Vorwärts zu den Wurzeln!

Bernd Riexinger spricht im Interview über Perspektiven der Gewerkschaftsbewegung unter der Großen Koalition.


Bernd Riexinger ist Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart-Ludwigsburg und Mitglied im Landesvorstand der WASG Baden-Württemberg.

Oskar Lafontaine meint, eine Große Koalition sei ein kleineres Übel als Schwarz-Gelb. Hat er Recht damit?

Jein. Einerseits muss man feststellen, dass Wahlen auch Stimmungen und Kräfteverhältnisse in der Bevölkerung ausdrücken. Klar ist, dass weder die Agenda-Politik von Schröder, noch deren Verschärfung durch Merkel und Westerwelle von den Wählern bestätigt wurden. Dieser Politik wurde eine Absage erteilt.
Eine Große Koalition muss darauf Rücksicht nehmen. Sie kann also nicht in der gleichen Form einen neo-liberalen Durchmarsch machen wie es CDU und FDP gekonnt hätten.
Andererseits sehen wir an den ersten Ergebnissen der Koalitionsverhandlungen, dass ein rigider Sparkurs gefahren wird. Es wird weitere Einschnitte ins soziale Netz geben. Die Rentner werden angegriffen und die üble Diskussion über „parasitäres“ Verhalten bei Hartz IV deutet darauf hin, dass ein neuer Angriff auf die Erwerbslosen gestartet wird. Das hat unter Schröder genauso angefangen. Es kommt also eine weitere Welle von Sozialabbau auf uns zu. Es werden weiterhin die Unternehmen entlastet, womit einerseits die öffentlichen Kassen nicht saniert und andererseits der Druck auf die Kommunen, die öffentlichen Einrichtungen und die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst größer wird.
Die ganz harten Angriffe gegen die Gewerkschaften z.B. beim Kündigungsschutz wird es erst einmal nicht geben. Eine substantielle Richtungsänderung der Politik allerdings auch nicht.

Der DGB hat Wahlkampf gegen eine Politik der „sozialen Kälte“ gemacht. Gibt es Anzeichen für einen Kurswechsel bei DGB oder Einzelgewerkschaften?

Ich erwarte keinen grundlegenden Politikwechsel des DGB. Die politische Krise der Gewerkschaften ist nicht beendet.
Wahrscheinlich wird es ein Schwanken zwischen Anschlussfähigkeit an die Große Koalition und Widerstand gegen diese Politik geben. Der Grad des Widerstandes hängt davon ab, wie weit die Vertrauensleute und Betriebsräte, wie weit die Mitglieder und Bezirke sich in diesen Prozess einmischen.

Du arbeitest für ver.di und im Landesvorstand der WASG Baden-Württemberg. Hat die neue Partei Diskussionen in der Gewerkschaft ausgelöst?

Ich erfahre in meinem Umfeld, dass viele dieses Projekt mit Interesse beobachten. Viele Gewerkschafter machen selbst bei der WASG mit, die Mehrheit steht der neuen Partei beobachtend, aber wohlwollend gegenüber.
Besonders vor der Wahl gab es Konflikte mit sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaftern. Nach der Wahl wurde das Verhältnis unverkrampfter, da viele gesehen haben, dass die Linkspartei dazu beigetragen hat, einen schwarz-gelben Durchmarsch zu verhindern.

VW hat seine Arbeiter in Emden mit der Drohung, ein neues Modell in Portugal montieren zu lassen, zu Lohneinbußen überredet. Heißt das, dass die Gewerkschaften der Globalisierung ausgeliefert sind? Haben wir an Kampfkraft verloren?

Ja, wir haben an Kampfkraft verloren. Die Gewerkschaften haben immer noch keine Strategie gegen die Kapitaloffensive.
Es wird darüber diskutiert, welchen Grad an Globalisierung wir haben, zu welchem Teil „Globalisierung“ Ideologie und Erpressung ist und wie viel eine größere Standortunabhängigkeit tatsächlich ausmacht. Unter größerer Standortunabhängigkeit verstehe ich, dass das Kapital Produktionsanlagen oder Dienstleistungen tatsächlich profitabel in andere Länder verlagern kann, obwohl ihnen hier eine einzigartige Infrastruktur, hohe Qualifikation der Beschäftigten und eine hohe Produktivität zu Verfügung stehen.
Meiner Meinung nach haben wir beides, sowohl eine größere Standortunabhängigkeit als auch ein größeres Ausnützen ihres Erpressungspotentials um die Standards zu senken. Die Gewerkschaften müssten darauf sowohl mit härterem Widerstand gegen Standortverlagerungen (z.B. Betriebsbesetzung) als auch mit einer stärkeren Internationalisierung ihrer Politik reagieren. Erst dann werden sie aus der Defensive herauskommen.

In deiner Broschüre „Gewerkschaften in der Globalisierungsfalle“ schreibst du, dass die Gewerkschaften sich in der Globalisierung neu erfinden müssen. Was meinst du damit?

Zum einen haben wir weiterhin auch national große Spielräume. Es stimmt einfach nicht, dass das deutsche Kapital nicht konkurrenzfähig ist oder der Standort Probleme hätte. Hier gibt es ein vorschnelles Zurückweichen der Gewerkschaften, gerade auch bei gut verdienenden Großkonzernen.
In der Tat brauchen wir aber auch gewerkschaftliche Strategien entlang der Produktions- und Logistiklinien, um internationale, insbesondere europäische, Kampfkraft zurück zu gewinnen.
Heute ist die Gegenmachtfunktion der Gewerkschaften nötiger denn je. Gewerkschaften können ihre potentielle Kraft dann wieder erlangen, wenn sie sich radikal interessenbezogen neu formieren und sich zugleich organisatorisch entlang der veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen erneuern.

Die Forderung nach internationaler Vernetzung von Gewerkschaften und Betriebsräten ist auf der Linken sehr populär. Ist das eine realistische Perspektive in Zeiten der Misere auf dem Arbeitsmarkt? Beschäftigte waren in letzter Zeit aus Angst vor Entlassung zu vielen Zugeständnissen bereit …

Eine Vernetzung ist sicher nicht einfach, würde aber genau dieser Stimmung entgegen wirken, sofern eine solche überhaupt noch besteht. Derzeit sagen viele Leute eher: „Jetzt ist Schluss mit Verzicht“.
Viele Menschen insbesondere in den unteren und mittleren Einkommensgruppen sind an Grenzen gekommen, wo weiterer Verzicht radikal an ihren Lebensstandard gehen würde. Man kann deshalb eine erhöhte Bereitschaft zu Gegenwehr feststellen. Ein Beispiel ist der Kampf gegen die Arbeitszeitverlängerung im Öffentlichen Dienst. Hier ist die Streikbereitschaft größer, als viele eingeschätzt haben.
Andererseits kann eine internationalistische Perspektive den praktischen Kämpfen Auftrieb geben. Es darf nicht beim Abstrakten bleiben, wir brauchen konkrete gewerkschaftliche Projekte, die den nationalen Rahmen sprengen.
Um ein paar Beispiele zu nennen: Erstens kann das an der Frage der Arbeitszeit entwickelt werden: Der Kampf um Arbeitszeiten kann zum Beispiel europäisiert werden. Das könnte etwa dadurch geschehen, dass sich die europäischen Gewerkschaften auf eine gemeinsame Arbeitszeitinitiative verständigen und je nach nationalen Eigenheiten tarifliche oder/und gesetzliche Forderungen stellen und die entsprechenden Initiativen ergreifen. Am Anfang dieses Prozesses könnte eine Arbeitszeitkampagne stehen, die europaweit gestartet wird. Zweitens beim Kampf gegen Arbeitsplatzvernichtung und Standortverlagerung: Hier gab es schon Protestaktionen bei einzelnen Konzernen wie z.B. Alstom, wo alle Standorte einbezogen wurden. Diese Ansätze müssen aufgegriffen und verbreitert werden. Drittens könnten Kämpfe gegen die Privatisierung, die sehr stark durch die EU-Gesetzgebung vorangetrieben wird und besonders meine Gewerkschaft betrifft, aufgebaut werden.
In Bereichen wie dem Öffentlichen Nahverkehr, wo es auch international eine gute gewerkschaftliche Organisierung gibt, können und müssen gemeinsame europäische Aktionen organisiert werden.

In Frankreich macht sich in den letzten Jahren eine zunehmende Militanz an der Basis mancher Gewerkschaften bemerkbar, zum Beispiel bei der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF. Ist in Deutschland eine vergleichbare Entwicklung möglich?

Natürlich hinken Vergleiche immer. Zudem muss man auch in Frankreich genauer hinschauen. Natürlich waren die Generalstreiks erfolgreiche Aktionen. Man sollte aber auch fragen: Was passiert zwischen diesen Streiks, wie weit begrenzen sie sich auf den Öffentlichen Dienst und wie sieht es in der Privatwirtschaft aus?
Ich gehe aber davon aus, dass sich auch bei uns in Deutschland die Kämpfe in der nächsten Zeit radikalisieren werden. Die Bereitschaft des Kapitals Kompromisse zu schließen wird immer kleiner. Viele Kolleginnen und Kollegen sagen, dass wir darauf mit einer entschiedeneren Gegenwehr antworten müssen.
Die große Frage, gerade der Linken, wird sein: Gelingt es, die einzelnen Kämpfe stärker zu politisieren? Die Kämpfe müssen aus ihrer Isolation geholt und politisch verallgemeinert werden, wodurch eine größere Stoßkraft möglich wäre. Unter Verallgemeinerung verstehe ich, dass z.B. Betriebe, die einen Abwehrkampf führen dabei nicht alleine gelassen werden. Für mich ist es bis heute unverständlich, warum jeder Automobilkonzern sich den Angriffen seiner Konzernleitung alleine stellen musste. Warum war es nicht möglich die Belegschaften aller Automobilkonzerne gemeinsam zu mobilisieren? Mir ist dazu nicht einmal ein Versuch bekannt. Ähnlich ist es mit der Privatisierung. Jedes Krankenhaus kämpft für sich alleine. Ver.di macht dies nicht zu einer gesellschaftlichen Frage. Unter Politisierung verstehe ich unter anderem, dass die betrieblichen oder tariflichen Auseinandersetzungen zu gesellschaftlichen Fragen gemacht werden und an die Bevölkerung herangetreten wird. Die Privatisierung eines Krankenhauses oder die Vernichtung von tausenden von Arbeitsplätzen ist nicht nur eine Frage der betroffenen Beschäftigten sondern mindestens auch der betroffenen Region. Die Angriffe der Arbeitgeber müssen auch auf der gesellschaftlichen Ebene zurückgewiesen werden. Welche Gesellschaft bekommen wir, wenn sich die Kapitalseite durchsetzt? Das Kapital macht das. Jeder Konflikt wird zum Untergang des Standortes hochstilisiert.

Kann die WASG dabei eine Rolle spielen? Sollte die WASG Betriebsgruppen gründen?

Die WASG kann mindestens zwei Dinge tun:
Erstens: Sie kann zum Sprachrohr derjenigen Teile der Gewerkschaften werden, die eine konsequente Gegenwehr wollen und eine politische Perspektive suchen, die über den Anpassungsprozess hinausgeht. Das würde in den Gewerkschaften auf einen fruchtbaren Boden fallen.
Die WASG darf sich deshalb nicht auf die parlamentarische Ebene beschränken. Sie muss sich mit politischen Positionen in die konkreten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einmischen. Sie muss Stellung beziehen, wenn Belegschaften um Arbeitsplätze kämpfen, wenn Tarifauseinandersetzungen stattfinden. Sie muss sich in den Gewerkschaften auf die Seite derjenigen stellen, die eine konfliktorientierte Linie fordern.
Zweitens: Die Kräfte zur Gründung von Betriebsgruppen reichen wohl noch nicht, aber in einzelnen Fällen kann das schon jetzt sinnvoll und möglich sein. Viel wichtiger ist aber überall eine Verankerung vor Ort in den gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen.
Das kann dadurch gelingen, dass die WASG Leute gewinnt, die in diesen Auseinandersetzungen schon eine Rolle spielen. Die Wahlalternative kann überzeugen durch ihre Ideen und dadurch, dass sie in den Auseinandersetzungen etwas zu sagen hat und den Leuten eine Orientierung gibt. Natürlich gilt das ebenso für die Linkspartei, die damit vielleicht mehr Schwierigkeiten hat als die WASG.

Bernd, ich danke Dir für das Interview.

Das Interview führte Dirk Spöri

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