Sozialreformen im Kapitalismus – kein Geschenk der Herrschenden

Die Rolle des Sozialstaats im Kapitalismus

Der Begriff des Sozialstaats kann zweierlei bedeuten. Erstens, dass der parlamentarische Rechtsstaat auch ein sozialer Staat sei, oder zweitens, dass bestimmte Bestandteile dieses Staates zwar das Adjektiv „sozial“ verdienen, dieses aber nichts an seinem kapitalistischen Wesen ändert. Die erste Auffassung ist in den Gewerkschaften und im linken Parteienspektrum (SPD, Grüne und PDS) die auch nach zwanzig Jahren Sozialabbau immer noch vorherrschende. Der Staat erscheint nach dieser Theorie als gegenüber den Produktionsverhältnissen selbständige, autonome Institution. Er wird wahlweise als „Verteilerstaat“, als „Wohlfahrtsstaat“, als „Interventionsstaat“, als „Gefälligkeitsstaat“, als „Dienstleistungsstaat“ oder „Sozialstaat“ bezeichnet. Der Staat zeichnet sich nach dieser Auffassung dadurch aus, dass er über wachsende Anteile am gesellschaftlichen Reichtum (Sozialprodukt) verfügt und diese nach politischen und sozialen Gesichtspunkten in Form von Sozialleistungen, Subventionen und öffentlichen Aufträgen zur Produktion von Schulen, Krankenhäusern, Verkehrswegen oder von Bomben und Raketen verwendet und verteilen kann.
Solche sozialdemokratischen Sozialstaatstheorien haben zwar die Unabhängigkeit des Staates gegenüber dem kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozess behauptet, zugleich aber seine Abhängigkeit von gesellschaftlichen Interessen und Interessengruppen, die auch die Inhalte staatlicher Politik bestimmen können. Je nachdem, welche Interessengruppen sich des Staates bemächtigen, kann der Staat zum reinen Kriegs- oder Rüstungsstaat (z.B. im Nazi-Staat) oder zum reinen Wohlfahrtsstaat (z.B. in Schweden in der Epoche der Nachkriegszeit unter sozialdemokratischer Regierung) werden. Aber erst die Unabhängigkeit oder Autonomie des Staates von der Produktionssphäre ermöglichen es, dass er beides werden kann, Rüstungs- oder Sozialstaat. 1
Mit der Mitte der 1970er Jahre wieder aufbrechenden Krise des Kapitalismus sind solche sozialdemokratischen Staatstheorien „unmodern“ geworden. Jürgen Habermas, in den 60er Jahren selbst ein Anhänger der Autonomie des Staates, kam Mitte der 80er Jahre angesichts der wieder einsetzenden Krise des Kapitalismus, zu einer realistischeren Einschätzung: „Weil der Sozialstaat die Funktionsweise des Wirtschaftssystems unangetastet lassen muss (!), hat er nicht die Möglichkeit, auf die private Investitionstätigkeit anders als durch systemkonforme Eingriffe Einfluss zu nehmen.“ 2 Habermas stellt damit die Autonomie des Staates grundsätzlich in Frage, der Staat muss „systemkonform“ eingreifen, d.h. er muss nach den Regeln der kapitalistischen Produktion handeln. Er vollzieht damit den Wandel vieler keynesianischer Theoretiker, die auf das Scheitern traditioneller staatlicher Krisenintervention in Großbritannien (1974-79), BRD (1974-82) und Frankreich (1981-1984) reagierten. Dem ideologischen Scheitern des Keynesianismus ging sein praktisches voraus (siehe Kapitel 4). Dies erklärt auch zum Teil, warum die sozialdemokratische Linke in der SPD heute so geringes Selbstbewusstsein und kaum Überzeugungskraft hat.

Stattdessen wurden „Globalisierungstheorien“ populär, nach denen internationale Wirtschaftsprozesse die Nationalstaaten zur Ohnmacht und zum Abbau von Sozialreformen verurteilen. Wir haben in Kapitel 2 die Interessengebundenheit dieser Theorien betont, die den Nationalstaat zum bloßen Erfüllungsgehilfen weltwirtschaftlicher Prozesse degradieren und damit die „Alternativlosigkeit“ des Sozialabbaus begründen. Die Anhänger der alten sozialdemokratischen Sozialstaatstheorie machen jedoch den umgekehrten Fehler, wenn sie „von einer inszenierten Krise des Sozialstaats“ sprechen. 3 Die neoliberalen Globalisierungstheoretiker lenkten davon ab, „dass Arbeitslosigkeit und Armut „hausgemacht“, also kein Resultat ökonomischer Gesetzmäßigkeiten … ist.“ 4 Der Angriff auf den Sozialstaat ist danach bloß eine Art Verschwörung reicher, neoliberaler Interessengruppen, die das aus freien Stücken tun. Die Krisen des Kapitalismus vollziehen sich nicht, wie Karl Marx es analysierte, nach unabhängigen Gesetzen, die sich „hinter dem Rücken“ der zersplitterten Akteure (Einzelkapitale) quasi per Naturgewalt entwickeln, sondern auch sie sind „inszeniert“.

Die Geschichte der Sozialreform in Deutschland zeigt jedoch etwas anderes: Weder ist der bürgerliche Staat bloßer Vollstrecker einzelkapitalistischer Interessen, wie dies die Globalisierungstheorien heute behaupten, noch ist er frei von den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, die sich aus seinem anarchischen und zugleich despotischem Charakter ergeben. Der Markt, die Konkurrenz zwischen verschiedenen und unabhängig voneinander produzierenden kapitalistischen Unternehmen oder zwischen kapitalistischen Staaten zwingt jeden dazu, Kapital zu akkumulieren. Wenn sie das nicht schaffen, sind sie dem Untergang geweiht. Die Anarchie des Kapitalismus, die Konkurrenz zwischen den Kapitaleinheiten und die despotische Herrschaft eines jeden Kapitalisten innerhalb des Unternehmens sind zwei Seiten einer Medaille. Die Kapitalisten bekämpfen sich gegenseitig und wälzen die Kosten dieses Kampfes auf die Arbeitnehmer, Arbeitslosen etc. ab.
Die „modernen“ Globalisierungstheorien treiben die Idee der Allmacht der Kapitalisten und der Ohnmacht der lohnabhängigen Klassen ins Extrem. Die ehemals populären, heute ins abseits gedrängten Sozialstaatstheoretiker leugnen dagegen die prinzipielle Abhängigkeit des bürgerlichen Staates von den ökonomischen Bewegungsgesetzen des Kapitalismus.
Die Praxis aller Regierungen der letzten Jahrzehnte, ganz gleich ob konservativer oder sozialdemokratischer Natur, ob rechter oder linker Färbung, hat bewiesen, dass es auch dem „Sozialstaat“ geboten ist, die Arbeiter und ihre Konsumfähigkeit aus der Sicht des Kapitalverhältnisses zu behandeln. Regierungen mussten auch dann Sozialleistungen abbauen und es zulassen, dass die Löhne stagnierten oder sanken, wenn sie theoretisch die Arbeiter als Konsumenten und nicht als Kostenfaktor betrachteten. Das Schicksal der sozialistisch-kommunistischen Regierungen unter Präsident Allende in Chile oder Präsident Mitterand in Frankreich, die beide den kapitalistischen Produktionsprozess mit nicht-konformen Mitteln (Verstaatlichung, Enteignung) lenken wollten, demonstrieren das. Präsident Allende wurde durch einen blutigen Militärputsch gestürzt, Mitterand wurde durch eine Welle der Kapitalflucht und daraus entstehender Wirtschaftskrise zur Aufgabe seiner Wirtschaftspolitik gezwungen. Auch als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Karl Marx) kann der Staat nicht daran vorbei, dass es Kapital in Wirklichkeit immer nur als gegeneinander konkurrierende Einzelkapitale gibt, dass es ein wirkliches Gesamtkapital nicht geben kann, solange es kapitalistische Konkurrenz gibt. „Das im Kapitalverhältnis gesetzte widersprüchliche Interesse jedes Einzelkapitalisten an größter Konsumtionskraft aller Arbeiter mit Ausnahme der von ihm angewendeten und an möglichst niedrigen Lohn seiner eigenen Arbeiter, kann auch der Staat nicht überspringen.“ 5
In einer von der damaligen Bundesregierung in Auftrag gegebenen „Sozialenquete“ (1966) kamen die beauftragten Professoren zu dem Schluss. „Sozialpolitik im Ganzen ist ihrer Natur nach längerfristig orientiert und ist rational nur durchführbar, wenn es der Wirtschaftspolitik gelingt, übermäßige Konjunkturschwankungen zu verhindern.“ 6 Daraus ergibt sich die Unterordnung der Sozialpolitik unter die Wirtschaftspolitik, soweit dies ohne Gefährdung des „sozialen Friedens“ möglich ist.
Die Erhaltung des „sozialen Friedens“ ist neben der Erhaltung der „Arbeits- und Leistungsfähigkeit, Berufserziehung und Mobilität“ somit ein Bestimmungsfaktor für die untere Grenze der Sozialleistungen – „Preisstabilität und Investitionsbereitschaft der Unternehmer“, das heißt ihre Konkurrenzfähigkeit, definieren die obere Grenze. 7
In die Bestimmung der Untergrenze gehen also politische Interessen des Kapitals (Herrschaftsabsicherung gegen Revolten) und wirtschaftliche (Erhalt und Steigerung der Arbeitsproduktivität, Mobilität und Reproduktion der Arbeiterklasse und ihrer Reservearmee) mit ein. So liegt es auch nicht im Interesse des Kapitals, den „Sozialstaat“ völlig abzuschaffen. Mangelnde Hygiene führte beispielsweise bis Ende des 19. Jahrhunderts zu Cholera- und Thyphuswellen. Hamburg wurde noch im Spätsommer 1892 von einer verheerenden Choleraepidemie heimgesucht, die mehr als 8000 Menschen dahinraffte. In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs gefährdeten solche Seuchen den Nachschub an Arbeitskräften. Es lag daher durchaus im Interesse des Gesamtkapitals, als der Staat bzw. die Kommunen mit infrastrukturellen Verbesserungen wie Kanalisation, Abwasserreinigung und Müllbeseitigung sowie mit Seuchenbekämpfungsmaßnahmen reagierten. Je komplexer die Industrialisierung, je teurer die zu bedienenden Maschinen und Anlagen, desto größer war auch das Interesse der Unternehmer an stabilen, ausgebildeten Belegschaften. Bildung und Gesundheit stehen in direktem Zusammenhang mit der Arbeitsproduktivität. Dies bedeutet nicht, dass alle Bürger eine optimale Ausbildung oder Gesundheitsfürsorge erhalten. Es bedeutet lediglich, dass der bürgerliche Staat mit seinen Maßnahmen dafür sorgen soll, dass es keine Produktionsstörungen und -hindernisse gibt.

Innerhalb dieser oberen und unteren Grenze gibt es einen Spielraum – er ist nach oben größer in Zeiten steigender Profite und der Aufschwünge des Kapitalismus und er ist nach unten durchlässiger in Zeiten des Niedergangs und von Krisen des Kapitalismus.
Die Bandbreite der realen Möglichkeiten reichen vom schwedischen Wohlfahrtsstaat der 1960er Jahre bis zum Inferno der Weltkriege oder den Hungersnöten Afrikas. So wie der Arbeitslohn nicht starr festgelegt ist, sondern innerhalb bestimmter Unter- und Obergrenzen schwanken kann, so pendelt auch der „Soziallohn“ (die staatlichen Sozialleistungen). Wie beim Arbeitslohn hat auch hier das jeweilige gesellschaftliche Kräfteverhältnis zwischen den Klassen einen Einfluss auf die Schwankungen nach oben und unten. Deshalb ist auch die Höhe des Soziallohns nicht einfach eine Widerspiegelung von Konjunkturschwankungen, wie die Globalisierungstheoretiker heut behaupten. Seine Höhe ist aber auch nicht völlig unabhängig vom Produktionsprozess wie die Theoretiker der Sozialstaatsillusion behaupten. Seine Obergrenze ist durch die Mindestgrenze des Profits bestimmt, unterhalb derer das Kapital die Produktion einstellt.
Vor allem bleibt der Sozialstaat ein Bestandteil und ein Instrument des bürgerlichen Staates, d.h. er trägt immer diskriminierende und disziplinierende Elemente in sich. Die Arbeitslosenversicherung war auch in ihren besten Zeiten ein Instrument der Disziplinierung der Arbeitslosen im Interesse der Unternehmer und auch das Bundessozialhilfegesetz von 1961, das die Sozialhilfe zu einem Recht jedes Bundesbürgers machte, änderte nichts daran, dass der Empfang der Sozialhilfe für die meisten eine demütigende Erfahrung blieb, die man möglichst vermeiden wollte. Die Unfallversicherung blieb in Form der Berufsgenossenschaften unter Kontrolle der Unternehmer und damit kontrollierten sie auch deren einschränkende Definitionen von berufsbedingten Gesundheitsschäden. Oft dauerte es Jahrzehnte, bis bestimmte Krankheiten als Folge von beruflichen Schädigungen anerkannt wurden (z.B. Asbest und Krebs). Der Sozialstaat war und ist nicht der schleichende „hereinbrechende Sozialismus“ (wie sozialdemokratische Theoretiker der Weimarer Republik es sahen), er ist ein Bestandteil bürgerlicher Herrschaft mit dem Ziel der Herrschaftssicherung und der Produktionssteigerung. Das hinderte allerdings auch die sozialistische Arbeiterbewegung nicht daran, um seine Verbesserung oder Verteidigung im „Hier und Jetzt“ zu kämpfen (siehe Kapitel 4).
Die historische Reihenfolge der Einführung der Sozialversicherungen in Deutschland spiegelt den größeren oder geringeren Widerstand der Unternehmer wider. Die Krankenversicherung (1883) und Unfallversicherung (1884) waren unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsproduktivität wichtiger als die Rentenversicherung (1889). Der größte Widerstand der Unternehmer richtete sich gegen eine reichseinheitliche Arbeitslosenversicherung, die erst 1927 in Kraft trat. Noch später (1961) kam das Bundessozialhilfegesetz (1961). Dies deckt sich mit den heutigen Veränderungen: die tiefsten Einschnitte der Agenda 2010 richten sich gegen die Arbeitslosenversicherung mit einer drastischen Reduzierung ihrer Leistungen. Die Falltür in die Armut wurde wieder geöffnet.

Bismarck: Zuckerbrot, Peitsche und Sündenbock

Die Akteure des Sozialabbaus treten auf, als wären Sozialreformen eine Leihgabe der Reichen und Regierenden an das gemeine Volk, die nun „nicht mehr zeitgemäß“ sei. Ein Blick auf die Geschichte der Sozialreform in Deutschland zeigt jedoch etwas ganz anderes: Arbeitsschutzgesetze, Arbeitszeitverkürzungen, Tariflöhne, Kranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherungen sind in harten Klassenkämpfen unter großen Opfern durch Generationen von Gewerkschaftern und Sozialisten dem Kapitalismus abgetrotzt worden.
Die Entstehung des deutschen Sozialstaates unter Reichskanzler Otto v. Bismarck (1862-1890) zeigt bestimmte Grundmuster, die sich bis heute fortsetzen und ohne weiteres erkennen lassen. Es sind dies:

  • 1. Die Krise des marktwirtschaftlichen Kapitalismus und damit des „liberalen Paradigmas“ gehen der staatlichen Sozialreform voraus. 8 Die Liberalen hatten stets argumentiert, dass ein von Restriktionen möglichst freier Markt und Handel allen das größtmögliche Maß an Wohlstand bringen würde. Die Laissez-faire-Sicht der Dinge war durch den Einbruch der Weltwirtschaftskrise, der „Gründerkrise“ nach dem Boom der Gründerzeit, 1873, in massive Erklärungsnöte geraten.
  • 2. Die anhaltende Wirtschaftskrise schwächte zwar die Verhandlungsposition der Arbeiter in den Betrieben und brachte den Industriearbeitern massive Verschlechterungen ihrer sozialen Lage, sie begünstigte aber in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre ihre politische Radikalisierung. Die 1875 neu gegründete SAP (Sozialistische Arbeiterpartei) entwickelte sich zu einer revolutionär-sozialistischen Kraft und wurde von den herrschenden Eliten als potentielle Bedrohung ihrer Herrschaft gesehen. Die bürgerlichen und vorbürgerlichen Eliten stellten sich uneingeschränkt hinter Bismarck, der die neue sozialistische Bewegung durch Verbot und allgemeine Repression zu unterdrücken versuchte.
  • 3. Das 1871 verabschiedete allgemeine Wahlrecht (bis zur Revolution von 1918 nur für Männer) machte die Herrschaftssicherung komplexer. Es konnte Herrschaft sichern helfen, aber es konnte diese auch erschweren. Je offener der Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit hervortrat und der gesamten Gesellschaft seinen Stempel aufdrückte, je weniger der Liberalismus des Marktes seine Glücksversprechen für alle einhielt, desto größer gestaltete sich mitunter die Schwierigkeit, Mehrheiten für die Interessen einer kleinen Minderheit zu gewinnen. Die Flucht in die Irrationalität nationalistischer und rassistischer Bewegungen war damit vorgezeichnet. Neben sozialstaatlichen Maßnahmen („Zuckerbrot“) und politischer Unterdrückung („Peitsche“) wurden von den Eliten auch neue irrationale Massenparteien (Antisemitismus) wohlwollend geduldet bis gefördert, um den Klassenkonflikt in die Bahnen einer rassistischen Bewegung umzulenken („Sündenbock“).
  • Als „Gründungsurkunde des deutschen Sozialstaats“ (Horst Baier) gilt die kaiserliche Botschaft an den Reichstag 1881. In ihr stellt der Kaiser ein „höheres Maß staatlicher Fürsorge“ in Aussicht, sei er doch davon überzeugt, „dass die Heilung der socialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression social-demokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde.“
    Für Bismarck waren diese Gesetze die folgerichtige Ergänzung zum Sozialistengesetz, durch das er 1878 die SAP und Gewerkschaften hatte verbieten lassen. Er erklärte unumwunden, „in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung … erzeugen zu wollen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt.“ Einer Revolution, der auf diese Weise vorgebeugt werden könne, verschlinge „ganz andere Summen“ als eine staatliche Sozialpolitik, die dem Industriearbeiter als Ersatz für Landbesitz und Geldvermögen „ein Quittungsbuch in die Hand“ gebe, „welches ihm eine gesetzliche Fürsorge für Krankheit und Alter sichert.“

    Die tiefe Wirtschaftskrise nach 1873 hatte nicht nur zum Durchbruch marxistischer Ideen in Teilen der Arbeiterschaft beigetragen. Zugleich hatte sie den Aufstieg des rassistisch motivierten und politisch organisierten Antisemitismus als Massenbewegung hervorgebracht. Es war der Hofprediger des Kaisers, Adolf Stoecker, der 1879 eine „Christlichsoziale Partei“ gründete, die den Ruf nach Sozialreformen mit einem radikalen Antisemitismus verband und die unter preußischen Konservativen und im Kleinbürgertum mobilisierte, unter den Arbeitern aber dank der entschlossenen Gegenwehr der illegalen SAP kaum Anhänger fand. 9
    Vor den Reichstagswahlen 1881 und 1884 ließ er jeweils erkennen, dass ihm ein Stimmenzuwachs der Antisemiten nur Recht wäre. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler fasste Bismarck Haltung zum Antisemitismus wie folgt zusammen: „Gewiss wäre es verfehlt, Bismarck eine Manipulation des politischen Antisemitismus zu unterstellen, wie man einen Wasserhahn nach Bedarf auf und zudreht. Aber jede antiliberale Hilfstruppe hieß er offenbar willkommen.“ Wehler zitiert Bismarcks Äußerung über Stoeckers antisemitische Hasstiraden: Nicht sie seien „das Gefährliche“, „sondern der den Neid der Besitzlosen gegen die Besitzenden anstachelnde Ruf nach sozialen Reformen zugunsten des Proletariats…“ 10
    Die Rechnung des Reichskanzlers Bismarck, die organisierte Arbeiterbewegung durch eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche klein zu halten, ging nicht auf. Im Mai 1889 streikten im Ruhrgebiet 90.000 Bergarbeiter für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. Das Militär erschoss 15 Arbeiter, konnte den Streik aber nicht brechen.
    Nach dem Streik schrieb Kaiser Wilhelm II. an seinen Kanzler, man müsse „eingedenk sein, dass fast alle Revolutionen aus dem Versäumnis rechtzeitiger Reformen entständen“ 11 und forderte gesetzliche Beschränkungen für die Sonntags- und Nachtarbeit, staatliche Schlichtungsstellen und den Ausbau von Schulen und Krankenhäusern. Gegen Bismarcks Widerstand hob der Reichstag das Sozialistengesetz 1890 auf, Bismarck wurde entlassen, weil er sich geweigert hatte, die von Wilhelm verlangten Sozialgesetze umzusetzen.

    Wilhelms Reformeifer erlahmte jedoch rasch wieder, er packte das Zuckerbrot „Reform“ bald wieder weg und drohte mit einer Erneuerung der Sozialistengesetze. Es half jedoch nicht, die Arbeiterbewegung war jetzt stark genug, um in den Jahren bis zum ersten Weltkrieg Schritt für Schritt den weiteren Ausbau der Sozialversicherungen und des Arbeiterschutzes durchzusetzen.

    Von der Revolution 1918 bis zum Faschismus

    Den größten und nachhaltigsten Ausbau der Sozialreform brachte die Revolution von 1918, als Arbeiter- und Soldatenräte für kurze Zeit den Kapitalismus in seiner Existenz bedrohten. In einem Zentralabkommen mit den Gewerkschaften akzeptierten die Arbeitgeberverbände die Regelung der Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge, stimmten der Bildung von Betriebsräten in Betrieben mit mindestens 50 Beschäftigten zu und setzten das Höchstmaß der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden bei vollem Lohnausgleich fest. Der Rat der Volksbeauftragen, die neue selbsternannte sozialdemokratische Regierung, versprach eine Neuregelung der Arbeitslosenunterstützung. Hier war der Widerstand der Unternehmerverbände am härtesten und bis heute ist es der aus ihrer Sicht „überflüssigste“ Teil des Sozialstaats. Denn jede Arbeitslosenunterstützung über das Maß einer elenden Armen- oder Sozialhilfe hinaus, schränkt aus ihrer Sicht die ökonomische Funktion der Arbeitslosen als „industrielle Reservearmee“ ein, Druck auf den beschäftigten Teil der Arbeiterklasse auszuüben, „diese“, wie Karl Marx es formulierte, „zur Überarbeit und Unterwerfung unter die Diktate des Kapitals zu zwingen“. Erst 1927 kam es schließlich zur Einlösung des Versprechens auf Bildung einer nationalen Arbeitslosenversicherung.
    J. Reichert, der Geschäftsführer des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, sagte über die Gründe des plötzlichen „Reformeifers“ seiner Klasse nach Ausbruch der Revolution: „Es kam darauf an, das Unternehmertum von der drohenden… Sozialisierung und der nahenden Revolution zu retten.“ Die Revolution hatte das Kräftegleichgewicht zugunsten der Arbeiter verschoben.

    Die Revolution endete im Herst des Jahres 1923 mit einer schweren Niederlage der Arbeiterbewegung. Innerhalb von drei Monaten verlor der ADGB (Vorläufer des DGB) 3 Millionen Mitglieder. Die KPD wurde vorübergehend verboten und die SPD stimmte nach schweren innerparteilichen Flügelkämpfen mehrheitlich einer Notstandsregierung zu, die den Achtstundentag weitgehend wieder in einen Zehnstundentag verwandelte. Die „Gegenreform“ (oder – in der Sprache eines Gerhard Schröders – die „Reform der Reform“) folgte dem Sieg der Gegenrevolution. Mit der Furcht vor einer revolutionäre Umwälzung verloren die Unternehmer ihr Interesse an sozialreformerischen Zugeständnissen an die Arbeiterklasse.
    1928 kam es im Laufe eines Tarifkonflikts um Löhne zur Massenaussperrung in der Stahlindustrie mit dem Ziel (und der Folge) einer Erschütterung des bis dahin gültigen Tarifsystems eines staatlichen Zwangsschlichtungssystems, das aus der Sicht der Unternehmer in Zeiten des Aufschwungs von Klassenkämpfen in den Revolutionjahren gute Dienste geleistet hatte, nun aber aus ihrer Sicht ein überflüssiges Hindernis für die Zerstörung von Tarifverträgen bildete. Die Unternehmer stritten für das Recht, die Löhne weit unter die vom Staat festgesetzten Tariflöhne festzusetzen. Der sogenannte Ruhreisenstreit lief auf eine einseitige Kündigung des Systems der Sozialpartnerschaft von 1918 durch die Unternehmer hinaus und stellte den Einstieg in die weitgehende Zerstörung des damaligen Sozialstaats in den darauffolgenden Krisenjahren dar.
    Auch wenn es richtig ist, dass sich Geschichte nicht einfach wiederholt, könnte der Versuch der Länderregierungen im Frühjahr 2004 die wöchentliche Arbeitszeit für weite Teile des öffentlichen Dienstes von 38,5 auf 42 Stunden auszudehnen eine ähnlich eochemachende Signalwirkung zukommen.
    Im Dezember 1929, sechs Wochen nach dem „Schwarzen Freitag“ an der New Yorker Börse, dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, sprach der Reichsverband der Deutschen Industrie in einer Denkschrift über die Sozialversicherungen von „einer unberechtigten, die Volksmoral schädigende Ausnutzung ihrer Einrichtungen“ – auch damals gab es eine Kampagne gegen faule Arbeitslose und Sozialschmarotzer – und forderte, dass der Sozialstaat „den Grenzen wirtschaftlicher Tragfähigkeit angepasst werden“ müsste. Erste und wichtigste Forderung der Arbeitgeberverbände war eine „Reform“ der Arbeitslosenversicherung, die auch bei steigenden Arbeitslosenzahlen „ohne Erhöhung der Beiträge und ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel durch weitere Ersparnisse auskommen müsse“.
    1932, am Höhepunkt der Krise, hatten die Unternehmerverbände ihr Ziel der Zerschlagung der Arbeitslosenversicherung und der Aufhebung der Tarifbindung der Löhne weitgehend erreicht. Statt 52 Wochen bekam ein Arbeitsloser nur noch sechs Wochen Arbeitslosenunterstützung bei gleichzeitiger Halbierung ihrer Höhe.

    Hungerdemonstrationen, Besetzungen von Sozialämtern und Rathäusern, Plünderungen von Lebensmittelgeschäften, Polizeieinsätze gegen Wohlfahrtsempfänger und Schusswaffengebrauch gegen revoltierende Erwerbslose, eine steigende Selbstmordrate, anwachsende Kriminalität und die Bildung von Jugendcliquen und Banden, ein drastischer Anstieg der Wohnsitzlosen, lange Schlangen vor Suppenküchen oder öffentlichen Wärmestuben – das waren die Themen und Bilder der Berichterstattung der damaligen Presse. Von 8 Millionen Arbeitslosen waren 1932 nur noch 5,7 Millionen überhaupt registriert, von denen mehr als die Hälfte aus den Zahlungen der Arbeitslosenversicherung längst herausgefallen waren und nur noch als Sozialhilfeempfänger von den Kommunen mehr schlecht als recht am Leben gehalten wurden. 12
    Zwischen 1930 und 32 kürzten die Reichsregierungen die sozialpolitischen Ausgaben um mehr als ein Viertel. Die Krise des Sozialstaates beschränkte sich nicht auf die Arbeitslosenversicherung, denn der Anteil der Versicherten an der Erwerbstätigenzahl sank insgesamt. In der Krankenversicherung sackte er von 1929 bis 32 von 61 auf 47 Prozent, in der Unfallversicherung von 74 auf 66 Prozent. „Konkret hieß das, dass während der größten Not der Kreis der Ungeschützten, die durch die Maschen des Sicherheitsnetztes hindurchfielen, stetig anwuchs.“

    Lange Zeit waren sich Wirtschaftshistoriker darin einig, dass die damalige Wirtschaftskrise auf ein grundsätzliches, weltweites Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage – eine Überproduktionskrise – zurückzuführen war. Im Zuge der heute so „modern“ gewordenen Theorien, dass die heutige Stagnationskrise und Arbeitslosigkeit eine Folge zu hoher Soziallasten („Lohnnebenkosten“) sei, wird auch dieses Argument in die Vergangenheit projiziert. „Ob der Ausbau des Weimarer Sozialstaats mit einem zu hohen Preis bezahlt wurde, ist seit einiger Zeit Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Debatten.“ 13 Die weitgehende Zerstörung des Sozialstaates führte zur Demoralisierung und Verzweiflung der Arbeiterschaft und damit zum Aufstieg der Nazis, die das Werk der Konterrevolution dann vollendeten.
    SPD und Gewerkschaften hätten die Chance gehabt, den Aufstieg Hitlers zu verhindern, wenn sie damals Lohnsenkungen und Sozialabbau entschlossen bekämpft hätten. Stattdessen unterstützten („tolerierten“) sie den konservativen Kanzler Brüning, der mit Hilfe von Notverordnungen unter weitgehender Ausschaltung des Parlaments soziale Errungenschaften der Nachkriegsjahre wieder zerstörte.
    Das schon unter Bismarck sichtbar gewordene Reaktionsmuster des bürgerlichen Staates auf die Herausforderung einer sozialistischen Arbeiterbewegung nahm in der Zeit der Weltwirtschaftskrise eine veränderte Form an. Die Krise selbst trieb den bürgerlichen Staat dazu, jene sozialstaatlichen Elemente abzubauen, die nun von den Arbeitern am dringendsten gebraucht worden wären. Die Herrschaftsinstrumente von Zuckerbrot, Peitsche und Sündenbock traten in neuer Mischung auf: je weniger Zuckerbrot, desto mehr Sündenbock und Peitsche. Die parlamentarische Demokratie in den Jahren der Zerstörung des Sozialstaats zeigte, dass es sich keine demokratisch legitimierte Regierung leisten konnte, in so eklatanter Weise die sozialen Rechte der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung zu vernichten, um auf diesem Weg die Krise des Kapitalismus zu bewältigen. Das war jedenfalls das erklärte Ziel Brünings, was er jedoch nicht erreichte. Seine Kürzungen steigerten umgekehrt die Krise noch und erst die Aufrüstung und Kriegsvorbereitungen Hitlers haben zum wirtschaftlichen Aufschwung und zum Abbau der Arbeitslosigkeit geführt. George W. Bush hat dies auf etwas niedrigerem Niveau 2003 nachgemacht. Rüstung und Krieg sind die einzige Alternative des reifen Kapitalismus zu Krise und Arbeitslosigkeit.
    Parallel zur Brüningschen Notverordnungsdiktatur entstand eine neue rassistische Massenbewegung, die „den Juden“ erneut zum Sündenbock für Elend und Armut in Deutschland auserkor. Wie schon unter Bismarck waren es auch dieses Mal in ihrer Existenz bedrohte Elemente des Kleinbürgertums, aus der sich die antisemitische Partei der Nazis primär rekrutierte. Aber dieses Mal blieb es nicht bei einem heimlichen Flirt der Herrschenden mit dem Rassismus wie bei Bismarck, sondern es kam zu einem offenen Bündnis von führenden Kreisen der Unternehmerklasse und dem wildgewordenen Kleinbürgertum der Nazihorden, die im Auftrag der Unternehmer die organisierte Arbeiterbewegung nach 1933 zerschlug und so den Weg zu einem neuen imperialistischen Krieg und zu Auschwitz freimachte.

    Die Lehren von Weimar sind heute wieder aktuell:

  • 1. Ausbau und Einschränkungen des Sozialstaats waren direkt abhängig von der Entwicklung der Kräfteverhältnisse zwischen Arbeitern und Kapitalisten.
  • 2. Dieses Kräfteverhältnis wurde nicht nur durch das Auf und Ab der wirtschaftlichen Konjunktur und der damit verbundenen Zu- und Abnahme der industriellen Reservearmee bestimmt, sondern auch durch die Politik der großen Arbeiterorganisationen, deren Kampfvermögen bzw. Schwäche und Versagen.
  • Die Zeit nach 1945: Adenauers Rentenreform

    Auffällig an der Geschichte des Sozialstaats ist, dass es keineswegs nur sozialdemokratische oder linke Regierungen waren, unter denen Sozialreformen verabschiedet wurden, sondern ebenso konservative. Konservative Epochen der Sozialreform gab es in Deutschland unter Bismarck (1881-1889) und Konrad Adenauer (CDU, 1957-1961).

    1957 führte der CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer die „dynamische Rente“ ein, d.h. die jährliche Anpassung der Rentenhöhe an die Bruttolöhne der Beitragszahler. Die dynamische Rente wurde damals mit einiger Berechtigung als sozialer Fortschritt empfunden, sie sollte eine Perspektive des Alterns ohne Armut und Elend eröffnen. Es war vorgesehen, dass nach 45 Jahren Beitragszahlung ein Rentner/in auf 75 Prozent seines/ihres Nettolohns kommen sollte. Dieses Ziel wurde nie erreicht und insbesondere die Witwenrenten waren lange Zeit sehr niedrig und deshalb weiterhin mit Armut verbunden. Aber auch diese Reform war nicht einfach ein Geschenk der Regierung an das dankbare Volk, sondern eine vorausschauende Politik der Herrschaftssicherung in Zeiten hoher Profitraten der Unternehmer und weit hinterherhinkender Masseneinkommen der abhängig Beschäftigten.
    Die Arbeitslosigkeit war in den Jahren zuvor von 10,4 % (1950) auf 3,5 % (1956) zurückgegangen, Vollbeschäftigung war quasi erreicht und damit war das gewerkschaftliche Selbstvertrauen der Arbeiterschaft wieder erwacht. Die IG Metall hatte im Oktober 1956 die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit von 48 auf 45 Stunden ohne Streik durchgesetzt. Noch im gleichen Monat traten 34.000 Metallarbeiter in Schleswig-Holstein in den Streik, um eine Angleichung der Lohnfortzahlung bei Krankheit an die gesetzliche Regelung für die Angestellten durchzusetzen. Der Streik dauerte fast vier Monate und endete erst am 14. Februar 1957 – genau neun Tage bevor im Bundestag eine große Rentenreform beschlossen wurde. Wenige Monate später verabschiedete der Bundestag das „Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfall.“
    In der ersten Hälfte der 70er Jahre waren das Selbstbewusstsein und die Kampfbereitschaft der Arbeiterschaft rasch gewachsen, es gab politische Streiks gegen den Versuch der CDU, 1972 den populären SPD-Kanzler Willy Brandt zu stürzen, der 1969 auf einem Programm von Frieden, Demokratisierung und Sozialreformen gewählt worden war. Immer wieder kam es zwischen 1969 und 1974 zu meist erfolgreichen Streiks um Löhne und Arbeitsbedingungen und es war kein Zufall, dass der Sozialstaat eben in dieser Zeit auch noch einmal ausgebaut wurde. Es gab nun auch die gesetzliche Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (1969), die Senkung des Rentenalters auf 63 (Männer) und 60 Jahre (Frauen) (1972), den Ausbau des Bildungssektors und die Einführung der Ausbildungsförderung (Bafög) für Schüler und Studenten (1971), der den Zugang zu den Universitäten und Hochschulen auch für jene öffnete, die nicht aus wohlhabenden Familien kamen.

    Die Wende zum Sozialabbau

    Die Wende kam mit der Wirtschaftskrise 1974/75, bei der die Zahl der Arbeitslosen erstmals wieder über die eine Million anstieg. Sowohl die Regierungen unter SPD-Kanzler Helmut Schmidt (1974-82), wie auch unter CDU-Kanzler Helmut Kohl (1982-98) nutzten das Wiederanwachsen der „industriellen Reservearmee“ von 250.000 (1973) auf über vier Millionen (1998) zu Angriffen auf das soziale Netz. Helmut Schmidt hatte 1976 den Wahlkampf u. a. mit der Parole „die Renten sind sicher“ geführt, um nach gewonnener Wahl die Anpassung der Renten an die Löhne zum ersten Mal seit 1957 ein halbes Jahr auszusetzen. Helmut Kohl konnte sich auf Schmidts Vorarbeit stützen, als er 1983 die Renten dauerhaft kürzte, indem er einen Krankenversicherungsbeitrag für Rentner einführte. In den folgenden Jahren wurde der Sozialstaat durch zahllose Einzelkürzungen oder Verschlechterungen langsam zurückgedrängt.
    Der Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt hatte 1975 noch 30 Prozent betragen, Ende der achtziger Jahre waren es nur noch 27 Prozent.
    Die Regierung Schröder ist dem Weg des Sozialabbaus seiner Vorgänger Helmut Kohl und Helmut Schmidt nicht nur gefolgt, sondern hat sie schon weit „übertroffen“ (vgl. Kapitel 1).
    Die Unternehmerverbände führen heute wie 1928-29 eine erbitterte Kampagne gegen den Sozialstaat und gegen Flächentarifverträge. Damals wie heute richtet sich ihre zerstörerische Energie vor allem gegen die Arbeitslosenversicherung, Kündigungsschutz und Flächentarifverträge, weil sie sich von deren Beseitigung einen erhöhten Druck der Arbeitslosenreserve auf die Beschäftigten und eine Schwächung der Gewerkschaften versprechen.
    Zugleich hat die Regierung Kohl mit ihrer Kampagne gegen eine angebliche Asylantenflut in den Jahren 1991 und 1992 und der Änderung des Grundgesetzes auf Asylrecht erneut demonstriert, dass die Herrschenden bereit sind, den rassistischen Mob wohlwollend zu dulden, sich auf ihn zu stützen, um sich verschärfende Klassenwidersprüche in rassistische Bahnen umzulenken. Und die Regierung Schröder hat bereits angekündigt, dass auch sie bereit ist, zum Mittel staatlicher Repression zu greifen, wenn die Gewerkschaften nicht bereit sein sollten, „freiwillig“ den Flächentarifvertrag aufzugeben. Auch heute gilt, was bereits unter Bismarck in der Entstehungsphase des Sozialstaats und unter Brüning in der ersten großen Zerstörungsphase des Sozialstaats sichtbar wurde: je geringer die Krise des Kapitalismus den Spielraum für Sozialreformen werden lässt, desto eher werden die Herrschenden sich auf irrationale rassistische und nationalistische Kräfte stützen und desto offener werden sie auf polizeistaatliche Mittel zur Herrschaftssicherung zurückgreifen. Die heute Gestalt annehmende rassistische Kampagne gegen den „Islamismus“, die gleichermaßen dazu dient imperialistische Interessen nach außen zu legitimieren und klassenspaltend den Widerstand gegen Sozialabbau im Inneren absichern helfen soll, zeigt die Entschlossenheit der Herrschenden, ihr Programm der Zerstörung sozialer Errungenschaften durchzusetzen.
    Aber die teilweise erfolgreichen Abwehrkämpfe unter der Kohl-Regierung nach der Wiedervereinigung zeigen, dass es heute wie vor 120 Jahren unter Bismarck möglich ist, trotz gestiegener Massenarbeitslosigkeit Sozialreformen zu erkämpfen oder zu erhalten, die diesen Namen verdienen. Im April 1990 kam es zu einer massiven und erfolgreichen Protestwelle der (noch) DDR-Arbeiter, als die Regierung Kohl einen Umtauschkurs für Löhne und Renten im Verhältnis 1:2 einführen wollte. Als 1991 aus Protest gegen die Abbruchpolitik der Treuhand die Montagsdemonstrationen für einige Wochen wieder aufgenommen wurden, weitete die Bonner Regierung den Umfang der ABM-Maßnahmen aus, um den Übergang in die Arbeitslosigkeit zeitlich zu strecken. Als Kohl 1996 die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für die ersten drei Krankentage aufheben wollte, demonstrierten 350.000 Gewerkschafter im Bonner Hofgarten, einige Monate später streikten einige Tausend Arbeiter bei Daimler-Benz in Stuttgart und setzten so durch, dass das Gesetz nicht angewandt wurde.
    Die wahren Helden des deutschen Sozialstaates sind nicht Bismarck, Adenauer oder Brandt gewesen: es waren die tausenden Namenlosen, die unter Bismarcks Sozialistengesetzen die Gefängnisse füllten oder 1991 in Leipzig gegen Massenentlassungen auf die Straße gingen, denen wir heute soziale Rechte verdanken. Der Sozialstaat wurde uns nicht von oben geschenkt, sondern durch Klassenkämpfe und Gegenmacht von unten durchgesetzt – die einzige Sprache, die das Kapital und ihre Politiker verstehen.
    Vor allem hat die Geschichte Rosa Luxemburg Recht gegeben, die sagte, dass Revolutionäre die besten Reformer seien. Die größten Zugeständnisse machten die Herrschenden immer dann, wenn sie ihre Herrschaft durch das Hochkommen revolutionärer sozialistischer Bestrebungen in den unterdrückten Massen gefährdet sahen. Das war unter Bismarck so, das war in den Jahren 1918-20 der Fall und das war nach 1968 der Fall als ganz Europa und auch Deutschland von einer Welle von Klassenkämpfen und der Wiedergeburt einer revolutionären Linken erfasst worden war. Nicht das Geschick oder der Wille sozialdemokratischer Führer war entscheidend, sondern die Furcht der herrschenden Eliten vor Machtverlust und Produktionsstörungen durch Massenbewegungen von unten.

    Anmerkungen:
    1Die Staaten mit geringer Rüstung wie Schweden, aber auch Deutschland und Japan, hatten in den Jahrzehnten
    des Kalten Krieges und der Zweiteilung der Welt einen Vorteil. Sie gaben wenig für unproduktiven Konsum (Rüstung) aus und konnten einen Größeren Teil der Staatseinkommen in Wohlfahrtseinrichtungen investieren
    und waren doch abhängig vom Rüstungskapitalismus der USA als Lokomotive der Weltwirtschaft. Diese
    Arbeitsteilung funktioniert seit dem Ende des Kalten Kriegs immer weniger, weil die USA als einzig verbliebene
    Supermacht nicht mehr geneigt sind, die Interesse der kapitalistischen Staaten ohne oder mit geringer
    Verschwendungsproduktion stellvertretend weltweit wahrzunehmen.
    2 Jürgen Habermas, „Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien“, in: J. Habermas,
    Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985, S. 147
    3 Vgl. Thomas Freyberg, „Die inszenierte Krise des Sozialstaats. Ein Angriff auf den demokratischen Prozess“,
    in: Widersprüche 66, (1997) S. 179
    4 Christoph Butterwegge, Wohlfahrtsstaat im Wandel, Opladen, 2001, S. 72
    5 Wolfgang Müller/Christel Neusüss, „Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und
    Kapital“, in Probleme des Klassenkampfes – Sonderheft 1 – Westberlin/Erlangen 1971, S. 22
    6 zitiert nach Müller/Neusüss, a.a.O. , S. 23
    Ebenda
    8 Vor der Bismarckschen Sozialgesetzgebung gab es in vielen Betrieben bereits betriebliche Sozialleistungen, die zum Teil auch nach den staatlichen Reformen in wechselnden Spannungsverhältnissen weiterbestanden (Betriebskrankenkassen, betriebliche Pensionsfonds, Werkswohnungen u.a.). Vgl. Christoph Deutschmann, „Betriebliche und gesellschaftliche Existenzsicherung in historischer Perspektive“, in: Georg Vobrura (Hrsg.): Der wirtschaftliche Wert der Sozialpolitik, Berlin 1989, S. 34 f. Deutschmann geht auf die Frage ein, „warum es zu dieser Verstaatlichung der Sozialpolitik … kam“ und zählt als Gründe auf: „Die betriebliche Sozialpolitik war wenig effizient, sie schloss große Teile der Arbeiterschaft und unter ihnen gerade die besonders Bedürftigen aus, sie war anfällig gegen das Risiko des Unternehmensbankrotts. Zweitens: Sie bewirkte Rigidität am Arbeitsmarkt, indem sie einen ökonomisch möglicherweise sinnvollen Wechsel der Arbeitskräfte zwischen Betrieben erschwerte. Drittens: Sie war politisch umstritten, die Gewerkschaften brandmarkten sie als Instrument der Unternehmer, um die Arbeiterschaft in Abhängigkeit zu halten.“ Ebenda, S. 34
    9 Eine der Forderungen von Stoeckers Christlichsozialer Partei war, dass „jüdische Lehrer von den Volksschulen
    entfernt werden.“ Die Hessische Landesregierung von Roland Koch (CDU), die gerade über 2 Milliarden Euro im Sozialbereich gekürzt hat, hat im Februar 2004 ganz in Stoeckers rassistischer Tradition, ein Gesetz im Hessischen Landtag eingebracht, das hessischen Lehrerinnen und Beamtinnen das Tragen des Kopftuchs verbietet.
    10 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1849 – 1914, München 1995, S. 912
    11 Ebenda
    12 Wer einen Eindruck über die dramatischen Auswirkungen auf das alltägliche Leben der Menschen in dieser Zeit gewinnen will, sollte Romane oder Erzählungen jener Jahre wie Erich Kästners „Fabian“ oder Hans Falladas „Kleiner Mann, was nun“ lesen.
    13 Gabriele Metzler, a.a.O., S. 76

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