die von außen eingeflogen kommen. Sie würden Seite an Seite mit uns arbeiten, und sie wären Leute, die wir kennen würden und einschätzen könnten.

Die Vertreter aller Betriebe könnten sich einmal wöchentlich in jeder Stadt treffen, um darüber zu entscheiden, was mit der Wirtschaft gemacht werden sollte. In den meisten Städten wäre der einzige Ort, der groß genug wäre, um ihnen allen Platz zu bieten, ein Fußballstadion. Dann könnten sie Vertreter für eine nationale Versammlung wählen, und dort würden Repräsentanten für internationale Treffen gewählt.

Dieses ganze System würde auf wöchentlichen Treffen beruhen, die in jedem Betrieb abgehalten würden. Jede Woche könnten wir Sprecher auf jeder Ebene abwählen. Natürlich arbeiten nicht alle Menschen. Rentner könnten ihre Vertreter in Vereinen wählen und Kinder ihre in der Schule.

All diese Treffen würden Entscheidungen darüber fällen, was wir mit unserer Arbeit tun. Im Kapitalismus muss jedes Unternehmen konkurrieren. Alles dreht sich um Profite. In unserer neuen Welt könnten wir unsere Entscheidungen davon abhängig machen, was wir brauchen und nicht von Profit. Es würde große Debatten auf diesen Treffen geben.

Einige Menschen würden dafür sein, sehr viel mehr Arbeit für die Pflege älterer Menschen zu verwenden. Andere würden mehr Zeit für Kunst fordern. Einige würden nur noch vier Tage in der Woche arbeiten wollen und den Montag gleich ganz abschaffen. Andere würden hart arbeiten wollen, um die armen Länder der Welt auf das Niveau der reichen Länder zu bringen. Und wieder andere wären dafür, all unsere Energie in den Erhalt der Umwelt zu stecken.

All das würden wir im Konsens regeln, wenn wir können, oder in Abstimmungen, wenn das nötig sein sollte. Es wird Kompromisse geben, Übereinstimmungen und Meinungsverschiedenheiten. Manche unserer Entscheidungen werden sich als falsch herausstellen. Das Entscheidende ist aber, dass sie wirklich demokratisch sein werden. Eines der großartigen und überraschenden Dinge an unserer Bewegung ist, dass wir alle darin übereinstimmen, dass Demokratie wichtig ist.

Ich weiß natürlich nicht, was diese Treffen entscheiden werden. Ich glaube, wir sind für Gerechtigkeit und für gleichen Lohn für alle. Ich glaube, wir werden unsere Arbeitsstellen teilen wollen, damit jeder für einen Teil des Jahres einen wirklich guten Job macht und jeder einmal dran ist mit den langweiligen, schweren oder anstrengenden Tätigkeiten.

Ich habe in sechs Ländern auf vier Kontinenten gelebt und gearbeitet. Aus meinen Gesprächen mit arbeitenden Menschen in all diesen Ländern ist klar geworden, dass sie sich alle wünschen, ohne Angst zu leben.

Gegenwärtig verbringen wir unser ganzes Leben in Angst – Angst davor, von einem Lehrer gedemütigt zu werden. Angst davor, dumm auszusehen. Angst vor der Gasrechnung. Angst davor, unseren alten Vater nicht in ein anständiges Krankenhaus bringen zu können. Angst davor, den Job zu verlieren und unserem Mann oder unserer Frau und unseren Kindern sagen zu müssen, dass wir kein Geld mehr nach Hause bringen können und uns schämen.

Man mag seinen Job nur ein oder zwei Mal im Leben verlieren, aber die Angst davor ist immer da. In einer anderen Welt würden wir sicherstellen, dass es diese Ängste nicht mehr gäbe und dass alle in Sicherheit leben könnten.



Es wäre keine perfekte Welt. Menschen würden immer noch sterben oder sich ungeliebt fühlen. Es würde weiterhin Probleme geben. Aber es wäre eine weit, weit bessere Welt. Und mit der Zeit würden die Menschen anders fühlen und handeln.

Zwei Dinge werden uns helfen. Erstens könnten die Menschen, die wir jetzt sind, diese neue Welt nicht erschaffen. Aber indem wir für sie kämpfen und gewinnen, würden wir andere Menschen werden, und zwar nicht nur wir hier in diesem Raum, sondern die Mehrheit der Menschen auf der Welt.

Überlegt euch, wie sehr ihr euch dadurch verändert habt, dass ihr hier in Florenz seid, wie viel Hoffnung und Zuversicht ihr gewonnen habt, indem ihr an dieser einen Erfahrung, dem Europäischen Sozialforum, teilgenommen habt. Dann stellt euch diese Veränderung in größeren Kämpfen tausendfach multipliziert vor und ihr bekommt eine ungefähre Vorstellung davon, wie sehr wir uns verändern können.

Aber es wird auch eine neue Generation zur Welt kommen, die in einer neuen Welt aufwachsen wird. Wir sind alle im Kapitalismus groß geworden. Wir tragen alle die Wunden von viel Leid und Trauer und dem Gefühl, klein und hilflos zu sein. Ich rauche. Ich bin übergewichtig. Und wir alle tragen dieses Leid in unserem Körper, in unseren Knochen und Gliedern, in der Art, wie wir stehen und uns bewegen.

Betrachtet ein Baby und wie es die Welt mit seinen großen Augen begierig und voller Begeisterung aufsaugt. Nicht alle Babies, nicht jene, die nicht genug zu essen haben.

Aber die anderen. Und dann seht euch die Erwachsenen an. Wir könnten eine Welt schaffen, in der diese Begeisterung bis ins Erwachsenenalter dauert. Und diese Menschen, die in einer neuen Welt groß würden, könnten wieder eine bessere Welt hervorbringen.

Ich weiß nicht, ob wir das in Familien tun werden oder nicht. Es könnte sich herausstellen, dass alle eine Standardfamilie wollen mit 2,4 Kindern und einer geschnittenen Hecke. Vielleicht wird die Hälfte der Bevölkerung schwul oder lesbisch sein. Und vielleicht wollen alle Schwulen und Lesben 2,4 Kinder und Hecken schneiden. Ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß, dass wir in der Lage wären, diese Entscheidungen wirklich selbst zu fällen und uns dafür zu entscheiden, was wir wirklich wollen.

Es wird nicht leicht sein, diese neue Welt zu schaffen. Wir stehen erst am Anfang der antikapitalistischen Bewegung. Vor uns liegt ein schwerer Weg mit vielen Höhen und Tiefen. Wir werden Siege erleben, die wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können, und bittere Niederlagen erleiden. Und dabei werden wir immer mehr werden und uns grundlegend verändern.

Niemand kann behaupten, dass wir sicher eine neue Welt erreichen werden. Unsere Parole lautet: Eine andere Welt ist möglich. Nicht: Eine andere Welt ist sicher. Aber ich weiß folgendes: Ich bin 54 Jahre alt und bin in meinem ganzen Erwachsenenleben Sozialist gewesen. Bis vor einem Jahr dachte ich nicht, dass ich eine andere Welt noch erleben würde. Seit der großen Demonstration in Genua letztes Jahr weiß ich, dass das möglich ist.”

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