Klassenkampf

Wir leben in einer
Gesellschaft, die nach Klassen aufgeteilt ist, in der einige Menschen
riesiges Privateigentum und die meisten von uns so gut wie nichts
haben.

Und irgendwie erscheint es
uns selbstverständlich, daß dies schon immer so gewesen
sei. Aber tatsächlich gab es während eines größeren
Teils der Menschheitsgeschichte keine Klassen, kein Privateigentum,
keine Armeen und keine Polizei. So war es eine halbe Million Jahre
bis etwa vor 5 bis 10 Tausend Jahren.

Es konnte solange keine
Klassenaufteilung geben, wie die Menge von Nahrungsmitteln, die von
einer Person erarbeitet wurde, gerade ausreichte, diese Person am
Leben zu erhalten. Warum sollte man sich Sklaven halten, wenn das,
was diese herstellten, gerade genug war, um sie am Leben zu erhalten?

Aber von einem bestimmten
Punkt der Entwicklung an wurde die Klassenteilung nicht nur möglich;
sondern sogar notwendig. Es wurden nun genügend Nahrungsmittel
hergestellt, daß ein Überschuß übrigblieb,
nachdem die unmittelbaren Produzenten den Teil für sich
abgezogen hatten, den sie zum Leben brauchten. Darüber hinaus
gab es jetzt auch Möglichkeiten, diese Lebensmittel
aufzubewahren und von einem Ort zu einem anderen zu transportieren.

Die Menschen, die diese
Nahrungsmittelüberschüsse erarbeiteten, hätten diese
besonderen Überschüsse durchaus auch noch verzehren können.
Da sie ein ziemlich kärgliches Leben fristeten, gerieten sie
auch stark in Versuchung. Aber das hätte sie der Unbill der
Natur ausgeliefert, den Hungersnöten oder einer Flut im nächsten
Jahr und den Angriffen hungriger Stämme aus entfernten Gebieten.

Zuerst war es für alle
von großem Vorteil, wenn es eine besondere Gruppe von Menschen
gab, die die Verantwortung über die Überschüsse
übernahm, sie sicher aufbewahrte, sie zur Unterstützung von
Handwerkern verwandte, damit Verteidigungseinrichtungen baute oder
Teile davon gegen nützliche Güter anderer Völker
eintauschte. Alle diese neuen Tätigkeiten konzentrierten sich
auf die ersten Städte, wo die Verwaltungsfachleute, Kaufleute
und Handwerker lebten. Aus den Tafeln zur Kontrolle der verschiedenen
aufbewahrten Reichtümer entwickelten sich erste Schriften.

Es waren die ersten
stolpernden Schritte in das, was wir Zivilisation nennen. Aber – und
es war ein großes ‚Aber‘ – all das beruhte auf der Kontrolle
der angewachsenen Reichtümer durch eine kleine Minderheit der
Bevölkerung. Und diese Minderheit benutzte die Reichtümer
zum eigenen Vorteil wie auch zum Vorteil der gesamten Gesellschaft.

Je weiter sich die
Produktion entwickelte, desto größere Reichtümer
fielen in die Hände dieser Minderheit – und desto größer
wurde die Trennung dieser von der übrigen Gesellschaft.

Regeln, ursprünglich
aufgestellt zum Nutzen der Gesellschaft, wurden zu ‚Gesetzen‘, die
den Reichtum und das Land zur Herstellung dieses Reichtums zum
‚Privateigentum‘ der Minderheit erklärten. Eine herrschende
Klasse war entstanden – und mit ihr Gesetze zur Verteidigung der
Macht.

Man mag vielleicht fragen,
ob nicht eine andere Entwicklung denkbar gewesen wäre, die
denen, die das Land bearbeiteten, die Kontrolle über ihre
Produkte gesichert hätte.

Die Antwort muß
‚Nein‘ heißen. Nicht wegen der menschlichen Natur, sondern weil
die Gesellschaft immer noch sehr arm war. Die Mehrheit der
Erdbevölkerung war viel zu sehr damit beschäftigt, die
Erdoberfläche für ein armseliges Dasein zu beackern, als
daß sie Zeit und Muße gehabt hätte, Schrift- und
Lesesysteme zu entwickeln, Kunstwerke zu schaffen, Schiffe für
den Handel zu bauen, die Bahn der Sterne zu erforschen, die
Elementargesetze der Mathematik zu entdecken, herauszufinden, wann
die Flüsse das Land überfluteten oder wie man
Bewässerungskanäle anlegt.

All diese Entdeckungen
konnten nur gemacht werden, weil ein Teil der Lebensmittel der Masse
der Menschen entzogen und stattdessen dafür eingesetzt wurde,
eine bevorzugte Minderheit zu unterhalten, die sich nicht von
Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang plagen mußte.

Das bedeutet jedoch
keineswegs, daß die Teilung in Klassen auch heute noch
notwendig ist. In den letzten hundert Jahren hat es eine Entwicklung
der Produktion gegeben, mit der die Menschheit in der vorangegangenen
Geschichte nicht einmal in ihren kühnsten Träumen rechnen
konnte. Die natürliche Knappheit ist überwunden – heute
gibt es eine künstliche Knappheit, die durch die Vernichtung von
Lebensmitteln durch Regierungen entsteht.

Die heutige
Klassengesellschaft ist nicht mehr fortschrittlich, sondern hält
die Menschheit zurück.

Nicht nur der Übergang
von der reinen landwirtschaftlichen Gesellschaft zur städtischen
gab den Anstoß zur Klassenteilung. Der gleiche Prozeß
wiederholte sich jedesmal, wenn neue Wege der Produktion entwickelt
wurden.

So gab es in Deutschland
vor tausend Jahren eine herrschende Klasse von Feudalherren, die das
Land kontrollierte und die auf Kosten von Leibeigenen lebten. Aber
als sich der Handel im großen Maßstab zu entwickeln
begann, entstand neben dem Landadel eine neue privilegierte Klasse
von mächtigen Kaufleuten. Und als sich die Industrie dann
ausbreitete, wurde deren Macht wiederum durch die Besitzer der
Industrieunternehmen in Frage gestellt.

Zu jedem
Entwicklungsstadium der Gesellschaft gehörte eine unterdrückte
Klasse, die mit ihrer körperlichen Arbeit den Reichtum schuf,
und eine herrschende Klasse, die den Reichtum kontrollierte. Aber mit
dem Wandel der Gesellschaft änderte sich das Verhältnis von
Unterdrückten und Unterdrückern.

In der Sklavengesellschaft
des alten Roms waren die Sklaven persönliches Eigentum der
herrschenden Klasse. Der Sklavenbesitzer besaß die Güter,
die von Sklaven erarbeitet worden waren, weil er die Sklaven besaß,
genauso wie ihm die Milch seiner Kühe gehörte, weil die
Kühe ihm gehörten.

In der feudalen
Gesellschaft des Mittelalters hatten die Untertanen selbst Land zur
Verfügung und ihnen gehörte, was sie darauf
erwirtschafteten; aber dafür, daß sie dieses Land hatten,
mußten sie eine bestimmte Anzahl von Tagen im Jahr auf dem Land
des Feudalherren arbeiten. Ihre Zeit wurde aufgeteilt: vielleicht
mußten sie die Hälfte ihrer Zeit für den Herrn
arbeiten, die andere Hälfte arbeiten sie für sich. Wenn sie
sich weigerten, für den Herrn zu arbeiten, war dieser befugt,
sie dafür zu bestrafen (durch Auspeitschen, Einsperren oder
Schlimmeres).

In der modernen
kapitalistischen Gesellschaft besitzt der Unternehmer weder den
Körper des Arbeiters noch darf er ihn körperlich züchtigen,
wenn dieser sich weigert, unbezahlte Arbeit für ihn zu leisten.
Aber er besitzt die Fabriken, in denen der Arbeiter einen Job
aufnehmen muß, wenn er am Leben bleiben will. Deshalb ist es
leicht für den Unternehmer, den Arbeiter zu zwingen, sich mit
einem Lohn abzufinden, der weit unter dem Wert der Waren liegt, die
er mit seiner Arbeit in der Fabrik herstellt.

In jedem Fall erhält
die herrschende Klasse die Kontrolle über jenen Teil des
Reichtums, der übrigbleibt, nachdem die Grundbedürfnisse
der Arbeiter gestillt sind. Der Sklavenbesitzer will sein Eigentum in
guter Verfassung erhalten, deshalb füttert er seine Sklaven etwa
genauso, wie man sein Auto pflegt und ölt. Aber alles, was über
den körperlichen Bedarf des Sklaven hinaus übrigbleibt,
benutzt der Eigentümer zu seinem eigenen Vergnügen. Der
feudale Leibeigene muß sich selbst ernähren und kleiden
von der Arbeit, die er in sein eigenes Stückchen Land steckt.
Die zusätzliche Arbeit, die er auf den Feldern des Feudalherrn
verrichtet, kommt dem Feudalherrn zugute.

Der moderne Arbeiter erhält
einen Lohn. Alle darüber hinausgehenden Reichtümer,
die er schafft, gehen in Form von Gewinn, Zinsen oder Mieten an die
Unterneherklasse.

Klassenkampf und Staat

Selten haben die Arbeiter
in der Geschichte sich mit ihrem Los abgefunden, ohne sich zu wehren.
Es gab Sklavenaufstände im alten Ägypten und unter den
Römern, Bauernaufstände im chinesischen Reich, Bürgerkriege
zwischen den Armen und Reichen in den Städten des alten
Griechenlands und im Europa des späten Mittelalters.

Deshalb begann Marx seine
Broschüre "Das kommunistische Manifest" mit den
Worten: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist
die Geschichte von Klassenkämpfen.«
Das Wachstum der
Zivilisation war abhängig von der Ausbeutung einer Klasse durch
eine andere und infolgedessen auch vom Kampf dieser beiden Klassen
gegeneinander. Selbst der mächtigste der ägyptischen
Pharaonen, die römischen Kaiser, die mittelalterlichen Prinzen
wären ein Nichts gewesen, wenn es ihnen nicht gelungen wäre,
die Produkte der ärmsten Bauern oder Sklaven in ihren Besitz zu
bringen.

Das wiederum konnte auf
Dauer nur gelingen, wenn neben der Aufteilung in Klassen etwas
anderes heranreifte – nämlich die alleinige Verfügung der
Herrscher und ihrer Anhänger über die Gewaltmittel.

In den frühesten
Gesellschaften hatte es keine Armee, Polizei oder Staatsapparat neben
und getrennt von der Mehrheit des Volkes gegeben. Selbst vor 50 oder
6o Jahren konnte man in Teilen Afrikas Stämme finden, bei denen
das immer noch so war. Viele Aufgaben, die heutzutage in unseren
Gesellschaften vom Staat wahrgenommen werden, wurden ganz einfach von
der ganzen Bevölkerung oder von Vertreterversammlungen ausgeübt.

Solche Versammlungen
sprachen Recht über das Verhalten einzelner
Gesellschaftsmitglieder, die gegen wichtige Regeln der Gemeinschaft
verstoßen hatten. Die Strafe wurde von der gesamten
Gemeinschaft verhängt – indem man z.B. den Übeltäter
aus der Gemeinschaft verjagte. Da jedermann von der Notwendigkeit der
Strafe überzeugt war, brauchte man keine besondere Polizei, um
die Strafe durchzusetzen. Im Kriegsfall wurden unter den für
diesen Zweck gewählten Kriegsführern alle jungen Männer
herangezogen, wiederum ohne irgendeine besondere Armeestruktur.

Aber von dem Augenblick an,
wo eine Minderheit der Gesellschaft die Kontrolle über den
größten Teil des Reichtums besaß, konnten diese
einfachen Methoden zur Aufrechterhaltung von "Gesetz" und
Ordnung" und zur Kriegsführung nicht länger
funktionieren. Jede Vertreterversammlung und jede Versammlung
bewaffneter junger Männer spaltete sich entlang den
Klassenlinien.

Die privilegierte Gruppe
konnte nur dann überleben, wenn sie in ihren Händen den
Erlaß und Vollzug von Strafen und Gesetzen, die Organisation
von Armeen, die Produktion von Waffen monopolisierte. So war die
Klassenteilung begleitet vom Anwachsen einer Vielzahl von Richtern,
Polizisten, Geheimpolizisten, Generälen und Bürokraten. Sie
alle bekamen einen Teil des Reichtums der privilegierten Klasse dafür
ab, daß sie deren Herrschaft beschützten.

Diejenigen, die sich in die
Dienste dieses Staates begaben, wurden dazu erzogen, den Befehlen
ihrer Vorgesetzten ohne Zögern zu gehorchen und wurden von allen
gewöhnlichen Bindungen zu den ausgebeuteten Massen des Volkes
abgeschnitten. Der Staat entwickelte sich zu einer Tötungsmaschine
in den Händen der privilegierten Klasse. Und diese Maschine
konnte sehr gut funktionieren.

Natürlich kam es
häufig vor, daß die Generäle, die diese
Tötungsmaschine führten, sich mit einem Herrscher oder
König überwarfen und versuchten, sich selbst an dessen
Stelle zu schwingen. Die herrschende Klasse hatte sich ein
bewaffnetes Ungeheuer hochgezogen, das sie oft selbst nicht mehr
kontrollieren konnte. Aber da aller Reichtum, der zum Erhalt der
Tötungsmaschine notwendig war, von der Ausbeutung der
arbeitenden Massen kam, endete jede dieser Art von Rebellion mit der
Fortsetzung der Gesellschaft nach altem Muster.

Wann immer in der
Geschichte Menschen ihre Gesellschaft zum Besseren verändern
wollten, sahen sie sich nicht nur einer privilegierten Klasse
gegenüber, sondern auch einer bewaffneten Organisation, einem
Staat, der die privilegierte Klasse schützte.

Die herrschenden Klassen
und mit ihnen ihre Priester, Generäle, Polizisten, Richter und
Gefängniswärter, waren ursprünglich alle einmal
entstanden, weil ohne sie kein Fortschritt der Zivilisation möglich
gewesen wäre. Aber wenn sie an der Macht sind, entwickeln sie
Interessen, die dem weiteren Fortschritt der Zivilisation
entgegenstehen. Ihre Macht hängt von ihrer Fähigkeit ab,
diejenigen, die den Reichtum produzieren, zur Abgabe des Reichtums zu
zwingen. Sie werden mißtrauisch gegenüber neuen
Produktionsmethoden – selbst wenn sie wirksamer sind als die alten -,
weil sie fürchten, die Kontrolle darüber zu verlieren.

Sie fürchten vor allem
jede Eigeninitiative und jedes Selbstbewußtsein der
ausgebeuteten Massen. Und sie fürchten sich auch vor dem
Heranwachsen neuer privilegierter Gruppen, die über genügend
Reichtum verfügen könnten, um sich eigene Waffen und eigene
Armeen anzuschaffen. Von einem bestimmten Zeitpunkt an begannen die
Herrscher, die Entwicklung der Produktion zu behindern, statt sie
voranzutreiben.

Zum Beispiel beruhte im
alten chinesischen Reich die Macht der herrschenden Klasse auf dem
Besitz des Landes und der Kanäle und Dämme zur Bewässerung
und zur Verhinderung von Überflutungen. Diese Kontrolle legte
den Grundstein für eine zweitausendjährige Zivilisation.
Aber gegen Ende dieser Zeit war die Produktion nicht viel weiter
entwickelt als zu ihrem Beginn – trotz der Blüte der
chinesischen Kunst, der Entdeckung der Drucktechnik und des
Schießpulvers – alles zu einer Zeit, als Europa noch in dunklen
Vorzeiten lag.

Der Grund war, daß
sich die neuen Produktionsformen in den Städten durch die
Initiative von Kaufleuten und Handwerkern entwickelten. Die
herrschende Klasse fürchtete die wachsende Macht einer
gesellschaftlichen Gruppe, die sie nicht vollständig
kontrollierte. Deshalb ergriffen die kaiserlichen Mächte des
alten Chinas in regelmäßigen Abständen harte
Maßnahmen zur Zerschlagung der wachsenden Wirtschaftsmacht in
den Städten, die Produktion wurde gesenkt und so die Macht der
neuen städtischen Klassen zerstört.

Das Wachstum der neuen
Produktivkräfte (neuer Mittel und Methoden zur Herstellung des
Reichtums) geriet in Widerspruch zu den Interessen der alten
herrschenden Klasse. Ein Kampf entwickelte sich, dessen Ausgang über
den Fortgang der Gesellschaft insgesamt entschied.

Manchmal war das Ergebnis,
wie in China, daß die Entwicklung neuer Formen der Produktion
verhindert wurde und die Gesellschaft infolgedessen für lange
Zeiträume unverändert blieb und stagnierte.

Manchmal führte die
Unfähigkeit zur Entwicklung neuer Produktionsweisen schließlich
dazu, daß der erarbeitete Reichtum nicht mehr ausreichte, um
die Gesellschaft auf ihren alten Grundlagen zu erhalten, wie zum
Beispiel im alten römischen Reich. Dann brach die Zivilisation
zusammen, die Städte wurden zerstört, die Menschen kehrten
zurück zur rohen, rein landwirtschaftlichen Form der
Gesellschaft.

Manchmal gelang es einer
neuen Klasse, die ihre Existenz neuen Formen der Produktion
verdankte, sich so zu organisieren, daß sie die alte
herrschende Klasse schwächen und schließlich stürzen
konnte und mit dieser deren Rechtssystem, deren Armeen, die Ideologie
und Religion. Dann konnte die Gesellschaft sich vorwärts
entwickeln.

Ob sich eine Gesellschaft
nun weiterentwickeln konnte oder zurückfiel, hing in jedem Fall
davon ab, wer den Krieg der Klassen gewann. Und – wie in jedem Krieg
– war der Sieg im voraus nicht gesichert, sondern hing von der
Organisation, dem Zusammenhalt und der Führung der
rivalisierenden Klassen ab.

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