Vor 80 Jahren: Arbeiter und Soldaten übernehmen die Macht!

Die deutsche Geschichte ist ein heißes Thema. In der öffentlichen Debatte wird der Eindruck erweckt, die Deutschen seien generell reaktionär gepolt. Doch das ist nichts als Propaganda, wie die folgenden Zeilen zeigen. „Kein eleganter Herr, keine wohlhabende Dame wagte es, sich auf den Straßen zu zeigen. Es war, als ob die Bourgeoisie von der Erde verschwunden sei. Zu sehen waren nur Arbeiter – Lohnsklaven. Aber sie waren bewaffnet. … Es war ein beispielloser Anblick: Ein Gedränge bewaffneter Proletarier in Uniform oder Arbeitskleidung, das sich in endlosen Reihen fortbewegte. Es waren bestimmt 12 bis 15 tausend bewaffnete Männer … Die Versammlung vor dem Schloß bot ein Bild wie am 1. Mai – doch was für ein anderer Charakter!“ Wie kam es zu diesem Ausbruch von Selbstbewußtsein, der das gängige Bild von der spießigen Beamtenseele so grundlegend in Frage stellte?

Meuterei

Am 1. Oktober 1918 mußte die Oberste Heeresleitung in Person General Ludendorffs die Niederlage des Reiches an allen Fronten eingestehen. Um dem politischen Zusammenbruch zuvorzukommen, wurde über Nacht die Demokratie eingeführt: Prinz Max von Baden bildete am 5. Oktober eine Regierung der Reichstagsmehrheit, die auch die SPD einschloß. Die Oberste Heeresleitung hatte praktisch eine Militärdiktatur ausgeübt. Ludendorff wollte jetzt die Neuen „die Suppe auslöffeln lassen“ und als Retter des Vaterlands wiederkehren: „Na, komme ich mal wieder zur Macht, dann gibt’s kein Pardon. Mit ruhigem Gewissen würde ich Ebert, Scheidemann und Genossen aufknüpfen und baumeln sehen.“ Die Regierung unterbreitete sofort ein Waffenstillstandsangebot. Währenddessen lagen die deutschen Kriegsschiffe vor Wilhelmshaven. Karl Retzlaff, Arbeiter und Mitglied des Spartakusbundes beschreibt die letzten Kriegstage: „Die deutsche Hochseeflotte aber war durch jahrelange Stillegung, obwohl täglich unter Dampf, eingerostet, die Mannschaften durch unablässiges nervtötendes Schleifen und mangelnde Ernährung demoralisiert. Als in letzter Stunde die oberste Marineleitung die Matrosen durch eine Verzweiflungsaktion gegen England in den Tod schicken wollte, verweigerten diese die Ausfahrt.“ Den genauen Hergang schildert der deutsche Historiker Sebastian Haffner: „Auf der Thüringen, einem der beiden letzten Linienschiffe, die am 30. Oktober die Ausfahrt verweigerten, ging ein paar Tage zuvor ein Matrosenabgeordneter zum Ersten Offizier und erklärte, daß der geplante Flottenvorstoß wohl nicht im Interesse der neuen Regierung sei. … Die Meuterei auf Schilling-Reede – ein verheimlichtes Drama, von dem noch tagelang niemand in Berlin oder im Hauptquartier in Spa etwas erfuhr – endete unentschieden. Nach atemberaubenden Minuten, in denen die meuternden und noch nicht meuternden Schiffe aus nächster Nähe ihre riesigen Kanonen aufeinander gerichtet hatten, ergaben sich die Meuterer.“ Ein Teil der Flotte wurde dann nach Kiel verlegt. Dort reifte die Keimzelle der Rätebewegung weiter heran. Abordnungen der Matrosen zogen zum Ortskommandanten, um die Freilassung ihrer meuternden Kameraden zu erreichen. Drei Tage voller Unruhe und Diskussion vergingen erfolglos.

Explosion

Am 3. November versammelten sich die Matrosen auf einem großen Platz. Massen von Arbeitern schlossen sich ihnen an. Ein Demonstrationszug bildete sich, den einige Straßen weiter eine Militärpatrouille stoppte. Der Kommandant ließ das Feuer eröffnen, als der Zug sich nicht aufhalten lassen wollte – neun Tote und neunundzwanzig Verletzte blieben auf dem Pflaster zurück. Aber die Matrosen waren entschlossen, sich ihrer Führung zu widersetzen. Und sie waren bewaffnet. Einer von ihnen gab den Startschuß: Er erschoß den Kommandanten. Damit war der Knoten geplatzt, die Revolte nicht mehr aufzuhalten. Haffner schreibt: „Am Morgen des Montags, des 4. November wählten alle Matrosen des Dritten Geschwaders Soldatenräte, entwaffneten ihre Offiziere, bewaffneten sich selbst und hißten auf den Schiffen die rote Fahne. … Bewaffnete Matrosen, jetzt unter dem Kommando ihrer Soldatenräte, unter denen ein gewisser Obermatrose Artelt die Führung ergriffen hatte, gingen in militärischer Formation an Land, besetzten ohne Widerstand das Militärgefängnis und befreiten ihre Kameraden. Andere besetzten öffentliche Gebäude, wieder andere den Bahnhof.“ Der Aufstand der Soldaten breitete sich aus wie ein Lauffeuer. Wo sie die Macht an sich rissen, schlossen sich Arbeiter aus den Fabriken begeistert an. „Am 5. November hatte die Revolution Lübeck und Brunsbüttelkoog erfaßt, am 6. Hamburg, Bremen und Wilhelmshaven, am 7. Hannover, Oldenburg und Köln; am 8. hatten sie alle westdeutschen Großstädte unter ihre Kontrolle gebracht und in Leipzig und Magdeburg schon über die Elbe gegriffen. … Das äußere Bild war überall dasselbe: Überall große Umzüge in den Straßen, große Volksversammlungen auf den Marktplätzen. … Überall wurden als erstes die politischen Gefangenen befreit, nach den Gefängnissen die Rathäuser, die Bahnhöfe, die Generalkommandos, manchmal auch die Zeitungsredaktionen besetzt.“

Revolutionäre Demokratie

Als die Arbeiter und Soldaten gegen die herrschende Klasse revoltierten, beförderten sie zugleich den alten Obrigkeitsstaat ins Jenseits. Erfahrungen mit bürgerlicher Demokratie gab es in Deutschland nicht. Ebensowenig hatten die Arbeiter und Soldaten Erfahrung mit Rätedemokratie. Räte, Organe der revolutionären Selbstverwaltung, waren zuerst in Rußland aufgetaucht. Durch Räte organisierten sich die Arbeiter in der Revolution 1905. Arthur Rosenberg, der zunächst Kommunist war und später Reichstagsabgeordneter der SPD wurde, schreibt: „Im zaristischen Rußland waren Gewerkschaften kaum vorhanden, und die politischen Arbeiterparteien setzten sich aus kleinen illegalen Gruppen zusammen. So kam es, daß die Arbeitermassen, wenn sie in Bewegung gerieten, sich neue Organe schufen. Es waren Organe der einfachsten Art. In Petersburg wählten die einzelnen streikenden Betriebe ihre Vertrauensleute.“ Deutschland war zwar Heimat der größten Arbeiterbewegung der Welt, aber der Militarismus hatte das Heft fest in der Hand gehalten. „So fehlte den deutschen Volksmassen jede praktische Erfahrung darin, wie sie selbstverantwortlich ihre Angelegenheiten besorgen sollten. … Die wirkliche Demokratie besteht aber nicht in der Abgabe irgendwelcher Stimmzettel, sondern in der aktiven Selbstregierung der Massen. So war die Frage nach der Überwindung des bürokratischen Apparats zugleich die Frage nach Leben oder Tod der deutschen Demokratie. Durch die historische Entwicklung und durch das eigenartige russische Vorbild waren nun plötzlich die Organe einer demokratischen Selbstregierung der Massen in Deutschland vorhanden. Die Arbeiterräte wurden in den Betrieben gewählt und standen in engster Verbindung mit ihren Auftraggebern, von denen sie jederzeit wieder abberufen werden konnten.“ Nach Lenins Definition war hier eine Revolution in vollem Gange: Die Herrschende konnten nicht mehr, wie sie wollten; und die Unterdrückten wollten nicht mehr, wie sie sollten. Die spontane Reaktion war die Selbstverwaltung durch das Rätesystem, eine direktere Demokratie, als sie seitdem in den sogenannten hochentwickelten Demokratien Deutschland oder den USA je existiert hat. Ohne jede schriftliche Verfassung oder parlamentarische Legitimation konnten die Räte die Ordnung im Interesse der Arbeiter und Soldaten regeln. Rosenberg: „Es war leicht möglich, die Räte der einzelnen Orte zu Landeskonferenzen zusammenzufassen und aus solchen Landeskonferenzen einen Reichsrätekongreß hervorgehen zu lassen. Das Entscheidende an dem Rätegedanken ist nicht diese oder jene Form. … Sondern entscheidend ist die Überwindung des historischen Gegensatzes zwischen Exekutive und Legislative, die Ersetzung der bürokratischen Regierung über das Volk durch die Selbstregierung der mündigen Volksmassen.“

Kampf um die Macht

Nachdem ganz Deutschland unter die Kontrolle der Arbeiter und Soldaten gebracht war, fiel am 9. November auch das Herz des Kaiserreichs, Berlin. Richard Müller, einer der Anführer der Revolutionären Obleute, einer Organisation von Gewerkschaftern, die durch erfolgreiche Streikaktionen während des Krieges inzwischen landesweit verankert war, erzählt: „Die Verkehrsmittel waren vollständig in Betrieb und die Arbeitermassen strömten wie sonst in die Fabriken, Bureaus und Geschäftshäuser. Der Spießer konnte ruhig seinen gewohnten Morgenkaffee trinken. Revolutionsstimmung war äußerlich nirgends sichtbar. Aber nach der Frühstückspause wurde es lebhaft. Die Fabriken leerten sich in unglaublich schnellem Tempo. Die Straßen füllten sich mit gewaltigen Menschenmassen. An der Peripherie, wo die größten Fabrikbetriebe liegen, formierten sich große Demonstrationszüge, die dem Mittelpunkt der Stadt zuströmten. Daß es sich nicht um eine friedliche Demonstration handelte, zeigten die zahlreichen Pistolen, Gewehre und Handgranaten, die überall sichtbar waren.“ Der Druck der Massen war so groß, daß der SPD-Abgeordnete Scheidemann sich gezwungen sah, in der Mittagspause von einem Fenster des Reichstags aus offiziell die Republik auszurufen. Damit kam er dem Revolutionär Liebknecht zuvor, der gegen vier Uhr nachmittags an der Spitze der Massenbewegung rief: „Die Herrschaft des Kapitals, die Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen. … Wenn auch das Alte niedergerissen ist, dürfen wir doch nicht glauben, daß unsere Aufgabe getan sei. Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen, um eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt. Wir reichen ihnen die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf.“

Spontaneität

Diese Entwicklung war entscheidend für den Verlauf der Revolution. Während in Bayern schon die erste Räterepublik etabliert war, setzte in Berlin ein Machtkampf ein. Unter der Führung der Obleute wurde in der Nacht zum Sonntag, dem 10. November, der Reichstag besetzt. In allen Berliner Betrieben sollten am folgenden Tag Räte gewählt und ein Rätekongreß im Berliner Zirkus Busch zusammengerufen werden. Dort, so planten die Obleute, könne die politische Macht in den Händen der Räte zusammengefaßt werden. Rosenberg erklärt: „Die revolutionären Obleute hatten im Oktober 1918 in Berlin einen Aufstand vorbereitet, der die Errichtung der sozialistischen Regierung zum Ziele haben sollte. Aber sie waren durch die allgemeine breite Massenbewegung, die von Kiel ausging, überrumpelt worden, und so hatten sie die Bildung der bürgerlichen Republik und der Koalitionsregierung aus der SPD und USPD nicht verhindern können.“ Die Rätebewegung sollte im Zirkus Busch von eben dieser Koalition niedergeworfen werden. Die Spontaneität, mit der sich die Revolution entwickelt hatte, hatte ihre Gegner beiseite gefegt. Die mangelnde politische Erfahrung der meisten revolutionären Arbeiter und das Fehlen einer starken, zielsicheren Führung führten jedoch dazu, daß sie sich letztendlich nicht durchsetzen konnten. Aber die deutsche Arbeiterklasse sollte aus dieser Erfahrung Lehren ziehen und in den darauffolgenden Jahren noch oft ihre Sprengkraft unter Beweis stellen.

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