Warum wir eine marxistische Theorie brauchen

"Wozu brauchen wir
eine Theorie? Wir wissen, daß es eine Krise gibt, daß uns
unser Boß ausnimmt und alle sauer darüber sind. Wir
wissen, daß wir den Sozialismus brauchen. Alles andere ist
Sache der Intellektuellen."

Solche Worte hört man
oft von kämpferischen Sozialisten und Gewerkschaftern. Diese
Ansichten werden auch gezielt von den Gegnern des Sozialismus
unterstützt, um den Eindruck zu erwecken, der Marxismus sei eine
schwer verständliche, komplizierte und langweilige Lehre.

Sie sagen, sozialistische
Ideen seien "abstrakt". In der Theorie mögen sie ganz
gut aussehen, aber im wirklichen Leben kämen wir besser ohne sie
aus.

Was uns am meisten an
diesen Argumenten stört, ist, daß die Leute, die sie
vertreten, sehr wohl eine eigene Theorie haben, auch wenn sie das
nicht so nennen. Stelle ihnen ein paar Fragen über die
Gesellschaft, und sie antworten Dir mit Sätzen wie diesen:

"Die Menschen sind
eben egoistisch."

"Jeder kann nach oben
kommen, wenn er nur hart genug arbeitet."

"Gäbe es die
Unternehmer nicht, dann hätten wir keine Arbeit."

"Wenn wir die Arbeiter
erziehen könnten, würde die Gesellschaft ganz anders
aussehen."

"Der moralische
Verfall hat die Gesellschaft so weit heruntergebracht. "

Man hört solche
Argumente auf der Straße, im Bus oder in der Kantine. Jeder hat
seine eigene Ansicht darüber, warum die Gesellschaft so ist, wie
sie ist, und wie die Menschen ihr Leben verbessern können.

Solche Ansichten sind
"Theorien" über die Gesellschaft.

Wenn Leute sagen, sie
hätten keine Theorie, dann sagen sie in Wirklichkeit, daß
sie unklare Vorstellungen haben.

Das ist besonders
gefährlich für jeden, der die Gesellschaft verändern
will.

Zeitungen, Radio und
Fernsehen füllen ununterbrochen unsere Köpfe mit
Erklärungen für das Chaos in dieser Gesellschaft. Sie
hoffen, daß wir ihnen glauben und nicht weiter über die
Gründe nachdenken.

Aber man kann nicht für
eine bessere Gesellschaft kämpfen, ohne sich klarzumachen, was
an all diesen Argumenten falsch ist.

Vor 130 Jahren begann Karl
Marx mit seiner Kritik. Selten haben die Ideen eines Menschen so
großen Einfluß auf die Geschichte gehabt wie gerade die
von Karl Marx. Obwohl er inzwischen schon über 100 Jahre tot ist
– er starb 1883 – beeinflussen seine Schriften immer noch das Handeln
zahlreicher Menschen in allen Erdteilen. Zusammen mit seinem engsten
Lebens- und Kampfgenossen Friedrich Engels ist Marx der Begründer
des wissenschaftlichen Sozialismus.

Er wußte, daß
eine Veränderung der Gesellschaft nicht ohne ein gewissenhaftes,
sorgfältiges Studium der Geschichte und der Gegenwart möglich
ist. Er untersuchte die Gesetze des Kapitalismus, um ihn besser
bekämpfen zu können. Anders als viele Sozialisten seiner
Zeit begnügte er sich nicht damit, ein besseres, "alternatives"
Weltbild zu entwerfen und die Menschen zu diesem zu bekehren. Es gab
viele Menschen zu seiner Zeit, die revolutionäre Ideen hatten,
die so mutig und entschlossen waren wie er.

Aber es gab keinen, der den
Feind der Arbeiterklasse so gründlich studierte, der die Theorie
der Revolution so weitblickend zu einer Waffe im Klassenkampf gemacht
hat wie gerade Marx.

Wenn wir Marxismus als
Lehre vom wissenschaftlichen Sozialismus bezeichnen, dann vor allem
deshalb, weil Marx den Sturz des Kapitalismus wissenschaftlich
plante. Bürgerliche Geschichtsschreiber und Politiker seiner
Zeit sahen in ihm den großen Rädelsführer, der mit
seinen Ideen vom Klassenkampf das Volk aufhetzte und aufwiegelte.

Aber eine sozialistische
Bewegung hatte es schon lange vor Marx gegeben. Im Grunde fast
solange, wie Menschen von anderen Menschen unterdrückt und
ausgebeutet werden.

Als Marx noch ein
Jugendlicher war, gab es in den damals am weitesten entwickelten
Industrieländern England und Frankreich bereits eine große
Arbeiterbewegung. Die Entwicklung der Industrie in Gegenden wie
Nordwest-England zwang Hunderttausende von Männern, Frauen und
Kindern, für einen erbärmlichen Lohn zu arbeiten. Sie
mußten unter den elendsten und schmutzigsten Bedingungen leben.

Gerade in diesen ersten
großen Industriezentren der Welt entstanden auch die ersten
großen Massenorganisationen – Gewerkschaften und politische
Parteien -, mit deren Hilfe sich die Arbeiter zur Wehr setzten. Und
diese Bewegung brachte auch die ersten Gruppen kämpferischer
Sozialisten hervor.

Ganz im Unterschied zu den
auch heute noch so beliebten "Rädelsführer"-Theorien
sehen wir, daß die sozialistische Bewegung nicht den
Klassenkampf "erfand", sondern daß zuerst der
Klassenkampf der Unterdrückten da war und erst dadurch eine
breite sozialistische Bewegung entstehen konnte. (Aus dem gleichen
Grund ist es falsch, Karl Marx etwa als Erfinder des Klassenkampfes
hinzustellen.)

Mit der Entstehung einer
sozialistischen Arbeiterbewegung entbrannte unter den Sozialisten
auch sofort der Streit um die Frage, wie denn die Arbeiterbewegung
ihre Ziele erreichen könne.

Einige meinten, es wäre
möglich, die Machthaber von einer friedlichen Veränderung
der Gesellschaft zu überzeugen. Die moralische Stärke einer
massenhaften friedlichen Bewegung sollte dafür sorgen, daß
die Lage der Arbeiter sich bessere. Hunderttausende von Menschen
demonstrierten und organisierten sich in den 30er und 40er Jahren des
vorigen Jahrhunderts in England auf der Grundlage solcher
Vorstellungen. Am Ende zogen sie sich geschlagen und enttäuscht
zurück.

Andere erkannten die
Notwendigkeit für physische Gewalt im Kampf gegen die
Herrschenden. Aber sie glaubten, daß kleine konspirative
Gruppen – getrennt vom Rest der Gesellschaft – die richtige
Organisationsform wären. Auch mit solchen Vorstellungen zogen
Zehntausende Arbeiter in Kämpfe, die ebenfalls in Niederlagen
und Enttäuschungen endeten. (Beide gehörten zur
"Chartistenbewegung".)

Wieder andere glaubten, daß
die Arbeiter ihre Ziele am ehesten durch wirtschaftliche Aktionen wie
Streiks ohne Konfrontation mit der Polizei und der Armee erreichen
würden. Auch ihre Ideen führten zu Massenaktionen. Im Jahr
1842 fand in England der erste Generalstreik der Welt in den
Industriegegenden Nordenglands statt. Zehntausende von Arbeitern
hielten vier Wochen lang durch, bis Hunger sie wieder zur Arbeit
zwang.

Ähnliche, wenn auch
nicht so große und entwickelte Bewegungen gab es etwa zur
gleichen Zeit in den Industriezentren Frankreichs, wie die Aufstände
der Textilarbeiter von Lyon 1831 und 1834.

Marx konnte auf die
Erfahrungen einer ganzen Kette gescheiterter Arbeiterkämpfe
zurückblicken, als er 1848 seine Ideen im "Kommunistischen
Manifest" zum ersten Mal niederschrieb. Er versuchte, eine
Grundlage für all die Fragen zu schaffen, die die erste große
Welle von Arbeiterbewegungen aufgeworfen hatte.

Diese Ideen sind nach wie
vor wichtig. Es ist albern, zu behaupten, Marx‘ Theorien seien
veraltet, weil er sie vor über 130 Jahren niedergeschrieben hat.
Tatsächlich sind die Vorstellungen über die Gesellschaft,
mit denen Marx sich auseinandersetzte, immer noch weit verbreitet. So
wie die erste Arbeiterbewegung der "Chartisten" in England
sich über die Frage "moralischer Stärke" oder
"physischer Gewalt" auseinandersetzte und spaltete, so
diskutieren heute Sozialisten über den
parlamentarisch-friedlichen" oder den "revolutionär-gewaltsamen"
Weg zum Sozialismus. Unter Revolutionären wird immer noch über
den "Terrorismus" gestritten – wie 1848.

Der Idealismus

Marx war nicht der erste,
der den Versuch unternahm, die Ursachen menschlichen Elends zu
beschreiben. Als er mit seiner Arbeit begann, entstanden überall
neue Fabriken und neue Erfindungen brachten einen bis dahin
ungekannten Reichtum hervor. Zum ersten Mal in der Geschichte der
Menschheit war es nun möglich, daß sich der Mensch mit
Hilfe des technischen Fortschritts von der Übermacht natürlicher
Katastrophen befreite.

Aber die neu geschaffenen
Reichtümer kamen keineswegs der Mehrheit der Menschen zugute. Im
Gegenteil: die Männer, Frauen und Kinder, die in den neuen
Fabriken arbeiteten, führten im Vergleich zu ihren Großeltern,
die noch das Land bestellt hatten, ein miserables Leben. Ihre Löhne
reichten knapp für das nötige Brot. Periodische
Massenarbeitslosigkeit drückte sie immer wieder unter dieses
Lebensminimum. Sie waren zusammengepfercht in schmutzigen Slums, in
denen schlimmste Seuchen ausbrachen.

Die Entwicklung der
Zivilisation hatte, statt Wohlstand und Glück nur neues Elend
gebracht.

Nicht nur Marx sah diese
Widersprüche – sie beschäftigten große Denker wie die
englischen Dichter Blake und Shelly, die Franzosen Fourier und
Proudhon, die deutschen Philosophen Hegel und Feuerbach.

Hegel und Feuerbach nannten
diese elende Lage der Menschheit Entfremdung.

Unter Entfremdung
verstanden Hegel und Feuerbach, daß Männer und Frauen sich
unterdrückt und beherrscht sahen durch alles, was sie selbst in
der Vergangenheit getan hatten. Feuerbach wies darauf hin, daß
die Menschen selber die Idee Gottes erfunden und entwickelt hatten,
um sich dann dieser Idee zu unterwerfen, sich vor ihr zu verbeugen,
sich klein und unwürdig zu empfinden, wenn sie es nicht
schafften, so gut zu sein, wie ein Gott es von ihnen verlangte.

Je weiter die Gesellschaft
voranschritt, desto elendiger, "entfremdeter" wurden die
Menschen.

In seinen frühen
Schriften griff Marx diese Idee von der "Entfremdung" auf
und verwandte sie für das Leben derer, die den
gesellschaftlichen Reichtum schaffen: »Der Arbeiter wird
ärmer, je mehr Reichtum er schafft, je weiter die Produktion
sich ausdehnt. … Mit dem wachsenden Wert einer Welt von Dingen
entwickelt sich die Entwertung der Welt der Menschen. … Die Dinge,
die die Arbeiter herstellen, begegnen ihnen wieder auf dem Markt
(d.h. Kaufhäuser, Geschäfte usw.) als fremde, unabhängige
Macht über sie.«

Zu Marx‘ Zeiten war die
populärste und verbreitetste Erklärung für das
menschliche Elend noch immer religiöser Art. Das Elend der
Gesellschaft, wurde gesagt, gebe es nur, weil die Menschen es nicht
schafften, so zu leben, wie Gott es von ihnen verlange. Sie bräuchten
nur die "Sünde" zu überwinden, dann werde auch
die Gesellschaft besser.

Eine ähnliche –
scheinbar nicht-religiöse – Ansicht kann man auch heute oft
hören: die Behauptung, daß wir zunächst uns selbst
ändern müßten, um die Gesellschaft verändern zu
können. Wenn die Menschen ihr "egoistisches" oder
"materialistisches" Denken aufgäben, würde
automatisch alles besser.

Eine damit eng verbundene
Lehre setzte es sich zum Ziel, nicht alle Menschen, sondern die
wichtigsten zu verändern, diejenigen, die die Macht haben.

Einer der ersten britischen
Sozialisten, Robert Owen, versuchte, die Industriebesitzer zu
bekehren, besser und freundlicher zu ihren Arbeitern zu sein. Diese
Idee finden wir auch heute noch in der Sozialdemokratie, zum
Beispiel, wenn sie die Unternehmer dazu aufruft, sich mit
Preiserhöhungen zu mäßigen.

Und sehr viele
Gewerkschafter führen die Schließung von ganzen Fabriken
mit entsprechenden Massenentlassungen auf "Fehler" der
verantwortlichen Unternehmer oder Manager zurück – als ob eine
Belehrung oder Diskussion die Großkonzerne davon überzeugen
könnte, ihren eisernen Griff über die Gesellschaft zu
lockern.

Marx nannte solche
Anschauungen idealistisch. Nicht weil er dagegen war, daß
Menschen Ideen haben, sondern weil er eine Denkart kritisieren
wollte, die davon ausgeht, Ideen entstünden unabhängig und
isoliert von der Art, wie die Menschen leben.

Die Ideen der Menschen sind
eng verbunden mit ihrem Leben.

Nehmen wir zum Beispiel den
"Egoismus". Der heutige Kapitalismus schafft den Egoismus –
selbst bei solchen Menschen, die die Nächstenliebe ganz groß
schreiben.

Ein Arbeiter, der für
seine Kinder das Beste will, merkt sehr schnell, daß er ständig
gegen andere kämpfen muß: um einen besseren Job zu
bekommen, Überstunden machen zu können, der erste in der
Schlange der Arbeitssuchenden zu sein.

In solch einer Gesellschaft
kann "Egoismus" und "Habgier" nicht durch
moralische Predigten beseitigt werden.

Karl Marx benutzte ein
anderes Bild, um die "Idealisten", die Weltverbesserer
seiner Zeit, bloßzustellen: »Ein wackrer Mann bildete
sich einmal ein, die Menschen ertränken nur im Wasser, weil sie
vom Gedanken der Schwere besessen seien. Schlügen sie sich diese
Vorstellungen aus dem Kopfe, etwa indem sie dieselbe für eine
abergläubige, für eine religiöse Vorstellung
erklärten, so seien sie über alle Wassergefahr erhaben.
Sein Leben lang bekämpfte er die Illusion der Schwere, von deren
schädlichen Folgen jede Statistik ihm neue und zahlreiche
Beweise lieferte.«

So wie das Ertrinken der
Menschen nicht Folge falscher Ideen über das Wasser und das
Schwimmen ist, so ist das Handeln der Kapitalisten oder anderer
Mächtiger in unserer Gesellschaft nicht die Folge falscher
Vorstellungen. Deshalb ist es auch lächerlich, anzunehmen, man
könne die Gesellschaft ändern, indem man die Ideen der
Mächtigen an der Spitze beeinflußt.

Nehmen wir einmal an, es
gelänge wirklich, einen Unternehmer für sozialistische
Ideen zu gewinnen, und er würde daraufhin seine Arbeiter nicht
mehr ausbeuten. Die einzige Folge wäre, daß er im
Konkurrenzkampf mit anderen Unternehmern den Kürzeren zöge
und Bankrott machte.

Wir können die Frage
auch anders stellen. Wenn Ideen die Gesellschaft verändern,
woher kommen dann die Ideen? Wir leben in einer kapitalistischen
Gesellschaft. Die Ideen, wie sie täglich von der Presse, dem
Fernsehen, Radio, Schulen usw. verbreitet werden, verteidigen diese
Gesellschaft. Wie kann es dann überhaupt geschehen, daß es
Menschen gibt, die trotzdem völlig andere Vorstellungen haben?
Weil ihre täglichen Erfahrungen den herrschenden Ideen
widersprechen.

Wie erklären wir es
uns, daß heute viel weniger Menschen religiös sind als
noch vor hundert Jahren? Wir machten es uns zu einfach, wenn wir das
allein aus dem großen Erfolg antireligiöser Propaganda
ableiteten. Man muß sich schon die Mühe machen und
erklären, warum die Menschen heute eher bereit sind,
atheistischen Ideen zuzuhören als vor 100 Jahren.

Oder: wenn man den Einfluß
"großer Männer" erklären will, muß
man auch erklären können, warum Menschen bereit sind, ihnen
zu folgen. Es reicht nicht, zu sagen, Lenin oder Napoleon hätten
"Geschichte gemacht", ohne zu erklären, warum
Millionen Menschen bereit waren, zu tun, was sie vorschlugen. Sie
waren keine Massenhypnotiseure. An einem bestimmten Punkt im Leben
der Gesellschaft, glaubten die Menschen, daß das, was sie
sagten, richtig sei.

Man kann nur dann
verstehen, wie Ideen die Geschichte beeinflussen, wenn man in der
Lage ist, zu erklären, woher die Ideen kommen, und warum
Menschen sie akzeptieren. Und das heißt, man muß sehen,
unter welchen materiellen Verhältnissen in einer Gesellschaft
die Ideen aufkommen.

Deshalb bestand Marx
darauf: Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das
soziale Sein bestimmt das Bewußtsein.

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