Geschichte verstehen

Ideen an sich können
die Gesellschaft nicht verändern. Das war einer von Marx‘ ersten
Schlüssen. Wie schon eine Reihe von Denkern vor ihm, bestand er
darauf, daß man, um die Geschichte zu verstehen, den Menschen
als Teil der materiellen Welt sehen muß.

Menschliches Verhalten ist
durch materielle Kräfte bestimmt, so wie das Verhalten aller
anderen natürlichen Gegenstände und Erscheinungen auch. Die
Erforschung der Menschheit war deshalb ein Teil der Erforschung der
natürlichen Welt.

Die Materialisten
bestreiten – im Gegensatz zu den Idealisten -, daß das Denken,
die Ideen der Welt der Dinge (der Materie) und der Natur vorausgehen.
Hunderttausende, Millionen von Jahren gab es auf der Erde keine
Spuren lebendiger Wesen. Es gab folglich auch nicht das, was man
Denken oder "Bewußtsein" nennt. Die Natur, die
Materie, gingen dem Bewußtsein, dem Geist, dem Denken voraus.

Deshalb nennen wir diese
Art zu denken materialistisch, das heißt, von der Materie
ausgehend (im Gegensatz zur idealistischen Denkweise, die von der
Idee, meist von Gott als einem ewigen geistigen Wesen ausgeht).

Marx betrachtete den
Materialismus als einen großen Schritt vorwärts gegenüber
den verschiedenen religiösen und idealistischen Deutungen der
Geschichte. Er bedeutete, daß man über die Veränderung
der sozialen, gesellschaftlichen Verhältnisse wissenschaftlich
diskutieren konnte, statt sich wie bisher auf das Gebet zu Gott zu
verlassen oder auf bessere Einsichten bei den Menschen zu hoffen.

Die "Natur"
des Menschen

Die Ersetzung des
ldealismus durch den Materialismus war die Ersetzung von Mystizismus
durch Wissenschaft. Aber nicht alle materialistischen Erklärungen
des menschlichen Verhaltens sind richtig. So wie es falsche Theorien
in der Biologie, der Chemie, der Physik gegeben hat, so gab es
Irrwege bei den Versuchen, wissenschaftliche Theorien der
Gesellschaft zu entwickeln.

Hier ein paar Beispiele.
Eine sehr verbreitete, nicht-marxistische, aber materialistische
Ansicht ist die, daß die Menschen Tiere sind, die sich auf ihre
Weise nur "natürlich" verhalten können. So wie
die Natur des Wolfs ihn dazu treibt, zu töten, oder das Schaf,
"friedlich" zu sein, so liege es in der Natur des Mannes,
aggressiv, herrschsüchtig, neidisch und gierig zu sein (was
umgekehrt einschließt, daß Frauen von Natur aus schwach,
unterwürfig, passiv seien).

In der Psychologie gibt es
mehrere Richtungen, die sogar das Verhalten von Ratten und Gänsen
übertragen auf das Verhalten von Menschen. Die Schlüsse,
die aus solchen Argumenten gezogen werden, sind zwangsläufig
reaktionär. Wenn der Mensch von seiner Natur her aggressiv ist,
dann ist es eigentlich sinnlos, davon zu sprechen, die Gesellschaft
zu verbessern. Es kommt ja doch immer wieder dasselbe dabei ‚raus.
Revolutionen müssen immer fehlschlagen.

Aber die "menschliche
Natur" ändert sich von Gesellschaft zu Gesellschaft. Nehmen
wir Konkurrenz, die heute als so selbstverständlich in unserer
Gesellschaft erscheint. In anderen Gesellschaften war sie kaum
bekannt. Als Wissenschaftler zum ersten Mal versuchten, die
Sioux-Indianer auf ihre Intelligenz hin zu testen, konnten sie den
Indianern nicht klarmachen, warum sie sich beim Beantworten der
Fragen nicht gegenseitig unterstützen sollten. Die Gesellschaft,
in der sie lebten, legte die Betonung auf Zusammenarbeit, nicht auf
Konkurrenz.

Das gleiche gilt für
die Aggressivität. Als Eskimos zum ersten Mal auf Europäer
trafen, konnten sie in keiner Weise verstehen, wozu Kriege dienen
sollten. Die Idee, daß eine Gruppe von Menschen versucht, eine
andere auszulöschen, erschien ihnen verrückt.

In unserer Gesellschaft
gilt es als "natürlich", daß Eltern ihre Kinder
lieben und beschützen. Aber in der griechischen Stadt des
Altertums, Sparta, war es normal, daß Kinder in den Bergen
ausgesetzt wurden, um zu prüfen, ob sie in der Kälte
überleben würden.

Theorien von der
"unveränderlichen menschlichen Natur" geben keine
Erklärung für die großen geschichtlichen Ereignisse.
Die Menschen, die die Pyramiden der Ägypter bauten, die
Weltreiche der Römer oder der Inkas, die modernen
Industriestädte, werden alle auf eine Ebene gestellt mit der
Lebensweise irgendwelcher unwissenden Bauern der frühen
Menschheit, die noch in Lehmhütten wohnten. Das einzige, was
übrigbleibt, ist die "menschliche Natur", nicht die
Zivilisation, die diese Menschen um sich aufgebaut haben. Wenn man
den Menschen als "nackten Affen" betrachtet, spielt es
keine Rolle, daß es einerseits Gesellschaftsformen gibt, die
ihre Menschen ernähren können, andere wiederum, in denen
Millionen den Hungertod sterben.

Viele Menschen akzeptieren
eine andere materialistische Theorie, die sich mit den Möglichkeiten
der Veränderung menschlichen Verhaltens beschäftigt. So wie
die Tiere dressiert werden können, sich im Zirkus anders zu
verhalten als im Urwald, so kann – behaupten die Anhänger dieser
Theorie – das menschliche Verhalten beeinflußt und verändert
werden. Wenn nur die "richtigen" Menschen unsere
Gesellschaft kontrollierten, so heißt es, dann könnte die
"Natur des Menschen" weiterentwickelt werden.

Wenn alle Menschen unserer
Gesellschaft heute vollständig konditioniert, d.h. von ihrer
Umwelt geprägt sind, wie kann es da jemanden geben, der sich
über die Gesellschaft erhebt, um die Konditionierungsregeln zu
verändern? Gibt es eine gottbegnadete Minderheit von Menschen,
die auf wunderbare Weise gegen die Zwänge, die alle übrigen
Menschen beherrschen, geimpft sind? Wenn wir alle nur Tiere in einem
Zirkus sind, wer ist dann der Löwenbändiger?

Die Anhänger dieser
Theorie landen entweder wieder an dem gleichen Punkt wie jene
Materialisten, die von der Unveränderlichkeit der Gesellschaft
ausgehen, oder sie glauben, daß der Wandel durch irgendeine
Kraft über der Gesellschaft bewirkt wird, wie z.B. Gott, ein
"großer Mann", oder die Macht der Ideen Einzelner.
Ihr "Materialismus" führt eine neue Art von ldealismus
durch die Hintertür wieder ein.

Wie Marx schon aufzeigte,
führen solche Lehren notwendig zu einer Aufteilung der
Gesellschaft, wobei der eine Teil als "höherwertiger"
über der Gesellschaft steht.

Diese Art des Materialismus
führt oft zu reaktionären Konsequenzen. Einer der
bekanntesten Vertreter dieser Lehre ist der rechte, konservative
amerikanische Psychologe Skinner. Er möchte die Menschen
abrichten, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. Aber weil er
selbst ein Produkt der amerikanischen, kapitalistischen Gesellschaft
ist, heißt das nur, daß er versucht, sie an diese
Gesellschaft anzupassen.

Eine andere
materialistische Theorie führt sämtliches Elend dieser Welt
auf die "Bevölkerungsexplosion" zurück. Diese
Theorien werden nach ihrem Begründer Malthus "malthusianisch"
genannt. Malthus war ein englischer Wirtschaftswissenschaftler des
18. Jahrhunderts. Seine Theorie erklärt aber nicht, warum in den
USA Getreide verbrannt wird, während in lndien die Menschen
verhungern. Sie kann auch nicht erklären, warum vor 150 Jahren
in den USA die Nahrungsmittelproduktion nicht ausreichte, um 10
Millionen Menschen zu sättigen, während heute mehr als
genug für 200 Millionen Menschen produziert wird.

Sie übergeht die
Tatsache, daß jeder hungrige Mund gleichzeitig eine zusätzliche
Person ist, die arbeiten und produzieren kann.

Marx nannte alle diese
falschen Erklärungen "mechanischen" oder "rohen"
Materialismus. Sie unterschlagen, daß die Menschen nicht nur
ein Teil der materiellen Welt sind, sondern handelnde, lebendige
Wesen, deren Handeln die Welt selbst verändert.

Die materialistische
Geschichtsauffassung von Marx


»Man kann die
Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was
man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an,
sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre
Lebensmittel zu produzieren.«

Mit diesen
Worten beschrieb Karl Marx, worin er die Besonderheit seiner
Erklärung der Entwicklung menschlicher Gesellschaften sah. Die
Menschen sind ursprünglich Tiere, die von affenähnlichen
Wesen abstammen. Wie bei anderen Tieren auch war ihre Hauptsorge, wie
sie sich ernähren und vor dem Klima schützen können.

Bei den übrigen Tieren
hängt dies von ihrem erblich festgelegten biologischen Aufbau
ab. Ein Wolf erhält sich am Leben, indem er seine Beute nach
biologisch vererbten, festgelegten Instinkten jagt und tötet. ln
kalten Nächten schützt er sich vor dem Kältetod durch
sein Fell. Ihren Nachwuchs zieht die Wolfsart ebenfalls nach
biologisch festgelegten Verhaltensmustern hoch.

Aber menschliches Leben ist
nicht in der gleichen Weise festgeschrieben. Die Menschen, die vor
100.000 oder 30.000 Jahren über die Erde zogen, lebten ganz
anders als wir heute. Sie lebten in Höhlen und Erdlöchern.
Sie besaßen keine Behälter, um Essen oder Wasser
aufzubewahren. Sie erhielten sich am Leben, indem sie Beeren
sammelten oder mit Steinen nach wilden Tieren jagten. Sie konnten
weder schreiben noch zählen. Sie hatten kein genaues Wissen
darüber, was in anderen Landesteilen vorging oder was ihre
Vorväter getan hatten.

Aber ihr körperlicher
Aufbau war vor 100.000 Jahren ähnlich dem der heutigen Menschen,
vor 30.000 Jahren war er bereits genauso. Wenn man einen
Höhlenmenschen von damals waschen, rasieren, ihm einen Anzug
anziehen und die Hauptstraße entlanggehen lassen würde,
käme niemand auf den Gedanken, daß er da nicht hingehörte.
Der Archäologe Gordon Childe schrieb: »Die ersten Skelette
unserer eigenen Art stammen aus dem Ende der letzten Eiszeit … Seit
der Zeit, aus der die Skelette des ‚Homo Sapiens‘ stammen, das war
vor etwa 25.000 Jahren, ist die körperliche Entwicklung des
Menschen zum Stillstand gekommen, obwohl seine kulturelle Entwicklung
eben erst begonnen hatte.

Unter "Kultur"
versteht der Archäologe alle Dinge, die sich die Menschen
gegenseitig beibringen und voneinander lernen (wie man aus Fell oder
Wolle Kleider macht, wie man aus Ton Töpfe macht, wie man Feuer
macht, wie man Häuser baut usw.), im Gegensatz zu all den
Dingen, die die Tiere instinktiv können.

Das Leben
der ersten Menschen unterschied sich sehr vom Leben anderer Tiere.
Denn sie waren in der Lage, bestimmte körperliche Eigenschaften
ihrer Art – das große Gehirn, Vorderbeine, die durch den
aufrechten Gang für die Bearbeitung von Gegenständen frei
wurden – zu benutzen, um die Umwelt ihren Bedürfnissen
entsprechend zu verändern. Das bedeutet, daß die Menschen
sich sehr verschiedenen Umweltbedingungen anpassen konnten, ohne
irgendeine Veränderung ihres Körperbaus. Die Menschen
reagierten nicht mehr nur auf ihre Umwelt. Sie konnten diese selbst
beeinflussen und zu ihrem Vorteil verändern.

Zuerst
benutzten sie Stöcke und Steine, um wilde Tiere anzugreifen, sie
entzündeten Fackeln an natürlich vorkommenden Feuern, um
sich mit Hitze und Licht zu versorgen, sie bedeckten sich mit
Pflanzenfasern und Tierhäuten. Es mag Zehntausende von Jahren
gedauert haben, bis allmählich die Menschen lernten, sich selbst
Feuer zu machen, sich mit Hilfe von Steinen andere Steine zu formen,
sich schließlich sogar Pflanzen mit Hilfe von selbst gesäten
Samenkörnern zu ziehen und bestimmte Tiere zu zähmen.

Verglichen
mit der Gesamtzeit menschlicher Geschichte von einer halben Million
Jahre, dauerte es ziemlich lange, bis die Menschen vor nun etwa 5.000
Jahren es lernten, Erze in Metall zu schmelzen, das sie benutzten, um
zuverlässige Werkzeuge und wirksame Waffen herzustellen. Jede
dieser Entdeckungen machte es den Menschen wesentlich leichter, sich
zu ernähren und sich zu kleiden. Und sie beeinflußten die
Organisation des menschlichen Lebens selbst. Von Beginn an lebten die
Menschen in Gesellschaft miteinander. Nur in gemeinsamer Anstrengung
konnten Menschen wilde Tiere töten, die Nahrungsmittel
zusammentragen und das Feuer am Leben halten. Sie waren auf
Zusammenarbeit angewiesen.

Diese dauerhafte
Zusammenarbeit führte auch zur Entwicklung neuer Formen der
Verständigung untereinander, durch Lautäußerungen und
durch die allmähliche Entwicklung von Sprache. Die ersten
gesellschaftlichen Gruppen waren höchst einfach zusammengesetzt.
Nirgends gab es genügend natürlich wachsende Lebensmittel,
um Horden von mehr als zwei Dutzend Menschen zu ernähren.
Sämtliche Kraft aller Hordenmitglieder mußte dazu verwandt
werden, um die Hauptarbeit, die Besorgung von Nahrungsmitteln, zu
erledigen. So machte jeder die gleiche Arbeit und lebte auf die
gleiche Art und Weise.

Ohne die Möglichkeit
der Aufbewahrung größerer Lebensmittelvorräte konnte
es kein Privateigentum, also auch keine Klassenteilung geben, noch
gab es einen Grund für Krieg mit anderen Horden, denn es war
keine Beute zu machen.

Bis vor einigen wenigen
Jahrhunderten gab es immer noch Hunderte von Gesellschaften in vielen
Teilen der Welt, die nach diesem Muster zusammenlebten – einige
Indianerstämme in Nord- und Südamerika, einige Völker
Zentralafrikas und des Pazifischen Ozeans, die Ureinwohner
Australiens (Aborigines).

Nicht, daß diese
Völker weniger intelligent waren als wir oder eine "primitivere
Seele" gehabt hätten. Die Ureinwohner Australiens zum
Beispiel mußten buchstäblich Tausende von Pflanzen und die
Lebensgewohnheiten von einer Vielzahl von Tieren erkennen lernen, um
überleben zu können.

Der Anthropologe Professor
Firth beschrieb ihr Leben folgendermaßen:

»Die australischen
Stämme … kennen die Gewohnheiten, Fährten, Brutplätze
und jahreszeitlichen Vorkommen sämtlicher eßbarer Tiere,
Fische und Vögel ihres Jagdgebietes. Sie kennen die äußere
und innere Beschaffenheit und Eigenschaften von Felsen, Steinarten,
Wachssorten, Gummi, Pflanzen, Fasern und Rinden; sie wissen, wie man
Feuer macht, sie wissen, wie man mit Hilfe von Hitze Schmerzen
lindern, Blutungen stillen und das Verderben frischer Nahrungsmittel
hinausziehen kann; und sie wissen auch, wie man mit Hilfe von Hitze
bestimmte Holzarten härten und andere weicher machen kann …

Sie
wissen zumindest in groben Zügen von den Mondphasen, den
Gezeiten, den Sternbewegungen und der Folge und Dauer der
Jahreszeiten, sie setzen klimatische Veränderungen wie
Windströmungen, jahreszeitlich bedingte Feuchtigkeit und
Temperaturschwankungen in Verbindung mit dem Wachstum und
Vorhandensein bestimmter natürlicher Arten …

Darüber
hinaus machen sie in intelligenter und sparsamer Weise Gebrauch von
Nebenprodukten der Tiere, die zu Nahrungszwecken getötet wurden.
Das Fleisch des Känguruhs wird gegessen, die Beinknochen werden
zur Herstellung von Steinstühlen und als Nadeln verwandt, die
Sehnen werden zum Wickeln von Speeren gebraucht, die Krallen werden
zusammen mit Wachs und Fasern zu Halsketten verarbeitet, das Fett
wird mit rotem Ocker zu Kosmetika vermischt, und aus Blut wird mit
Holzkohle Farbe hergestellt … Sie besitzen einiges Wissen über
einfache mechanische Gesetze und formen den Bumerang wieder und
wieder, bis er die richtige Biegung besitzt…«

Sie waren
wesentlich klüger als wir, was die Probleme des Überlebens
in der australischen Wüste betrifft. Dagegen hatten sie nicht
gelernt, wie man PfIanzen aussät und so selber Nahrungsmittel
herstellen kann – eine Fähigkeit, die unsere Vorfahren erst vor
5.000 Jahren lernten, nachdem sie schon etwa hundertmal solange auf
der Erde gelebt hatten.

Die Entwicklung neuer
Techniken zur Herstellung gemeinsamen, gesellschaftlichen
Reichtums, von Lebensmitteln im weitesten Sinn hat zur Entwicklung
neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen den Menschen geführt,
zu neuen gesellschaftlichen Beziehungen.

Als zum Beispiel die
Menschen lernten, ihre Lebensmittel herzustellen (durch den Anbau von
Pflanzen und Herdenhaltung) und zu lagern (in Tongefäßen),
war das eine Revolution des sozialen Lebens – von den Archäologen
"die neolithische Revolution" genannt. Die Menschen mußten
jetzt zusammenarbeiten, um das Land zu bewirtschaften, die Ernte
einzubringen und die Tiere zu jagen. Sie konnten in größeren
Sippen zusammenleben, und mit anderen Siedlungen Lebensmittelvorräte
tauschen.

Die ersten
Städte konnten entstehen. Zum erstenmal konnten einige Menschen
leben, ohne ständig mit der reinen Nahrungsmittelversorgung
beschäftigt zu sein: einige spezialisierten sich auf die
Herstellung von Tongefäßen, andere auf die Herstellung von
Metallen für Werkzeuge und Waffen, wieder andere übernahmen
Ordnungsaufgaben für die ganze Siedlung. Und: der Überschuß
an Nahrung wurde zum Anlaß für Kriege.

Die Menschen hatten damit
angefangen, sich ihre Umwelt mit anderen Mitteln nutzbar zu machen.
Aber in diesem Prozeß hatten sie (ohne es zu beabsichtigen) die
Gesellschaft, in der sie lebten, verändert und ihr eigenes
Leben. Marx brachte das so auf den Punkt: Eine Entwicklung der
Produktivkräfte veränderte die Produktionsverhältnisse
und, durch sie, die Gesellschaft.

Es gibt viele, auch
aktuellere Beispiele dafür:

Vor dreihundert Jahren
lebte die große Mehrzahl der Menschen auf dem Land und stellte
ihre Lebensmittel mit jahrhundertealten technischen Methoden her. Ihr
Denken reichte bis zur Grenze des Dorfes und ihre Ideen waren vor
allem vom Dorfpriester beeinflußt. Die große Mehrheit
brauchte nicht lesen und schreiben zu können und lernte es auch
nicht.

Dann setzte vor zweihundert
Jahren die industrielle Entwicklung ein. Zehntausende von Menschen
wurden in die Fabriken gezogen. Ihr Leben veränderte sich
vollständig. Sie lebten in großen Städten statt in
kleinen Dörfern, sie brauchten eine Ausbildung und mußten
zunehmend Lesen und Schreiben lernen. Mit Eisenbahnen und
Dampfschiffen wurde es möglich, um die halbe Erde zu reisen. Die
alten Ideen, die die Priester den Menschen eingehämmert hatten,
zogen nicht mehr. Die materielle Revolution in der Produktion
revolutionierte auch das Leben und die Ideen der Menschen.

Selbst heute sind immer
noch viele Menschen von ähnlichen Veränderungen betroffen.
Zum Beispiel die Menschen aus den türkischen Dörfern, die
Arbeit in den westdeutschen Fabriken suchen und beginnen,
traditionelle Gebräuche und religiöse Vorstellungen über
Bord zu werfen. Oder die große Zahl von Frauen, die in den
letzten 50 Jahren außerhalb des Hauses Arbeit aufgenommen haben
und anfingen, sich dagegen zu wehren, das Eigentum ihrer Ehemänner
zu sein.

Neue Weisen der
menschlichen Zusammenarbeit, um Nahrungsmittel, Bekleidung und
Unterkünfte herzustellen, verändern die Organisation der
Gesellschaft und die Ideen der Menschen. Das ist das Geheimnis
sozialer Veränderungen – der Geschichte -, das die großen
Denker vor Marx (und etliche nach ihm), die Idealisten und die
mechanischen Materialisten nicht verstehen konnten.

Die Idealisten sahen, daß
es Veränderung gab – aber für sie fielen sie vom Himmel.
Die mechanischen Materialisten sahen, daß die Menschen durch
die materielle Welt geformt wurden – aber sie begriffen nicht, wie es
zu Veränderungen kommen könnte. Marx dagegen verstand, daß
die Menschen einerseits bestimmt werden durch die Welt um sie herum,
aber daß sie gleichzeitig auf diese Welt einwirken und dabei
die Verhältnisse, in denen sie leben, verändern, also auch
sich selbst.

Der Schlüssel dafür,
Gesellschaftsveränderungen zu verstehen, liegt darin, zu
begreifen, wie Menschen das Problem angehen, ihre Nahrung, Bekleidung
und Behausung zu schaffen. Das war Marx’s Ausgangspunkt. Aber das
heißt nicht, daß Marxisten glauben, daß technische
Entwicklungen automatisch eine bessere Gesellschaft hervorbringen,
oder daß Erfindungen automatisch zu einer Veränderung der
Gesellschaft führen. Marx wies diese Auffassung klar zurück.
Immer wieder in der Geschichte wurden neue Ideen zur
Produktionssteigerung verworfen, weil sie den Vorstellungen oder der
Art der bestehenden Gesellschaft widersprachen.

Zum Beispiel gab es im
römischen Reich viele Ideen, wie der Ernteertrag zu steigern
wäre. Aber sie wurden nicht aufgegriffen, weil sie eine größere
Arbeitsdisziplin erforderten, die die Sklaven unter der Drohung der
Peitsche nicht aufbringen konnten. Als die Engländer im 18.
Jahrhundert Irland regierten, versuchten sie die Entwicklung der
Industrie in Irland zu stoppen, weil sie mit den Interessen der
Geschäftsleute in London kollidierte.

Neue
Entwicklungen in der Produktion stellen die alten Vorstellungen und
die alten Organisationsformen einer Gesellschaft in Frage, aber sie
stürzen sie nicht automatisch. Viele Menschen kämpfen, um
Veränderungen zu verhindern – und diejenigen, die die neuen
Produktionsmethoden wollen, müssen für Veränderungen
kämpfen. Gewinnen die ersten, werden die neuen
Produktionsmethoden nicht angewandt und die Gesellschaft bleibt
stehen oder entwickelt sich sogar zurück.

Oder in marxistischen
Begriffen: wenn die Produktivkräfte sich entwickeln, stoßen
sie zusammen mit den bestehenden sozialen Verhältnissen und
Ideen, die auf der Grundlage der alten Produktivkräfte
entstanden sind. Entweder gewinnen die Menschen bei diesem
Zusammenprall, die sich mit den neuen Produktivkräften
identifizieren, und die Gesellschaft kann sich weiterentwickeln, oder
aber es bleibt alles im alten Trott – oder es geht zurück.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.