Imperialismus und nationale Befreiung

Während der gesamten
Geschichte des Kapitalismus haben die Unternehmerklassen stets nach
zusätzlichen Quellen des Reichtums gesucht. Die Entstehung der
ersten Ansätze des Kapitalismus gegen Ende des Mittelalters war
begleitet von der Eroberung riesiger Kolonien durch die europäischen
Mächte Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und England.
Riesige Reichtümer wurden in die Taschen der herrschenden
Klassen Westeuropas gepumpt, während durch diesen Prozeß
gleichzeitig ganze Gesellschaften in der sogenannten Dritten Welt
(Afrika, Asien, Südamerika) zerstört wurden.

Die "Entdeckung"
Amerikas durch die Europäer im 16. Jahrhundert brachte einen
breiten Goldstrom nach Europa. Die andere Seite der Medaille war die
Zerstörung und Versklavung der Völker der eroberten
Kolonien. So wurden z.B. in Haiti, wo Columbus seine erste Siedlung
gründete, die eingeborenen Harawak-Indianer (etwa eine halbe
Million) in zwei Generationen völlig vernichtet. In Mexiko wurde
die Zahl der Indianer von 16 Mio. im Jahr 1520 auf 2 Millionen im
Jahr 1607 dezimiert.

Die indianische Bevölkerung
der karibischen Insel und von Teilen des amerikanischen Festlands
wurde durch Sklaven ersetzt, die in Afrika gefangen und unter
furchtbaren Bedingungen über den atlantischen Ozean
transportiert wurden. Schätzungsweise 15 Millionen Sklaven
überlebten die Überfahrt, während etwa 9 Millionen
unterwegs starben. Die Reichtümer aus dem Sklavenhandel wurden
für die Finanzierung der Industrie eingesetzt.

Der Sklavenhandel fand
seine Ergänzung in groß angelegten Raubzügen, so z.B.
bei der Eroberung Indiens durch England. Bengalen (Nordostindien) war
so hoch entwickelt, daß die ersten britischen Besucher von der
Großartigkeit der Zivilisation überwältigt waren.
Aber dieser Reichtum blieb nicht lange in Bengalen. In kurzer Zeit
brachten die Eroberer riesige Schätze in Kalkutta zusammen und
überließen die 30 Millionen Menschen der Region einem
grenzenlosen Elend. Die Menschen waren an die Tyrannei gewöhnt,
aber nie hatten sie eine Tyrannei wie diese erlebt.

Seitdem ist Bengalen nicht
mehr wegen seiner Reichtümer und seines Wohlstandes, sondern
wegen seiner bitteren Armut, die bis heute andauert, bekannt. In den
Jahren nach der Eroberung Indiens (1760) flossen jährlich 2
Millionen Pfund Sterling von Indien nach England. Welche Bedeutung
diese Plünderung für die englische Industrie hatte, erkennt
man daran, daß die gesamten Investitionen des britischen
Kapitals damals 6 bis 7 Millionen Pfund jährlich ausmachten.

Heute ist es Mode geworden,
die Welt in "entwickelte" und "unterentwickelte"
Länder aufzuteilen. Der Eindruck wird erweckt, als bewegten sich
die "unterentwickelten" Länder seit Jahrhunderten in
die gleiche Richtung wie die "entwickelten" Länder,
bloß mit langsamerer Geschwindigkeit.

Aber in Wahrheit ist einer
der Gründe für die "Entwicklung" der westlichen
Länder gerade darin zu suchen, daß der Rest der Welt
ausgeplündert und zurückgestoßen wurde. Viele dieser
Länder sind heute ärmer als vor 300 Jahren. In den meisten
Teilen Indiens, Chinas, Latein-Amerikas und Afrikas war das
Pro-Kopf-Einkommen vor 300 Jahren höher als in Europa und sank
mit der Entwicklung des Wohlstandes in West-Europa.

England wurde durch den
Besitz eines riesiegen Kolonialreiches zur ersten großen
Industriemacht in der Welt. England konnte andere kapitalistische
Länder daran hindern, Rohstoffquellen, Absatzmärkte und
profitbringende Anlagemöglichkeiten unter ihre Kontrolle zu
bringen.

Mit dem Aufstieg neuer
Industriemächte wie Deutschland, USA und Japan entbrannte ein
scharfer Konkurrenzkampf, da alle modernen Industriemächte die
gleichen Vorteile für sich suchten. Sie bauten rivalisierende
Kolonialreiche oder "Einflußsphären" auf.
Angesichts wachsender wirtschaftlicher Krisen versuchte jede der
großen kapitalistischen Mächte in die Einflußsphären
der anderen einzudringen, um ihre Probleme zu lösen. Der
Imperialismus führte schließlich zum ersten Weltkrieg.

Das brachte wiederum große
Veränderungen für die innere Organisation des Kapitalismus.
Das politische Werkzeug für die Kriegsführung, der Staat,
gewann an Bedeutung. Er arbeitete noch enger mit den großen
Konzernen zusammen, um die Industrie für den Konkurrenzkampf und
den Krieg zu rüsten. Aus dem Kapitalismus wurde ein
staatsmonopolistischer Kapitalismus.

Mit der Entwicklung des
Imperialismus beuteten die Kapitalisten nicht mehr nur die
Arbeiterklasse des eigenen Landes aus, sondern auch die anderer
Länder. Für die unterdrückten Klassen in den Kolonien
bedeutete das, daß sie gleich doppelt ausgebeutet wurden: von
den Imperialisten und ihrer eigenen traditionell herrschenden Klasse.

Aber bestimmte Teile der
herrschenden Klasse in den Kolonien litten ebenfalls unter dem Joch
des Kolonialismus. Sie sahen sich vieler ihrer Möglichkeiten zur
Ausbeutung ihres eigenen Volkes durch die imperialistischen Mächte
beraubt. Das gleiche galt für Teile des Mittelstandes, die sich
neue Aufstiegsmöglichkeiten von einer raschen
Industriealisierung des Landes versprachen.

Nationale Befreiung und
Sozialismus

In den letzten sechzig
Jahren haben sich die verschiedenen unterdrückten Klassen in den
Kolonialländern und Ex-Kolonialländern immer wieder gegen
die Auswirkungen des Imperialismus erhoben. Bewegungen entstanden und
versuchten, die gesamte Bevölkerung des Landes gegen die
Fremdherrschaft zu vereinigen. Ihre Forderungen waren:


  • Abzug aller ausländischen Truppen – Vereinigung des gesamten nationalen Territoriums unter einer einzigen nationalen Regierung
  • gegen die Aufteilung und Zersplitterung des Landes unter verschiedene imperialistische Mächte
  • Wiedereinführung der ursprünglichen Landessprache in das Alltagsleben – gegen die von Fremdherrschern aufgezwungenen Sprachen
  • der Einsatz des nationalen Reichtums für den Aufbau einer eigenen Industrie mit dem Ziel der "Entwicklung" und "Modernisierung" des Landes.

Revolutionäre
Erhebungen gab es unter diesen Forderungen in China (1912, 1923-27,
1945-48), im Iran (1905-12, 1917-21, 1941-43 und 1978), in der Türkei
nach dem ersten Weltkrieg, auf den karibischen Inseln seit Anfang der
20er Jahre, in Indien 1920-48, in Afrika seit 1945, in Vietnam, bis
die Amerikaner 1975 besiegt wurden, und im südlichen Afrika bis
heute.

Diese Bewegungen wurden
meistens von Teilen des nationalen Kleinbürgertums (Beamte,
Offiziere, Studenten, Lehrer) angeführt, aber nichtsdestoweniger
bedeutete das für den Imperialismus eine zusätzliche
Herausforderung: neben dem Widerstand der eigenen Arbeiterbewegung
gab es nun auch noch den nationalen Befreiungskampf der vom
Imperialismus unterdrückten Völker.

Für die
Arbeiterbewegung in den entwickelten Ländern war das von großer
Bedeutung. Sie fand nun einen Verbündeten in den nationalen
Befreiungsbewegungen der "Dritten Welt". Zum Beispiel hat
ein VW-Arbeiter in Deutschland einen Verbündeten in der
schwarzen Befreiungsbewegung Südafrikas. Der nationale
Befreiungskampf setzt auch der Ausbeutung der schwarzen Arbeiter
durch VW Grenzen, denn Löhne und Arbeitsbedingungen waren in der
Vergangenheit durch das weiße Siedlerregime mit brutaler Gewalt
extrem niedrig und schlecht gehalten.

Eine Niederlage der
schwarzen Befreiungsbewegung würde den VW-Konzern automatisch
stärken, auch in seiner Fähigkeit, Löhne und
Arbeitsbedingungen von VW-Arbeitern in Deutschland zu verschlechtern.

Das trifft selbst dann zu,
wenn die nationale Befreiungsbewegung Südafrikas nicht von
Sozialisten geführt wird – ja sogar dann, wenn diese Führung
die ausländische Herrschaft nur durch die Herrschaft der eigenen
(schwarzen) Kapitalisten oder einer staatskapitalistischen Klasse
ersetzen will.

Was für Südafrika
gesagt wurde, gilt für alle nationalen Befreiungskämpfe
gegen die imperialistische Unterdrückung. Der imperialistische
Staat, der versucht, die Befreiungsbewegungen zu zerschlagen, ist der
selbe imperialistische Staat, der der größte Feind der
Arbeiter in den industrialisierten Ländern ist. Deshalb sagte
Karl Marx, daß »ein Volk, das andere Völker
unterdrückt, niemals selbst frei sein kann«. Und deshalb
trat Lenin für ein Bündnis der Arbeiterklasse der
entwickelten Länder mit den unterdrückten Völkern der
"Dritten Welt" ein, selbst wenn diese unter
nicht-sozialistischer Führung stehen.

Das heißt nicht, daß
Sozialisten damit einverstanden sind, wie die nicht-sozialistschen
Führer in den unterdrückten Ländern den
Befreiungskampf führen. Aber wir müssen zuerst klarstellen,
daß wir den Kampf unterstützen. Sonst geschieht es allzu
schnell, daß wir unsere eigene herrschende Klasse gegen die von
ihr unterdrückten Völker unterstützen.

Wir müssen den
Befreiungskampf bedingungslos unterstützen, erst dann sind wir
berechtigt, seine Führung zu kritisieren.

Permanente Revolution

Revolutionäre
Sozialisten in den unterdrückten Ländern können sich
nicht damit zufrieden geben. Ihre Aufgabe ist es, tagtäglich
darüber zu sprechen, wie und mit welchem Ziel der
Befreiungskampf geführt werden sollte.

Hierfür finden sich
die wichtigsten Argumente in der Theorie der permanenten Revolution
von Trotzki.

Trotzki erkannte, daß
Befreiungsbewegungen sehr häufig von Elementen des Bürgertums
und des Mittelstandes ausgelöst werden. Sozialisten unterstützen
solche Bewegungen, weil sie darauf zielen, wenigstens eine Last zu
beseitigen. Aber die Führer der Befreiungsbewegungen aus dem
Bürgertum können diesen Kampf nicht konsequent führen.
Sie fürchten eine vollständige Mobilisierung für den
Massenkampf, weil dies nicht nur die Unterdrückung durch die
Fremdherrschaft beseitigen könnte, sondern auch ihre eigene
Fähigkeit, die unterdrücktesten Klassen auszubeuten.

An einem bestimmten Punkt
wenden sie sich von dem Kampf ab, den sie selbst organisiert hatten
und verbünden sich notfalls mit dem ausländischen
Unterdrücker, um die Befreiungsbewegung zu zerschlagen.

Wenn es keine Sozialisten
innerhalb der Arbeiterklasse gibt, die an diesen Punkt die Führung
des Befreiungskampfes übernehmen können, wird
er in einer Niederlage enden.

Ein häufiges Argument
gegen die Theorie Trotzkis ist, daß es in den Ländern der
"Dritten Welt" keine Arbeiterklasse gebe, die fähig
sei, diese Aufgabe zu übernehmen.

Es ist richtig, daß
die Arbeiterklasse in den meisten Ländern der "Dritten
Welt" nur eine Minderheit, oftmals eine kleine Minderheit der
Bevölkerung ist. Aber sie ist in absoluten Zahlen ausgedrückt
oft ziemlich groß: zum Beispiel in Indien und China, wo sie
jeweils mehrere zehn Millionen Arbeiter zählt. Außerdem
ist ihre wirtschaftliche Funktion übermäßig stark.
Sie schafft oft einen Großteil des nationalen Reichtums, der
weit über ihren zahlenmäßigen Anteil an der
Bevölkerung hinausgeht. Und schließlich lebt sie fast
ausschließlich in den Städten, die den Schlüssel zur
Herrschaft über ein Land bilden.

Deshalb kann auch in diesen
Ländern die Arbeiterklasse in Zeiten der revolutionären
Erhebung die Führung aller unterdrückten Klassen übernehmen
und so die Kontrolle über das ganze Land gewinnen. Die
Revolution kann permanent werden, indem sie mit Forderungen der
nationalen Befreiung beginnt und zu sozialistischen Forderungen
übergeht, aber nur, wenn Sozialisten in den unterdrückten
Ländern von Anfang an die Arbeiter unabhängig, auf
Grundlage ihrer Klasseninteressen organisieren und die allgemeine
Bewegung für nationale Befreiung unterstützen, und
gleichzeitig vor den Führern der Bewegung aus Mittelklasse und
Bürgertum warnen.

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