Das Wirtschaftswunder: Ist eine Wiederholung möglich?

Es könnte alles so klar sein wie niemals zuvor. Rekordgewinne bei gleichzeitiger Rekord-Arbeitslosigkeit. Regierung und Unternehmer werfen sich gegenseitig ihre Unfähigkeit vor, daran etwas zu ändern. Sparmaßnahmen, die angeblich die Schaffung neuer Jobs beflügeln sollen, bringen bloß weiteren Arbeitsplatzabbau. Als Heilmittel werden neue Sparmaßnahmen ins Auge gefaßt.
Eigentlich sollte es keinen Zweifel mehr geben, daß dieses System nicht funktionieren kann.
Aber immerhin hat es ja einmal funktioniert. Ein Vierteljahrhundert lang gab es satte Profite und Vollbeschäftigung, stetig wachsenden Wohlstand nicht nur für die Reichen, sondern für die große Masse der Bevölkerung. Für viele Ältere ist die Erinnerung an die Zeit des Wirtschaftswunders durchaus noch gegenwärtig. Für die Jüngeren wird sie durch Medienereignisse wie die Film-Remakes der "German Classics"-Serie in SAT.1 gerade mal wieder aufbereitet.
Ein Remake der wirtschaftlichen Erfolgsstory der Fünfziger und Sechziger Jahre – dafür wären viele bereit, noch ein paar Opfer mehr zu bringen. Deshalb müssen wir uns damit beschäftigen, was die Ursachen des Wirtschaftswunders waren, und ob der Kapitalismus zu einer Neuauflage fähig ist.

Das "Wirtschaftswunder" ist zwar ein deutscher Begriff, aber die Erfolgsstory war
keineswegs auf Deutschland beschränkt. Der britische Historiker Eric Hobsbawm bezeichnet
die Jahre von 1950 bis 1973 in seinem Werk über das 20.Jahr-hundert ("Das Zeitalter der
Extreme") als die "Goldenen Jahre".

Nicht nur die Industrieländer des Westens erlebten in dieser Zeit einen ungeahnten
Aufschwung, sondern auch der Osten: Äußeres Zeichen war der Vorsprung der UdSSR vor
den USA in der Raumfahrt, der bis zur Landung der Amerikaner auf dem Mond 1969 anhielt.
In der Dritten Welt konnte zwar von Massenwohlstand keine Rede sein, aber immerhin
wuchs die Produktion von Lebensmitteln in dieser Zeit schneller als die Bevölkerung – ein
krasser Gegensalz zur Entwicklung der folgenden zwanzig Jahre bis heute.

Natürlich hatte man nach dem Ende
des Krieges mit einer Wiederbelebung der zivilen Wirtschaft rechnen können. Aber das
Ausmaß und die Dauer des Booms war von niemand vorhergesehen worden. Selbst wenn man
die ersten zehn Nachkriegsjahre nicht berücksichtigt, ergeben sich beeindruckende
Zahlen: Zwischen 1955 und 1975 verdoppelte sich die Produktion in Großbritannien
(nicht ganz) und den USA, in Frankreich und der UdSSR stieg sie auf fast den
dreifachen Wert, in Westdeutschland noch etwas mehr und in Japan auf mehr als
das Fünffache.


Das Wirtschaftswachstum brachte den Abbau der Nachkriegs-Arbeitslosigkeit und
zunehmenden Wohlstand auch für die Arbeiterschaft mit sich. Die Zustimmung zum
kapitalistischen System und seinen politischen Vertretern wuchs. 1959 gewann der
konservative britische Premierminister Macmillan die Wahl mit der sehlichten
Parole "You’ve never had it so good". Zwei
Jahre zuvor hatte in Westdeutschland CDU-Kanzler Adenauer mit dem Slogan

"Keine Experimente!" die absolute Mehrheit gewonnen.

Man brauchte sich bloß daran zu erinnern, wie die Welt zwölf Jahre nach dem ersten
Weltkrieg ausgesehen hatte: Krise und Massenarbeitslosigkeit prägten das Bild, und
in Deutschland begann der Aufstieg der Nazis. Damit verglichen, mußte man Ende der
Fünfziger Jahre den Eindruck gewinnen, daß alle Probleme des kapitalistischen Systems
gemeistert wären.

Das hätte sich in den ersten Nachkriegsjahren nicht einmal die CDU träumen lassen.
In ihrem oft zitierten Ahlener Programm von 1947 hatte sie das Versagen des Kapitalismus
festgestellt.

Für Sozialisten stand ohnehin fest, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung keine
Zukunft mehr hatte. Die Krise der Dreißiger Jahre hatte den Weg zur Nazi-Diktatur und
zum Weltkrieg eröffnet. Darin zeigte sich überdeutlich, daß das auf Profit und Konkurrenz
gebaute System nicht mehr funktionierte. Genau wie es Karl Marx und Friedrich Engels
im Kommunistischen Manifest schon 100 Jahre zuvor beschrieben hatten: "Die moderne
bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel
hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten
mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor.
"

"In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus", hieß es weiter, "welche
allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion.
"

Kapitalakkumulation

In seinem später verfaßten Werk "Das Kapital" stellte Karl Marx dar, worin die
Gesetzmäßigkeit besteht, die das kapitalistische System in die Krise treibt.
Die Konkurrenz zwingt die einzelnen Kapitalisten dazu, einen möglichst hohen
Anteil des Gewinns immer wieder neu zu investieren. Wer seine Produktionsanlagen
nicht erneuert, ausbaut und nach Möglichkeit so verbessert, daß die
Arbeitsproduktivität steigt, der läuft Gefahr, im Konkurrenzkampf auf der Strecke zu bleiben.

Das führt dazu, daß ein ständig wachsender Anteil des Kapitals
für Maschinen, Anlagen und Rohstoffe aufgewendet wird. Marx
nannte das den Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals.
Die Folgen werden am besten erkennbar, wenn wir eine kleine Beispielrechnung aufmachen:

Nehmen wir an, ein Arbeiter verbraucht und verarbeitet an einem
achtstündigen Arbeitstag Materialien, für deren Herstellung zwanzig Arbeitsstunden
aufgewendet wurden. Morgen oder nächstes Jahr führen neue Investitionen dazu, daß in acht
Arbeitsstunden Materialien im Wert von vierzig Stunden verarbeitet werden.

Die Investition hat eine Steigerung der Produktivität bewirkt. Wie wirkt sich das aus?
In der Ausgangssituation mußte der Arbeiter vielleicht in den ersten vier Stunden seinen
eigenen Lohn erarbeiten. Die restlichen vier Stunden stellen den Mehrwert des
Kapitalisten dar. Wenn wir ganz großzügig annehmen, daß die Produktivität verdoppelt
wurde, hat der Arbeiter jetzt seinen Lohn in zwei Stunden erarbeitet, Der Mehrwert
erhöht sich auf sechs Arbeitsstunden.

Das hört sich gut an, stellt sich für den Kapitalisten aber letztlich als Rückschritt dar.
Anfangs mußte er nämlich Kapital im Wert von 24 Arbeitsstunden investieren (20 für
Arbeitsmittel, vier für Lohn), um 4 Stunden Mehrwert zu erhallen. Nach der Verbesserung
der Arbeitsproduktivität gibt es zwar 6 Stunden Mehrwert, aber die Kosten
betragen 42 Arbeitsstunden (40 + 2).

Die Profitrate, d.h. das Verhältnis des Profits zum eingesetzten Kapital, ist
von l/6 (16,7%) auf 1/7 (14,3%) gesunken.

Das klingt erstmal nach einem Rechentrick, hat aber durchaus seine Entsprechung
in der kapitalistischen Wirklichkeit. Nicht umsonst klagen die Unternehmer über
die ständig steigenden Investitionskosten pro Arbeitsplatz. Nicht umsonst stehen
Schichtbetrieb und verlängerte Maschinenlaufzeiten ganz oben auf ihren Wunschlisten.
Und nicht umsonst heißt das Modewort in den Vorstandsetagen seit einigen
Jahren "shareholder value" – das Hauptaugenmerk richtet sich
auf die Kapitalrendite, die nichts anderes darstellt als die Profitrate.

Dabei verfolgen Investitionen, die zu wachsender Arbeitsproduktivität führen,
natürlich das Ziel, die Profitrate zu erhöhen – und nicht, sie zu senken.
Im Erfolgsfall erreichen sie dieses Ziel auch, denn ein Untern eh men, das
im Wettbewerb eine höhere Produktivität erreicht, wird auch höhere Gewinne
machen, auf Kosten der Konkurrenz. Im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt
jedoch führt die Steigerung der "organischen Zusammensetzung" des Kapitals
zum Rückgang der Profitrate. Karl Marx nannte dies das "Gesetz des tendenziellen Falls
der Profitrate
" und er sah darin die Hauptursache für die immer wiederkehrenden Krisen
des kapitalistischen Systems.

Nun muß ein Rückgang der Profitrate von 16 auf 14 Prozent sich nicht unbedingt
dramatisch auswirken. Vor allem wachsende Unternehmen können das wegstecken,
denn 14 Prozent von 120 Millionen sind immer noch mehr als 16 Prozent von 100 Millionen.

Aber allein die Erwartung sinkender Profitraten bewirkt, daß eines Tages vielleicht
schon bei einem leichten Konjunklurrückgang geplante Investitionen aufgeschoben werden.
Das gilt um so mehr, wenn ein großer Teil des erforderlichen Kapitals als Kredit zu
einem festen Zinssat?, aufgenommen werden muß. Und dann setzt eine Keltenreaktion ein,
weil nun die Hersteller von Investitionsgütern mit rückläufigen Aufträgen rechnen und
ihrerseits Investitionen zurückstellen oder gar Betriebe schließen.

Der von Marx beschriebene tendenzielle Fall der Profitrate führt also nicht dazu,
daß die kapitalistische Wirtschaft ganz allmählich in sich zusammenfällt, sondern
daß ganz gewöhnliche Konjunkturschwankungen sich plötzlich zu einer allgemeinen
Krise des Systems auswachsen. Genau das
war 1929 geschehen, als der Börsenkrach an der Wall Street eine weltweite katastrophale
Wirtschaftskrise auslöste.

Eben deshalb war es so erstaunlich, daß der Kapitalismus in den Fünfziger und Sechziger
Jahren eine so dauerhafte Periode der Stabilität und des ungebrochenen Wachstums
erlebte. Wie kam es dazu?

Wenn man die weltwirtschaftliche Entwicklung nach dem ersten und nach dem zweiten
Wellkrieg miteinander vergleicht, entdeckt man einen markanten Unterschied: Nach dem
ersten Weltkrieg wurden die Militärausgaben der grüßen Mächte für 15 bis 20 Jahre auf
ein Minimum zurückgefahren, In Deutschland begann die neue Aufrüstungswelle erst in der
zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre, in England, Frankreich und den USA praktisch erst
mit dem Kriegseintritt.

Rüstungswettlauf

Ganz, anders nach 1945: Nach einer Verschnaufpause von nur zwei, drei Jahren löste
der beginnende "Kalte Krieg" zwischen USA und Sowjetunion einen neuen Rüstungswettlauf
aus. Während des Korea-Krieges von 1950-53 stiegen die Militärausgaben der USA auf

über 13 Prozent des Bruttosozialprodukts. In den folgenden Jahren schwankten sie
um 10 Prozent. Ein solches Ausmaß der Rüstungsproduktion hatte es in Friedenszeiten
niemals zuvor gegeben.

Die wirtschaftlichen Folgewirkungen waren weitaus größer, als es der Zahlenwert
von 10 Prozent vermuten läßt. Zunächst garantierte der Staat die Nachfrage für
einen bedeutenden Teil der Industrie. Damit war die Auslastung gerade jener
Sektoren gewährleistet, von denen traditionell die Überproduktionskrisen ausgingen:
Bauwirtschaft, Stahlerzeugung, Maschinen-, Fahrzeug- und Schiffbau.

Die entscheidende Besonderheil der Rüstungswirtschaft liegt aber darin, daß der
Verbrauch ihrer Produkte in aller Regel überhaupt keinen Nutzen entfaltet. Der
Normalfall ist ja, daß alle hergestellten Güter in irgendeiner Weise wieder in
den Produktionskreislauf eingehen. Was Maschinenbau oder Bergbau auf den Markt
bringen, wird als Produktionsanlage oder Rohstoff genutzt. Wohnungen, Lebensmittel,
selbst Schulbildung, Krankenhäuser und die Produkte der Unterhaltungsindustrie dienen
der Wiederherstellung der Arbeitskraft. Rüstungsgüter sind für den Wirtschaftskreislauf
verloren – ihre "Nutzung" besteht manchmal in Zerstörung, meistens aber nur darin,
daß sie bereitgehalten und eines Tages verschrottet werden. Der Fachausdruck heißt:
Sie werden unproduktiv konsumiert.

Im langjährigen Durchschnitt benötigt
eine kapitalistische Wirtschaft ungefähr 80 Prozent ihrer Kapazitäten, um
verbrauchte Ressourcen (Maschinen, Rohstoffe, Arbeitskraft) zu erneuern.
Die restlichen 20 Prozent stehen für die Erweiterung der Kapazitäten zur Verfügung, das heißt
für (Netto-)Investitionen in Infrastruktur und Produktionsanlagen. Wenn aber 10 Prozent für Rüstung
aufgewendet werden, wie in den USA der Fünfziger Jahre, dann muß das Ergebnis sein, daß das Wachstum
der Wirtschaft spürbar verlangsamt wird.

So berichtet Eric Hobsbawm in seiner Beschreibung der "Goldenen Jahre":
"[Das Land] erzeugte am Ende des Krieges auch nahezu zwei Drittel der weltweiten Industrieproduktion.
Allerdings waren die tatsächlichen Leistungen der amerikanischen Wirtschaft gerade wegen ihres Umfangs
und ihrer Fortschrittlichkeit bei weitem nicht so beeindruckend wie die Wachstumsraten anderer Staaten, die
unter viel bescheideneren Startbedingungen begannen. Zwischen 1950 und 1973 hatte die US-Wirtschaft eine
niedrigere Wachstumsrate ah alle anderen Industriestaaten, sieht man einmal von (Großbritannien. … Tatsächlich
hat sich diese Ära im Wirtschafts- und Technologiebereich sogar relativ rückschrittlich für die USA ausgewirkt.
"
Die vergleichsweise niedrigen Wachs-tumsraten waren der Preis für die Stabilität des Wachstums. Der von
Marx festgestellte "tendenzielle Fall der Profilrate" hat zur Voraussetzung, daß die organische
Zusammensetzung des Kapitals steigt. Das heißt, daß der für Produktionsanlagen und Rohstoffe verauslagte
Teil des Kapitals schneller wächst als der Anteil, der für Arbeitslöhne aufgewendet wird. Wenn aber die
Hälfte dessen, was für neue Investitionen zur Verfügung stände, vom Staat als Steuer vereinnahmt und für

"nutzlose" Militärgüter ausgegeben wird, muß die organische Zusammensetzung des Kapitals zwangsläufig
langsamer wachsen, und der Fall der Profitrate wird gebremst.
Dieser Prozeß hat zudem noch eine selbstverstärkende Nebenwirkung. Wenn nämlich der Druck auf die
Profitrate gemildert wird, dann sind auch solche Investitionen aussichtsreich, die überhaupt keinen
Produklivitätsfortschritt mit sich bringen, sondern nur eine Erweiterung auf dem bereits erreichten
technischen Niveau. Die Inbetriebnahme von zehn neuen Maschinen,
die von zehn neu eingestellten Arbeitern bedient werden, verändert die organische Zusammensetzung des
Kapitals überhaupt nicht. Statt dessen erhöht sich die Zahl der Beschäftigten – und der Anteil des

Überschusses, dessen Verwandlung in Kapital die organische Zusammensetzung steigern könnte, wird noch
einmal verringert.
Natürlich waren diese Effekte der Rüstungswirtschaft niemals geplant. Den Anstoß gab die militärische
Konkurrenz mit der UdSSR. Eine Stabilisierung des kapitalistischen Systems speziell durch die Militärausgaben
war weder beabsichtigt noch erwartet worden.

Westeuropa und Japan

Bis hierhin haben wir uns auf die Entwicklung der US-Wirtschaft konzentriert. Aber wie sah es in
Westdeutschland und Japan aus? Die Verlierer des zweiten Weltkrieges haben lange Jahre nur sehr
wenig für Rüstung aufgewendet. Wieso erlebten gerade sie ein "Wirtschaftswunder", das die
Wachstumsraten der USA bei weitem übertreffen sollte?

Die US-Wirtschaft war die Lokomotive des anhaltenden Aufschwungs der "Goldenen Jahre".
Sie war stark genug (zwei Drittel der weltweiten Industrieproduktion!), um ein paar zusätzliche
Waggons mitzuziehen. Die Militärausgaben Japans und BRD waren in der Tat deutlich niedriger als
die der USA: etwa ein Prozent in Japan und drei bis vier Prozent in der BRD. Wenn wir
die 20-Prozent-Faustregel anwenden, dann blieben 19 bzw. 16 Prozent zur Ausweitung der Produktion
und Steigerung der Produktivität.

Beide Länder bauten vor allem ihre
Exportindustrien aus. Das bedeutete, daß ihr Wachstum nicht an den Grenzen des inneren
Marktes scheitern mußte. Die USA selbst waren ein scheinbar unendlich aufnahmefähiger
Exportmarkt, hinzu kamen diejenigen Teile der Welt, die Autos und Maschinen bislang von
US-Firmen bezogen hatten.
So stand der Erfolg des westdeutschen und des japanischen Kapitalismus nicht im Widerspruch zur
stabilisierenden Funktion der Rüstungswirtschaft. Aber er bildete den Keim eines Widerspruchs
innerhalb dieses Systems, der es schließlich zu Fall bringen sollte. Japan und Westeuropa holten
den Produktivitätsvorsprung der US-Wirtschaft zunehmend ein. Amerikanische Kapitalisten
und Politiker stellten fest, daß sie ein Problem mit den Kosten der Rüstung hatten. Sie ergriffen
Gegenmaßnahmen: Einerseits die Abwertung des US-Dollar, die 1971 zur Freigabe der bis dahin festen
Wechselkurse zwischen den Währungen der westlichen Industrieländer führte. Andererseits die wiederholte
Forderung nach einer Neuverteilung der Rüstungslasten unter den NATO-Ländern (ohne Ergebnis).
Schließlich drosselten die USA ihre Militärausgaben, Anfang der Siebziger Jahre auf 8 und später
auf 6,5 % des Sozialprodukts.

Das war der Anfang vom Ende der "Goldenen Jahre". 1974/75 brach zum ersten Mal wieder eine
richtige, altmodische Krise im westlichen Kapitalismus aus. Ausgelöst wurde sie durch die
Erhöhung der Erdölpreise, aber den eigentlichen Hintergrund bildete die Wiederbelebung der
alten, von Marx vor über hundert Jahren beschriebenen Krisenmechanismen der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung. In Westdeutschland stieg die Zahl der Arbeitslosen erstmals seit mehr als
zwanzig Jahren wieder auf mehr als eine Million.
Seitdem ist die Krise, von der man zu Beginn der Siebziger Jahre noch glaubte, daß sie endgültig
überwunden sei, wieder zur ständigen Begleiterscheinung der kapitalistischen Weltwirtschaft geworden.
Sie hat zumindest in den westlichen Industrieländern bisher nicht jene katastrophale Form angenommen,
die in den Dreißiger Jahren zu einem scharfen Rückgang der Produktion und zum Zusammenbruch des Welthandels
führte. Aber Konjunkturaufschwünge führen längst nicht mehr zur
Vollbeschäftigung, sondern bestenfalls dazu, daß die Arbeitslosigkeit auf dem erreichten Niveau verharrt,
um in der nächsten Krise weiter anzusteigen.

Die besonderen Auswirkungen der Rüstungswirtschaft im kapitalistischen System wurden erstmals
bereits in den Vierziger Jahren von einem US-amerikanischen Marxisten beschrieben, der seine
Aufsätze mit den Namen W. T. Oakes und T. N. Vance unterzeichnete. In den Fünfzigern und Sechzigern
entwickelten die britischen Sozialisten Tony Cliff und Michael Kid-ron die Theorie weiter.
Diese Erklärung für die anhaltende Blütepe-riode des Weltkapitalismus fand jedoch nur wenig Aufnahme
und Anerkennung. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Die Befürworter des Kapitalismus waren zufrieden
damit, daß Karl Marx und seine Krisentheorie als überholt galten. Viele, die sich selbst als besonders
prinzipienfeste Anhänger des Marxismus sahen, verkündeten zwanzig Jahre lang, daß die nächste Krise bald
kommen würde (mit dem Erfolg, daß sich, als sie schließlich recht behielten, kaum noch jemand für ihre
Meinung interessierte).

Wirtschaftspolitik

Die meisten ernsthaften Wirtschaftswissenschaftler bewegten sich irgendwo dazwischen.
Am weitesten verbreitet war die Auffassung, daß eine kluge staatliche Wirtschaftspolitik
in der Lage sei, die im Kapitalismus durchaus eingebauten Krisentendenzen unschädlich zu machen.
Das entsprach der Theorie des Ökonomen John Maynard Keynes. Danach sollte der Staat im Konjunkturabschwung
mit geborgtem Geld die Nachfrage ankurbeln, auf diese Weise einen neuen Aufschwung in Gang bringen und mit
den nun wieder steigenden Steuereinnahmen die Schulden zurückzahlen.

In Westdeutschland wandte die große Koalition 1967/68 dieses Verfahren erfolgreich an, und der
sozialdemokratische Wirtschaftsminister Karl Schiller wurde als Krisenbezwinger gefeiert. Zehn
Jahre später, unter SPD-Kanzler Helmut Schmidt, erwiesen sich die gleichen Maßnahmen als wirkungslos.
Damit geriet der "Keynesianismus" aus der Mode, und die Verfechter der reinen Lehre von
den "Selbstheilungskräften der Marktwirtschaft" bekamen Oberwasser. Allerdings haben sie in den
vergangenen zwanzig Jahre die Wirksamkeit ihrer Theorie auch nicht nachweisen können.
Einer der Wortführer der keynesianischen Wirtschaftslehre, der US-Amerikaner Kenneth Galbmith,
bemerkte Anfang der Sechziger Jahre einmal, daß die anhaltende Stabilität der kapitalistischen
Wirtschaft wohl mit staatlicher Nachfragepolitik erklärt werden könne, daß bei einer genaueren
Betrachtung der Staatsausgaben aber eigentlich nur der Rüstungsetat groß genug sei, um als Molor
des Wachstums in Frage zu kommen. Das ist ein wichtiger Hinweis, aber er bezieht sich nur auf den
Umfang der staatlichen Nachfrage. Der keynesianisehen Theorie ist es ziemlich egal, welche Art
Staatsausgaben die Nachfrage anregt (es sei denn, man will gezielt bestimmte Sektoren der Industrie
stützen). Die besondere Bedeutung der unproduktiven Ausgaben fällt dabei unter den Tisch, vor allem
deswegen, weil der keynesianische Ansatz voraussetzt, daß Marx‘ Überlegungen zum Anstieg der organischen
Zusammensetzung des Kapitals und zum tendenziellen Fall der Profitrate ungültig sind.

Können wir jetzt eine Antwort auf die Frage geben, ob der Erfolg der "Goldenen Jahre" wiederholbar
ist? Der Mechanismus der Rüstungswirtschaft taugt jedenfalls nicht für ein Remake, weil die großen
konkurrierenden Industrienationen durch nichts und niemand dazu verpflichtet werden können,
im gleichen Umfang unproduktive Ausgaben zu tätigen. Gegenwärtig verlangen die Kapitalisten aller
Länder sehr vehement von ihrem jeweiligen Staat, daß er ihnen möglichst wenig Steuern abzwackt und auf
diese Weise möglichst viel Spielraum für produktivitätssteigernde Investitionen läßt,
Ein neuer Mechanismus, der die Krisentendenz des kapitalistischen Systems abmildern
oder gar zeitweilig ausschalten könnte, ist nirgendwo in Sicht.

Alles deutet darauf hin, daß das System sich erneut in einer Sackgasse befindet. Theo Sommer,
Mitherausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit", formuliert das in der Ausgabe vom 3. 1. 1997 so:

"Eine neue Weltordnung, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus von allen erhofft, will sich nicht
einstellen. Zugleich aber ist das kapitalistische Wirtschaftssystem, das sich 1989/90 zum Sieger der
Geschichte erklärte, ausgerechnet durch seine beiden fundamentalen Antriebskräfte
– die unaufhaltsame Ausbreitung rund um den Erdball und den rasanten Fortschritt der Technik – in eine tiefe
Krise gestoßen worden.
"

Das ist erstaunlicherweise ein ganz ähnlicher Gedanke wie der, den der angeblich längst überholte Karl
Marx vor weit über hundert Jahren in seiner Ausarbeitung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der
Profitrate niederschrieb:

"Das Mittel – unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte – gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandenen Kapitals. Wenn daher die kapitalistischische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen."

Wobei die Ähnlichkeit vor allem in der Beschreibung des Problems besteht: Krise durch Fortschritt und
Ausbreitung des Kapitalismus, Die Ursache des Problems wird nur von Marx benannt: Daß das Ziel des
kapitalistischen Fortschritts bloß in der Verwertung (und Vermehrung) des Kapitals besteht, nicht
aber in der Erfüllung der Bedürfnisse der Gesellschaft.

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