Die zwei Roten Jahre

Im Juli werden in Genua bis zu 100.000 bei Protesten gegen den G8-Gipfel erwartet. Damit knüpft sie an eine lange Tradition des Widerstandes in Italien an. Einer der Höhepunkte der Geschichte des Widerstandes waren die Biennio Rosso die zwei Roten Jahre in Italien 1919 und 1920. In diesen Jahren wurden in ganz Norditalien Fabriken besetzt und von den Arbeitern unter Kontrolle genommen. Eine Arbeiterrevolution war greifbar.
Linksruck erzählt die Geschichte der Biennio Rosso und zieht die Lehren für heute.

Die Grauen des I. Weltkriegs waren die Grundlage für eine revolutionäre Welle in Europa. Obwohl Italien erst 1915 in den Krieg eingetreten war und am Ende zu den Siegern zählte, waren die Verluste fürchterlich. 600.000 Soldaten wurden getötet, 700.000 verkrüppelt, bei einer Bevölkerung von 35 Millionen.


Diese Erfahrung brachte Millionen Arbeiter in Opposition zur Regierung. Die Bewegung begann in Turin, dem Zentrum der Autoproduktion, wo die industrielle Arbeiterklasse am stärksten war. 1915 versuchten die Arbeiter in Turin, einen Generalstreik gegen den Krieg zu starten. An Kraft gewann die Bewegung jedoch erst 1917. Das hatte seinen Grund. Das Schlachten des I. Weltkriegs hatte die Möglichkeit für eine Radikalisierung geschaffen. Doch damit aus tiefer Ablehnung auch Widerstand wird, braucht es oft ein inspirierendes und erfolgreiches Beispiel von Widerstand. Die Russische Revolution von 1917, in der mit dem Zaren einer der reaktionärsten Herrscher überhaupt gestürzt wurde, gab dieses Beispiel. Eine Delegation aus Rußland wurde 1917 in Italien mit "Viva Lenin"-Rufen begrüßt. Ein Historiker beschreibt die Stimmung: "In Turin wurden die Russen begeistert begrüßt. Eine Woche später befand sich die Stadt im Aufstand."



Aufstand



Der Aufstand brach los, weil achtzig Bäckereien wegen Brotmangel nicht öffneten. Tausende Frauen und Männer füllten die Straßen, forderten Brot und bald darauf ein Ende des Krieges. Ein Arbeiter: "Wir hörten auf zu arbeiten, versammelten uns vor dem Fabriktor und schrien: Wir haben nichts gegessen. Wir können nicht arbeiten. Wir wollen Brot.


Der Boß meiner Firma, Pietro Diatto war sehr besorgt und schmierte den Arbeitern Honig um den Bart:


‘Ihr habt recht. Wie kann jemand arbeiten, ohne zu essen? Ich rufe gleich bei der Militärversorgung an und bestelle einen Lastwagen voll Brot. Unterdessen geht bitte zurück zur Arbeit, in eurem Interesse und im Interesse eurer Familien’.


Die Arbeiter wurden einen Moment still. Für einen Augenblick schauten sie einander an, als ob sie schweigend die Meinung der anderen abschätzten. Dann schrien alle gemeinsam los: Brot interessiert uns nicht. Wir wollen Frieden! Nieder mit den Profiteuren! Nieder mit dem Krieg!"


Der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen, 50 Arbeiter starben, 800 wurden verhaftet. Den Herrschenden war es noch einmal gelungen, die Armee gegen die Arbeiter zu mobilisieren. Zwei Jahre später befand sich die italienische Gesellschaft in Auflösung, das Heer zersetzte sich und eine Streikwelle brandete wie eine Flut durch Norditalien.



Fabrikkomitees



Das Ende des Krieges brachte kein Ende des Elends. Essensmangel und chronische Inflation heizten die Stimmung an: 1919 brachen Wellen von Streiks, Landbesetzungen, Demonstrationen und Straßenschlachten über das Land herein. Es nahm quasi-revolutionäre Formen an. Arbeiter, die aus der Kriegswirtschaft kamen und Bauern, die die Armee verließen, waren durchtränkt mit Haß auf den Krieg und diejenigen, die vom Krieg profitiert hatten. Es gab eine instinktive, und oft genug auch eine bewußte Ablehnung des kapitalistischen Systems als solches. In diesen Kämpfen lernten die Arbeiter, sich selbst zu organisieren. Fabrikkomitees wurden gegründet, um die Streiks zu koordinieren und die Arbeiter zu vertreten. In Turin gründete sich Ende 1919 ein stadtweites Fabrikkomitee, welches die gesamte Turiner Arbeiterschaft repräsentierte. In den Kämpfen gegen das Bestehende entstanden schemenhaft die Umrisse einer zukünftigen Gesellschaft.


Die 1919 gelegten Keime der Arbeitermacht blühten auf, als 1920 die Bewegung ihren Höhepunkt erreichte. Im April 1920 streikten eine halbe Million Arbeiter, als die Bosse mit Unterstützung der Regierung versuchten, die Turiner Fabrikkomitees aufzulösen.


September 1920 kam die Eskalation: Nach gescheiterten Tarifverhandlungen beschlossen die Metallarbeiter einen Bummelstreik. Am 30. August sperrte ein Unternehmer in Mailand seine Arbeiterschaft aus. Sofort besetzten die Arbeiter Mailand alle ihre Fabriken in der Stadt. Am 31. August dehnten Metallarbeitgeber die Aussperrung auf das ganze Land aus und bis zum 4. September hatten 400.000 Metallarbeiter in ganz Italien ihre Fabriken besetzt. Wenige Tage später war es eine Million.



Besetzungen



Diese Fabrikbesetzungen waren keine üblichen Lohnauseinandersetzungen. Fabrikräte kontrollierten die besetzten Anlagen. Rote Garden verteidigten sie. Die besetzenden Arbeiter setzen die Produktion fort, wobei ihnen das nötige Material oftmals von der Eisenbahnergewerkschaft angeliefert wurde. In einigen Fällen dehnten sich die Besetzungen auf benachbarte Gaswerke und chemische Betriebe aus. Folgende Geschichte faßt die Stimmung zusammen. Der Vertreter einer Transportfirma rief bei den Fiat-Werken in Turin an, in der Hoffnung, den Manager zu sprechen:


"Hallo. Wer ist da?


Hier ist der Fiat-Sowjet.


Ah!… Entschuldigung… Ich rufe wieder zurück"



Sprungbrett



Die Fabrikbesetzungen hätten das Sprungbrett für die Herausforderung des bestehenden Systems und die Revolution sein können. Sie wurden es aber nicht, weil die Führung der Bewegung sie nicht dazu machte. Arbeiter können ihre Fabriken nicht für immer besetzen. Sie hatten erfolgreich die Produktion wieder aufgenommen. Doch den Handel und Warenverkehr zwischen den Fabriken zu starten, war wesentlich schwieriger. Das Bankwesen, der Außenhandel und alle anderen Institutionen, die notwendig sind, um eine Wirtschaft zu führen, waren in der Hand des italienischen Staates. Die Arbeiter konnten Güter produzieren, bekamen aber kein Geld für sie und konnten sich nicht ernähren. Es gab zwei Möglichkeiten: Nach vorne gehen und den Italienischen Staat und das gesamte System herausfordern, oder zurückweichen. Das letztere passierte, die Bewegung blieb stehen und brach dann zusammen, was eine ungeheure Demoralisierung zur Folge hatte. Diese Entwicklung war nicht unvermeindlich, sondern die Folge des katastrophalen Versagens der Sozialistischen Partei PSI und des Gewerkschaftsbundes CGL, die die Führung der Bewegung stellten.



Passivität



Die PSI war die traditionelle Sozialdemokratie Italiens. Anders als ihre Schwesterparteien in England, Frankreich und Deutschland lehnte sie den Ersten Weltkrieg ab, wenn auch nicht ohne Schwankungen. Im internationalen sozialdemokratischen Vergleich stand die PSI linksaußen. Das ermöglichte ihr, zwischen 1918 und 1920 von 30.000 auf 200.000 Mitglieder anzuwachsen. Der mit der PSI eng verbundene Gewerkschaftsbund CGL wuchs im gleichen Zeitraum von 250.000 auf zwei Millionen Mitglieder.


Die Führung der PSI gebärdete sich außerordentlich revolutionär. Die Parteizeitung Avanti rief Ausgabe für Ausgabe zur Revolution und revolutionärem Kampf auf und propagierte den Marxismus. Welche Art von Marxismus sie vertrat, zeigt aber die Äußerung von Giacomo Serrati, einem Führer der PSI: "Wir Marxisten interpretieren Geschichte, wir machen sie nicht!" eine Behauptung, die in direktem Widerspruch zu Marx Auffassung steht, Aufgabe sei nicht, die Welt nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern. So sah dann auch die Politik während der zwei roten Jahre aus: Die Führung der PSI blieb durchgehend passiv und war außerstande, an entscheidenden Wendepunkten die Initiative zu ergreifen.



Führung



Die langjährige Auffassung, die Gewerkschaft sei für das Praktische (Arbeitskämpfe, Betriebsarbeit) und die Partei für das Politische (Propaganda, Schulung, Parlamentsarbeit) zuständig, rächte sich nun bitterlich. Die Führer der linken Mehrheit in der PSI waren wohl gewohnt zu analysieren und zu reden. Aber weder sie noch die meisten linken Funktionäre waren in den Jahren zuvor trainiert worden, praktisch in Kämpfe einzugreifen und diese zu führen. Während der Fabrikbesetzungen im September 1920 führte diese Schwäche in die Katastrophe. Revolution lag in der Luft. Dringend gebraucht wurde eine Vernetzung der Fabrikkomitees zu stadt- und landesweiten Räten und die Aufstellung von Arbeitermilizen, um der Macht des bürgerlichen Staates Arbeitermacht gegenüberzustellen.


Statt dessen organisierte die Gewerkschaftsführung eine Konferenz. Es ist eine absurde Situation: Inmitten einer revolutionären Situation, wo Führung vor Ort bitter notwendig gewesen wäre, treffen sich Gewerkschaftsfunktionäre und debattieren, ob es eine Revolution geben soll oder nicht. Das Ende vom Lied: Die Revolution wurde mit 591.245 zu 409.569 Blockstimmen abgelehnt und die Bewegung beendet. Die zwei roten Jahre scheiterten im bürokratischen Treibsand. Die italienische Arbeiterbewegung erholte sich von dieser Niederlage nicht. Die italienischen Bosse, bis ins Mark erschreckt durch die Bewegung, die ihnen fast die Macht aus den Händen genommen hatte, holten zum Gegenschlag aus. Dabei bedienten sie sich der faschistischen Bewegung von Benito Mussolini, die nach der Niederlage der Biennio Rosso schnell an Stärke gewann und schon zwei Jahre später triumphal in Rom einmarschierte. Dennoch bleiben die zwei Roten Jahre von Italien ein inspirierendes Beispiel davon, wie Arbeiter aus den gewohnten Wegen ausbrechen und den Kampf um die Macht aufnehmen.


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