Hier die Bevölkerung, dort die Eliten

Regierungen vertreten nicht die Interessen der Menschen, die sie angeblich vertreten. Ein Gastbeitrag der indischen Autorin und Aktivistin Arundhati Roy.


100.000 Menschen kamen Ende Januar 2005 zum 5. Weltsozialforum nach Porto Alegre in Brasilien.

Ich wurde gebeten, über die „Macht der Öffentlichkeit im Zeitalter von Empire“ zu sprechen. Ich bin nicht gewohnt, zu tun, was man mir sagt – aber glücklicherweise ist dieses Thema genau das, worüber ich heute ohnehin sprechen wollte. Was verstehen wir unter der „Macht der Öffentlichkeit“, wenn unsere Sprache so verstümmelt und ihrer Bedeutung beraubt wird wie heute?

Zu einer Zeit, wenn „Freiheit“ in Wirklichkeit Besatzung bedeutet, mit „Demokratie“ neoliberaler Kapitalismus gemeint wird, wenn „Reform“ Unterdrückung meint und wenn Wörter wie „Friedenserhaltung“ es einem kalt den Rücken herunter laufen lassen, kann „Macht der Öffentlichkeit“ alles mögliche bedeuten, von einem Fitnessgerät bis zu einem Volksfest. Daher werde ich meine eigene Definition von „Macht der Öffentlichkeit“ entwickeln.

In Indien ist das Wort „Public“ (englisch für „Öffentlichkeit“, die Redaktion) heute auch ein Hindu-Wort. Es bedeutet „Bevölkerung“. In der Hindusprache haben wir „Sarkar“ und „Public“: der Staat und die Bevölkerung. Diese Unterscheidung beruht auf der Annahme, dass der Staat andere Ziele verfolgt als die Menschen.

Die Unterscheidung hat damit zu tun, dass Indiens Befreiungskampf zwar eine großartige Kraftanstrengung war, aber keineswegs revolutionär. Die indische Elite schlüpfte elegant und mit Leichtigkeit in die Rolle der britischen Imperialisten. Eine zutiefst verarmte und im Grunde feudale Gesellschaft wurde so ein moderner unabhängiger Nationalstaat. In jedem Fall verstehen die meisten Inder „Sarkar“ als etwas von normalen Menschen deutlich getrenntes.

Je weiter jemand die soziale Leiter in Indien aufsteigt, desto schwerer fällt ihm die Unterscheidung zwischen „Sarkar“ und Bevölkerung. Die Interessen der indischen Elite unterscheiden sich, wie die Interessen jeder anderen Elite auf der Welt, wenig von den Interessen des Staates. Die Elite denkt wie der Staat und spricht wie der Staat.
In den USA auf der anderen Seite haben viel größere Teile der Gesellschaft Schwierigkeiten, den Unterschied zwischen Staat und Bevölkerung zu erkennen. Das könnte man als Anzeichen einer stabilen Demokratie verstehen, aber leider sind die Dinge etwas komplizierter und weniger hübsch.

Das hat unter anderem mit der ausgefeilten und weit verbreiteten Panikmache zu tun, mit der der Staat, die Medienkonzerne und Hollywood die Menschen bearbeiten.
Die durchschnittlichen US-Amerikaner sind so manipuliert worden, dass sie sich als ein belagertes Volk wahrnehmen, dessen einziger Beschützer der Staat ist. Wenn die Kommunisten nicht mehr die Gefahr sind, dann ist es eben al-Qaida. Wenn’s nicht Kuba ist, dann Nikaragua.

Das führt dazu, dass die USA, die mächtigste Nation in der Welt, die über ein einzigartiges Arsenal an Waffen und eine Geschichte verfügt, in der sie immer wieder endlose Kriege geführt und angefeuert haben, und die als einzige jemals tatsächlich Atomwaffen eingesetzt hat, von völlig verängstigten Menschen bevölkert werden, die vor Schatten erschrecken. Es ist eine Bevölkerung, die an ihren Staat nicht durch sozialstaatliche Leistungen, eine staatliche Gesundheitsversorgung oder Beschäftigungsgarantien gebunden ist, sondern durch Angst.

Diese künstlich hergestellte Angst wird benutzt, um öffentliche Unterstützung für weitere Akte der Aggression zu erhalten. Und das sehen wir jetzt in einer Spirale sich selbst befeuernder Hysterie, die sich in den faszinierend bunten Terroralarmstufen ausdrückt, die die US-Regierung wöchentlich verkündet: gelb, türkis, rosa.

Für Außenstehende macht es dieses Verschmelzen von Staat und Bevölkerung in den Vereinigten Staaten oft schwer, die Handlungen der US-Regierung von den Menschen zu trennen. Gerade diese Verwirrung befeuert den Anti-Amerikanismus in der Welt.
Der Anti-Amerikanismus wird dann von der US-Regierung und ihren treuen Sprachrohren unter den Medienkonzernen aufgegriffen und aufgebauscht. Ihr kennt den üblichen Vortrag: „Warum hassen sie uns? Sie hassen unsere Freiheiten.“ Das verstärkt das Gefühl der Isolierung unter den US-Amerikanern und macht die Umarmung von Staat und Bevölkerung noch inniger.

Die Bedrohung durch einen äußeren Feind zu benutzen, um die Menschen hinter sich zu scharen, ist ein alter Hut, den Politiker sich durch die Jahrhunderte immer wieder aufgesetzt haben, um an die Macht zu kommen. Aber könnte es sein, dass einfache Menschen diese alte Masche satt haben und sich nach etwas anderem sehnen?

Vor der gesetzeswidrigen Invasion des Irak durch die USA zeigte eine internationale Umfrage, dass in keinem europäischen Land mehr als 11 Prozent der Befragten einen Krieg der USA guthießen. Am 15. Februar 2003, Wochen vor der Invasion, demonstrierten mehr als 10 Millionen Menschen in verschiedenen Ländern und auch in Nordamerika gegen den Krieg. Und trotzdem schlossen sich die Regierungen vieler vermeintlich demokratischer Länder dem Krieg an.

Die Frage ist: Ist die „Demokratie“ noch demokratisch? Sind die demokratischen Regierungen den Menschen, die sie gewählt haben, noch verantwortlich? Und vor allem: Ist die Bevölkerung in den demokratischen Ländern verantwortlich für die Taten der Regierung?

Wenn man genau überlegt, folgt der „Krieg gegen den Terrorismus“ genau derselben Logik wie der Terrorismus. Beide lassen die einfachen Menschen für die Handlungen von Regierungen bluten.

Al-Qaida ließ Amerikaner mit ihrem Leben für die Taten ihrer Regierung in Palästina, Saudi-Arabien, dem Irak und Afghanistan bezahlen. Die US-Regierung hat tausende Menschen in Afghanistan für die Taten der Taliban und hunderttausende Iraker für die Taten Saddam Husseins zahlen lassen.

Der entscheidende Unterschied ist, dass niemand die Taliban, al-Qaida oder Saddam Hussein gewählt hat. Aber der Präsident der Vereinigten Staaten wurde, wenn man so will, gewählt.

Die Staatsoberhäupter von Spanien, Italien und Großbritannien wurden gewählt. Könnte man dann sagen, dass die Einwohner dieser Länder mehr Verantwortung für die Taten ihrer Regierungen tragen als die Iraker oder die Afghanen?

Wessen Gott entscheidet darüber, was ein „gerechter Krieg“ ist und was nicht? Der frühere US-Präsident Bush senior sagte einmal: „Ich entschuldige mich nie für die Vereinigten Staaten, egal wie die Fakten aussehen.“ Wenn sich der Präsident des mächtigsten Landes der Welt nicht darum scheren muss, wie die Faktenlage ist, können wir uns endlich sicher sein, im Zeitalter des Empire zu leben.

Was also bedeutet „Macht der Öffentlichkeit im Zeitalter des Empire“? Bedeutet sie überhaupt irgendetwas? Existiert sie?

In diesen angeblich demokratischen Zeiten besteht die Lehrmeinung darauf, dass die Öffentlichkeit ihre Macht durch den Wahlzettel ausübt. Aber Tatsache ist, dass die ganze parlamentarische Demokratie zu einem Vorgang zynischer Manipulation verkommen ist. Die Demokratie bietet uns heute nur noch einen sehr begrenzten Spielraum. Es wäre naiv zu glauben, dass dieser Raum uns wirkliche Wahlmöglichkeiten lässt.

Die Krise der modernen Demokratie geht sehr tief. Außerhalb des Zugriffs von Nationalstaaten regieren auf der globalen Ebene internationale Handels- und Finanzinstrumente ein kompliziertes System internationaler Gesetze und Vereinbarungen, die eine systematische Enteignung von Ausmaßen garantieren, die den Kolonialismus bei weitem in den Schatten stellt.

Dieses System erlaubt es Spekulanten, ohne Einschränkungen riesige Summen Kapitals in Dritt-Welt-Länder einzuführen und wieder abzuziehen und dadurch deren Wirtschaftspolitik zu bestimmen. Das internationale Kapital setzt die Drohung der Kapitalflucht ein, um tiefer und tiefer in diese Wirtschaftsräume vorzudringen. Gewaltige transnationale Konzerne übernehmen die Kontrolle über die grundlegende Infrastruktur, den natürlichen Reichtum, die Bodenschätze, das Wasser und die Elektrizität dieser Länder.

Die Welthandelsorganisation, der Internationale Währungsfonds und andere Finanzinstitutionen wie die „Asiatische Entwicklungsbank“ schreiben den Parlamenten die Gesetze vor, die diese dann nur noch absegnen können. Mit einer tödlichen Mischung aus Arroganz und Rücksichtslosigkeit gehen sie mit dem Vorschlaghammer auf zerbrechliche, miteinander verwobene und historisch gewachsene Gesellschaften los und verwüsten sie.

All das wird uns unter dem beschönigenden Namen „Reform“ verkauft. Diese „Reform“ hat bereits dazu geführt, dass in Afrika, Asien und Lateinamerika tausende kleiner Unternehmen bankrott sind und Millionen Arbeiter und Bauern ihre Arbeitsplätze und ihr Land verloren haben.

Das Magazin Spectator aus London versichert uns, dass wir „in der glücklichsten, gesündesten und friedlichsten Epoche der Menschheitsgeschichte leben“. Milliarden fragen sich: „Wer sind ‚wir’? Wo wohnen die? Wie heißen die?“

Es ist wichtig zu verstehen, dass die moderne Demokratie auf der fast religiösen Annahme und Akzeptanz des Nationalstaats gründet. Für die Globalisierung der Konzerne trifft das nicht zu und auch nicht für flüssiges Kapital. Obwohl das Kapital den Gewaltapparat des Nationalstaates braucht, um Aufstände unter den Dienern niederzuschlagen, stellt der Aufbau der Globalisierung doch sicher, dass sich kein einzelner Staat erfolgreich gegen sie wehren kann.

Radikale Veränderungen können und werden nicht von Regierungen ausgehandelt werden. Veränderungen können nur von den Menschen durchgesetzt werden: durch die Bevölkerung, und zwar durch eine Bevölkerung, die bereit ist, sich über Grenzen hinweg die Hände zu reichen.

Wenn wir daher von der „Macht der Öffentlichkeit im Zeitalter von Empire“ sprechen, glaube ich, dass die einzige Öffentlichkeit, die es wert ist, ernsthaft diskutiert zu werden, eine ist, die Widerspruch erhebt: eine Bevölkerung, die sich gegen das ganze Konzept des Empire wendet; eine Bevölkerung, die sich gegen jede bestehende Macht aufbäumt: gegen nationale, internationale oder regionale Regierungen und Institutionen, die das Empire unterstützen und ihm dienen.

Welche Wege stehen jenen offen, die Widerstand gegen das Empire leisten wollen? Und mit Widerstand meine ich nicht nur gesprochene Rede, sondern wirksam durchgesetzte Veränderung.

Dem Empire stehen verschiedene Tricks zur Verfügung. Es hat unterschiedliche Waffen, mit denen es unterschiedliche Märkte aufbricht.

Armen Menschen in vielen Ländern erscheint das Empire nicht in der Form von Marschflugkörpern oder Panzern wie in Afghanistan, im Irak oder in den 70er Jahren in Vietnam. Es begegnet ihnen in sehr verschiedenen Formen: Sie verlieren ihren Job, sollen unbezahlbare Raten für Strom und Wasser zahlen, werden aus ihren Wohnungen geworfen und von ihrem Land vertrieben. All dies wird von der Gewaltmaschinerie des Staates überwacht – von Polizei, Armee und dem Justizapparat.

Das Empire stellt sich als ein fortschreitender Prozess rücksichtloser Verarmung dar, den die Armen durch die Jahrhunderte hindurch ertragen mussten. Das Empire verfestigt und vergrößert bereits bestehende Ungleichheiten.

Noch bis vor kurzem war es vielen Menschen unmöglich, einzusehen, dass sie Opfer der Eroberungen des Empire waren. Aber mittlerweile haben die örtlichen Kämpfe begonnen, ihre Rolle mit größerer Klarheit zu wahrzunehmen.

Die Menschen stellen sich dem Empire alle auf ihre besondere Weise. Ihre Kämpfe unterscheiden sich im Irak, in Südafrika, Indien, Argentinien oder auf den Straßen von Europa oder den USA.

Massenwiderstandsbewegungen, einzelne Aktivisten, Journalisten, Künstler und Filmemacher sind zusammengekommen, um dem Empire den Lack abzukratzen. Sie haben die Puzzlestücke zusammengesetzt und sprechen nicht von Statistiken und Vorstandsreden, sondern von echter Geschichte über echte Menschen und echtes Elend.

Sie haben gezeigt, wie neoliberale Projekte Menschen um ihre Wohnstätten, ihr Land, ihre Jobs, ihre Freiheit und ihre Würde gebracht haben. Das Unfassbare wurde fassbar gemacht. Der einstmals scheinbar körperlose Feind hat nun einen Leib.

Das ist ein großer Sieg, der durch das Zusammenkommen unterschiedlicher politischer Gruppen mit verschiedenen Strategien erreicht wurde. Aber sie alle haben erkannt, dass ihr Zorn, ihr Aktivismus und ihre Hartnäckigkeit sich gegen dasselbe Ziel richten. Das war der Anfang der wirklichen Globalisierung, der Globalisierung der Kritik.

Der hier abgedruckte Text besteht aus Auszügen einer Rede, die Arundhati Roy vor einem halben Jahr in den USA hielt.

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