Rosa Luxemburg und die Tradition des Sozialismus von unten

Die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts jährte sichim Januar zum 80. Male. Sensationelle 100.000 Menschen pilgerten zu ihren
Gräbern. Dennoch: Die marxistische Linke steckt in einer grundsätzlichen
Orientierungskrise. Kann es eine Erneuerung der sozialistischen Bewegung
jenseits von Reformismus und Stalinismus geben?
Ein exzellenter Ausgangspunkt sind die Theorien Rosa Luxemburgs.

Als Rosa Luxemburg im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts begann,
sich in die Debatten der SPD einzumischen, stand diese am Scheideweg.

Noch immer stand der revolutionäre Umsturz der kapitalistischen
Gesellschaft auf den Fahnen der Partei.

Ständiger Mitglieder- und Stimmenzuwachs der SPD, der Zustrom
fortschrittlicher Kleinbürger und ein gleichzeitig anhaltendes Wirtschaftswachstum
säten jedoch die Auffassung, gewerkschaftlicher und parlamentarischer
Kampf reichten aus, um den Kapitalismus grundlegend zu verändern.

Eine rechte Strömung begann sich zu regen, die aus der SPD jene
zahme Reformpartei machen wollte, die sie einige Jahre später tatsächlich
werden sollte.

Der Hauptvertreter dieser Richtung, Eduard Bernstein, handelte sich
eine heftige Attacke Rosa Luxemburgs ein.

Vor allem in ihrem Werk „Sozialreform oder Revolution“ zerlegte sie
seine Thesen restlos.

Staat

Die Auffassung der Bernsteinianer, man komme durch Konzessionen an
die Interessen des Kapitals am besten und schnellsten zu Reformen, lehnte
sie schroff ab.

Wie sie in einem Artikel in der Sächsischen Arbeiter-Zeitung 1898
ausführt:

„…eine bürgerliche Partei, das heißt eine Partei, die
zur bestehenden Ordnung im ganzen Ja sagt, die aber zu den tagtäglichen
Konsequenzen dieser Ordnung Nein sagen will, das ist ein Zwitterding, ein
Gebilde, das weder Fleisch noch Fisch ist.

Ganz umgekehrt liegen die Dinge bei uns, die wir in grundsätzlichem
Gegensatz zu der ganzen gegenwärtigen Ordnung stehen. Bei uns liegt
in dem Nein, in der unversöhnlichen Haltung unsere ganze Kraft.

(…) Nur weil wir keinen Schritt von unserer Position weichen, zwingen
wir die Regierung und die bürgerlichen Parteien uns das wenige zu
gewähren, was an unmittelbaren Erfolgen zu erringen ist.

Fangen wir aber an, im Sinne des Opportunismus ‘dem Möglichen’
unbekümmert um die Prinzipien und auf dem Wege staatsmännischer
Tauschgeschäfte nachzujagen, geraten wir bald in die Lage des Jägers,
der das Wild nicht erlegt und zugleich die Flinte verloren hat.“

Reform

Mit diesen Worten begegnete sie den Rechten in den sozialdemokratischen
Landtags- und Reichtagsfraktionen.

Diese fanden es durchaus vertretbar, beispielsweise einer Erhöhung
des Militäretats zuzustimmen, um im Gegenzug demokratische Reformen
gewährt zu bekommen.

Die schädlichen Folgen dieser Prinzipienlosigkeit sind heute zu
besichtigen. Mit jedem „Erfolg“, den sich die SPD durch Kuhhandeleien dieser
Art erkauft, verabschiedet sie sich einen weiteren Schritt von ihren ursprünglichen
Zielen.

Was aber ist mit objektiv fortschrittlichen Maßnahmen einer kapitalistischen
Regierung? Lehnen Revolutionäre die Einführung jegliche sozialer
Reformen ab? Stehen sie der Verbesserung der Lebensverhältnisse innerhalb
des bürgerlichen Parlamentarismus also gleichgültig oder gar
feindselig gegenüber?

Diesen Fehler begehen viele Linke. Sie glauben, der Kampf um Reformen
stärke die Illusionen in das System und damit den Reformismus.

Scheinbar im Einklang mit dieser Auffassung wies Luxemburg zunächst
die Hoffnung der Bernsteinianer zurück, man könne den bürgerlichen
Staat als Zugpferd vor den Wagen des Sozialismus spannen.

„Der heutige Staat ist eben keine ‘Gesellschaft’ im Sinne der ‘aufstrebenden
Arbeiterklasse’, sondern Vertreter der kapitalistischen Gesellschaft, d.h.
Klassenstaat. Deshalb ist auch die von ihm gehandhabte Sozialreform (…)
eine Kontrolle der Klassenorganisation des Kapitals über den Produktionsprozeß
des Kapitals. Darin, d.h. in den Interessen des Kapitals, findet auch die
Sozialreform ihre natürlichen Schranken.“

Ewigkeit

Für Bernstein war der Kampf um den nächsten kleinen Schritt
der erschöpfende Inhalt sozialistischer Tätigkeit.

Kein noch so umfassendes Reformwerk kann aber, wie Luxemburg argumentierte,
für die Ewigkeit gebaut sein.

Denn die Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems garantiert keine
Errungenschaft. Was heute erreicht ist, muß schon morgen wieder verteidigt
werden.

In ihrer Arbeit „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft“ über die
erste russische Revolution von 1905 vergleicht Luxemburg die ständige
Reformarbeit mit dem griechischen Sagenhelden Sisyphos.

Er war von den Göttern dazu verdammt, einen Felsbrocken einen
Berg hinaufzuwälzen, um immer aufs Neue erleben zu müssen, wie
sich der Stein kurz vor dem Gipfel als stärker erweist und hinabrollt
– auf die Dauer ein frustrierendes Geschäft.

Luxemburg glaubte also weder an eine Abschaffung des Kapitalismus durch
Reformen noch an eine grundlegende und dauerhafte Verbesserung der sozialen
Lage ohne Revolution.

Dennoch stammt der Satz, die Revolutionäre müßten die
besten und entschlossensten Kämpfer für Reformen sein, ebenfalls
aus ihrer Feder.

Luxemburg löst diesen Widerspruch dialektisch auf.

Für sie ist nicht die Reform oder Lohnerhöhung an sich der
eigentlich bedeutsame Schritt. Sondern die erfolgreiche Erfahrung derer,
die dafür gekämpft haben.

Deren gestiegene Kampfkraft ist es, die das Kräfteverhältnis
zwischen Kapital bzw. Staat und Arbeiterbewegung verändert.

„Die große sozialistische Bedeutung des gewerkschaftlichen und
politischen Kampfes besteht darin, daß sie die Erkenntnis, das Bewußtsein
des Proletariats sozialisieren, es als Klasse organisieren.“

Das ständige Ringen um konkrete, oftmals banale Reformen ist also
die Kampfschule der Bewegung. Alle Dynamik, alle Erfahrung und alles Selbstbewußtsein
der Arbeiterbewegung rühren daher.

Sisyphos setzt Muskeln an.

Revolution

Entscheidend war für sie folglich die Beziehung zwischen dem Tageskampf
um beschränkte Ziele und dem Kampf um das endgültige Ziel der
sozialistischen Revolution.

Deshalb ist das ‘Wie’ zentral. Der Kampf um Reformen darf nicht als
interner Papierkrieg von Experten und Parlamentariern geführt werden.

Entscheidend ist die eigenständige Aktivität der Massen.

Nur so kann die Arbeiterklasse genug Kampferfahrung sammeln, um eines
Tages einen Zusammenbruch des Kapitalismus wie die Krisen 1917-19 oder
in den 30er Jahren zur revolutionären Machtübernahme nutzen zu
können.

Diese Betonung des eigenständigen Kampfs grenzt Luxemburg nicht
nur gegen die reformistische Sozialdemokratie ab, für die die Aufgabe
der Massen lediglich im Wahlakt besteht.

Sie ist auch mit dem diktatorischen Partei- und Personenkult des Stalinismus
nicht unter einen Hut zu bringen.

Der Glaube, man könne den Sozialismus durch die Panzer einer vermeintlich
roten Armee einführen, paßt nicht zum Konzept der Selbstemanzipation
der Arbeiterklasse durch eigenes Handeln.

Partei

Damit die Arbeiterklasse ihre im erfolgreichen Tageskampf erworbenen
Muskeln aber auch einsetzt, braucht es mehr, als rein gewerkschaftliches
Selbstbewußtsein.

Letztlich entscheidend ist das politische Bewußtsein der Klasse.

Rosa Luxemburg war von ihrem 16. Lebensjahr an ununterbrochen in sozialistischen
Parteien organisiert. Sie wußte um die Notwendigkeit revolutionärer
Organisation.

Diese Partei muß Speerspitze und Gedächtnis der Bewegung
zugleich sein.

Sie argumentiert jederzeit und innerhalb der Tageskämpfe dafür,
die im Sisyphos-Kampf um Reformen erworbenen Muskeln einzusetzen, um die
falschen Götter gemeinsam vom Thron zu stoßen.

Sie wehrt Spaltungs- und Betrugsmanöver von Feinden und falschen
Freunden der Arbeiter ab.

Die revolutionäre Partei kämpft also für die Selbstbefreiung
der Arbeiterklasse. Sie dient als Rückgrat der Bewegung.

Diese kann und will sie aber nicht ersetzen, sondern als entschlossenster
Teil zum Sieg führen.

Lehren

Rosa Luxemburgs für den Wiederaufbau einer sozialistischen Linken
jenseits von Sozialdemokratie und Stalinismus zentrale Erkenntnisse lassen
sich auf folgende drei Kernpunkte zusammenfassen:

1.) Revolutionäre ignorieren nicht den Kampf um fortschrittliche
Reformen, sondern sind ganz im Gegenteil entschlossenster und solidarischer
Teil jedes Kampfes für konkrete Verbesserung.

2.) Revolutionäre verbinden diesen Kampf um Reformen in ihrer
Praxis und ihrer Propaganda zu jeder Zeit mit dem Kampf gegen das bestehende
System als ganzes und für echte Arbeiterdemokratie.

3.) Revolutionäre führen den Sozialismus weder durch Parlamente
noch durch Panzer ein, sondern durch die Revolution der überragenden
Mehrheit im Interesse der überragenden Mehrheit. Sie arbeiten deshalb
am Aufbau einer Partei als Instrument und Waffe der Arbeiterklasse, um
als organischer, verwurzelter Teil dieser Klasse ihre Selbstbefreiung voranzutreiben.

Auf dieser Grundlage versucht der Linksruck, eine neue, starke, sozialistische Kraft aufzubauen.

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