Das Ruder rumreißen

Das Europäische Sozialforum (ESF) in Paris war das Sprungbrett für die Demonstrationen gegen Sozialabbau am 3. April. Linksruck sprach mit Bernt Kamin über Gewerkschaften und das ESF.


Bernd Kamin ist Betriebsrat der Hamburger Hafenarbeiter und Mitglied im ver.di-Landesvorstand Hamburg.

Am 3. April sind 500.000 auf die Straße gewesen – die größte Demo gegen Sozialabbau in Deutschland. Welche Rolle hat das ESF in Paris für diesen Erfolg gespielt?
Bereits nach der Demo gegen Sozialabbau am 1. November letzten Jahres in Berlin haben einige Gewerkschaftsführer erkannt, dass wir sehr viele Menschen mobilisieren können. Deshalb wollten viele Gewerkschafter auf dem ESF darüber sprechen, wie die Bewegung vorangetrieben werden kann. Sogar der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Bsirske ist gekommen.
Langsam verstehen die Gewerkschafter, dass wir eine Bewegung aufbauen müssen. Wir in Hamburg unterstützen die Gründung eines Sozialforums vor Ort, zusammen mit anderen gesellschaftlichen Kräften.
Wir verstehen uns als Teil der sozialen Bewegungen. Wir blicken auch über die Lohnpolitik hinaus und beschäftigen uns mit gesamtgesellschaftlichen Fragen.
So denken nicht alle in den Gewerkschaften. Aber der Erfolg am 3. April wäre ohne das Europäische Sozialforum nicht möglich gewesen.

Wie geht es weiter in den Gewerkschaften?
Die gesamtgesellschaftliche Perspektive stand bei den Gewerkschaften schon immer im Programm. Aber zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffte früher wie heute eine große Lücke.
Wir können nicht einfach einen Schalter umlegen. Große Organisationen entwickeln sich. Da kann niemand einfach bestimmen, sondern jede Entscheidung muss mit den Mitgliedern besprochen werden.

Wie führt ihr diese Diskussion?
Wir versuchen, die Auseinandersetzung um Kanzler Schröders „Agenda 2010“ in die Betriebe zu tragen. Ich bin oft auf Betriebsversammlungen. Anfangs herrschte da noch großes Staunen, wenn wir die Politik der Regierung angesprochen haben. Inzwischen ist das normal.
Die Politisierung der Arbeiter ist unbedingt nötig. Genug Widerstand gegen Schröders „Agenda“ können wir nur mit den Gewerkschaften aufbauen.

Warum gerade die Gewerkschaften? Andere Organisationen bewegen sich viel schneller.
Es ist ein großer Unterschied, ob wir zu einer Demo mobilisieren oder die Betriebe dicht machen und die Arbeit verweigern. Diesen wirtschaftlichen Druck können nur die Gewerkschaften machen.
Das ist nicht einfach. Aber wenn die Gesellschaft sich in eine falsche Richtung entwickelt, dann müssen Gewerkschaften das Ruder rumreißen.
Ich habe über die richtige Richtung eine andere Meinung als andere. Darüber können wir solidarisch streiten. Einig sind wir darin, dass die jetzige Richtung falsch ist.

Wie sehen das deine Kollegen?
Ich sehe da eine Mischung aus Unwohlsein, Zweifel und Perspektivlosigkeit. Viele fragen sich, ob es andere Möglichkeiten gibt.
Das führt noch nicht dazu, dass die Leute sich wehren. Erstmal ärgern sie sich und haben den Wunsch, etwas zu tun.
Es gibt unterschiedliche Antworten auf die Frage, was wir machen können. Mir hilft es, zu fragen: Wem nützt das? Wem nützen mehr Arbeitslose? Wem nützt ein schlechterer Kündigungsschutz? Ich finde, darüber jubeln immer die Verkehrten.
Diese Fragen helfen, um sicher zu sein, dass wir die Richtung der Politik ändern müssen. Wohin, darüber müssen wir reden.

Welche Rolle spielt das Europäische Sozialforum in London dabei?
Ich sehe zwei grundsätzliche politische Haltungen. Die Meisten wollen den Kapitalismus freundlicher gestalten. Ein kleiner Teil hat Zweifel, dass das ausreicht. Dazu gehöre auch ich. Ich denke, man muss über den Kapitalismus hinaus denken.
Eine Aufgabe der Sozialforen ist es, diese verschiedenen Ideen zusammenzubringen. Wir wollen uns gegenseitig bereichern und miteinander streiten – unter Freunden, auch aus anderen Ländern.
Sozialforen haben nicht den Anspruch, eine einzige Linie durchzusetzen. Unterschiedliche Ansätze haben Platz. Dennoch wollen wir uns über die wichtigsten Kernpunkte verständigen, damit wir in Zukunft gemeinsam handeln können.
Das gibt Kraft für weitere Auseinandersetzungen. Es ist ein Unterscheid, ob ich alleine wütend bin oder zusammen mit 500.000 wie am 3. April.
Wichtig ist, dass die Sozialforen eine Antwort auf die globaler werdende Politik sind. Wir leben im globalisierten Kapitalismus. Da müssen wir eine entsprechende Form des Widerstands finden.

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