Die Februarrevolution

Wenn über die russische Revolution von 1917 geschrieben wird, ist meistens von der Oktoberrevolution die Rede. Aber die russische Revolution von 1917 bestand aus zwei Revolutionen, der Revolution gegen den Zarismus und seinen Krieg im Februar/März 1917 und der sozialistischen Revolution im Oktober/November 1917. Es wird auch immer wieder behauptet, daß die russische Revolution ein Putsch der Bolschewik! (revolutionärer Flügel der russischen Sozialdemokratie) gewesen sei und daß Lenins Konzept (und diejenigen anderer Sozialisten) mehr oder weniger direkt zur stalinistischen Diktatur geführt habe, mit dem unsäglichen Leid für Millionen Menschen und zur Diskreditierung des Sozialismus überhaupt.
Doch wenn man die Ereignisse, die zur Oktoberrevolution führen sollten, genauer betrachtet, erweist sich, daß die Revolution eine Massenerhebung der Arbeiter und Bauern gegen den Zarismus und die mit diesem verbündete Bourgeoisie war.

Das Rußland der revolutionären Epoche wies mehrere Eigentümliebkeiten auf. Die russische Bevölkerung bestand vorwiegend aus Bauern (l50 Millionen) und eine im Vergleich dazu geringen Anzahl von Arbeitern (etwa 10 Millionen). Auf dem Lande herrschten die feudalen Großgrundbesitzer, die Industrie zu jener Zeit war in wenigen Großstädten konzentriert, zu einem großen Teil in (40%) ausländischer Hand und gleichzeitig hochmodern. Das russische Bürgertum war ökonomisch und politisch sehr schwach. Die gesamte Entwicklung Rußlands war im Vergleich zu den anderen großen Nationen zurückgeblieben.

Das politische System Rußlands war von feudalen Strukturen geprägt mit dem absolutistisch herrschenden Zaren an der Spitze. Die Leibeigenschaft wurde erst 1861 abgeschafft. "Das Handwerk hatte, in Rußland keine Zeit gehabt, sich vom Ackerbau zu trennen, he.wahre vielmehr den Charakter der Heimarbeit." [1] Ohne die Entwicklung des Handwerkertums in den Städten blichen die zahlreichen Aufstände auf dem Lande erfolglos, ganz im Gegenteil wurde durch diese Niederlagen die feudale Struktur nur befestigt, da der Adel seinen Schutz beim Militarismus des Zaren suchte. Natürlich konnte Rußland nicht seine Augen vor der Entwicklung der Industrie verschließen, aber dabei spielte das Bürgertum als eigenständige Kraft nur eine
untergeordnete Rolle. Die fortschrittlichen Teile des Adels wurden auch Kapitalisten, aber sie blieben auch Feudalherren, die aus Angst vor dem Verlust ihres Grundbesitzes politische Reformen scheuten. So auch 1905, als die Revolution der Arbeiter und Bauern dem Zarismus die Macht streitig machte, aber blutig unterdrückt wurde. 1905 lag die Führung der Revolution bei der Arbeiterklasse, die sich in demokratisch gewählten Arbeiterräten (Sowjets) organisiert hatte.

Zwischen der Revolution 1905 und dem Beginn des 1. Weltkrieges nahm die russische Industrie eine rasante Entwicklung, die Industrieproduktion verdoppelte steh. Dabei entstanden hochmoderne und riesige Fabriken:

"Kleine Betriebe mit einer Arbeiterzahl bis 100 Mann umfaßten im Jahre 1914 in den Vereinigten Staaten 35% der gesamten Industriearbeiter, in Rußland nur 17,8%. Bei einem ungefähr gleichen spezifischen Gewicht der mittleren und größeren Unternehmen mit WO bis 1000 Arbeitern betrugen in den Vereinigten Staaten Riesenunternehmen mit über 1000 Arbeitern 17,8% der gesamten Arbeiterzahl, in Rußland 41,4%."[2]

Dies zeigt, daß es in Rußland zu Beginn des Ersten Weltkrieges nur äußerst schwach entwickelte Mittelschichten gab,
die eine politische Basis für bürgerliche Reformen hätte sein können, wobei noch hinzukommt, daß die wichtigsten Industrie- , Bank- und Transportunternehmen in der Hand ausländischer Besitzer waren, die keinerlei Interesse hatten, bürgerliche Reformen voranzutreiben, weil man die Arbeiter unter der Knute des Zarismus doch; hervorragend ausbeuten konnte. Doch insgesamt war die Wirtschaftskraft Rußlands viel schwächer als die des Gegners im 1.Weltkrieg, Deutschland. Dem russischen Bürgertum saß noch der Schrecken der Revolution von 1905 in den Knochen. Daher scharte es noch enger um den Zarismus.

Die schnelle Entwicklung der Industrie in dieser Periode führte dazu, daß die Arbeiter trotz des seit 1906 anhaltenden Terrors des Zarismus langsam wieder Selbstvertrauen gewannen und ah 1912 wieder vermehrt für wirtschaftliche und politische Forderungen in den Streik traten: [3]

Jahr Teilnehmer an polit. Streiks (in 1000)

1903
1904
1905
1906
1907
1908
1909
1910
1911

1912
1913
1914(1. Hj.)    
1915
1916
1917 {Jan.-Feb.)     


87*
25*
1843
651
540
93
8

4
8
550
502
1059
156
310
575

* einschließlich ökonomischer Streiks, wobei diese überwogen.

Kurz vor Kriegsbeginn im August 1914 befanden sich fast alle Betriebe Petersburgs im Streik oder waren ausgesperrt. Die Arbeiter lieferten sich erbitterte Straßenschlacblen und Barrikadenkämpfe mit den Kosaken und der Polizei. Überall waren rote Fahnen zu sehen. Diese Zunahme von Streiks und politischer Unrast wurde jedoch durch den Eintritt Rußlands in den 1. Weltkrieg an der Seile Englands und Frankreichs gegen Deutschland unterbrochen.

Der Erste Weltkrieg

Der 1. Wellkrieg war im wesentlichen ein Krieg um die Weltherrschaft.
Rußland war wirtschaftlich als zurückgebliebenes Land natürlich in keiner
Weise den Konkurrenten gewachsen. Aber der Zarismus versprach sich vom Krieg an der Seite
Englands und Frankreichs, daß diese grünes Licht für die Knebelung und Plünderung von Ländern
in der Region gaben, die noch schwächer waren (Türkei, Persien). Die Bolschewiki waren die
einzige Krafl, die sich in Rußland dem nationalistischen Kriegstaumel entgegenstellten.
Die Menschewiki (rechte Sozialdemokraten), die Sozialrevolutionäre (kleinbürgerliche
Bauernpartei) und das Bürgertum scharten sich um die Kriegsziele des Zarismus; die Forderungen
nach Demokratie, Agrarreform und die Forderungen der Arbeiterbewegung hatten hinter den
Kriegszielen zurückzutreten.

Für den Ausgang des Krieges im Kapitalismus ist vor allem die
Wirtschaftskraft der kriegführenden
Länder entscheidend. Es ist vor allem eine Materialschlacht.

"Der Mangel an Kampfvorräten, das Fehlen von Fabriken für deren
Hersteilung, das dünne Eisenbahnnetz für deren Zufuhr, übersetzen die Rückständigkeit Kußlands
in die allgemein verständliche Sprache der Niederlagen, die die russischen
Nationalliberalen daran erinnern, daß ihre Ahnen die bürgerliche Revolution nicht vollendet
hatten…
" [4]

So sollte es auch nicht lange dauern, bis nach einer Reihe von Niederlagen
1915 der allgemeine Rückzug der russischen
Armee begann, verbunden mit der Suche nach den Schuldigen im Inneren (Juden, Bolschewiki und
Leute mit deutschem Namen). Auf einer Ministersitzung am 4. August 1915 beurteilte der
Kriegsminister, General Poliwanow, die Lage folgen dermaßen: "Ich vertraue auf die
unwegsamen Flächen, auf die uferlosen Sumpfe und auf die Gnade des heiligen Nikolaus
Mirlikjinski, des Schutzpatrons des heiligen Rußland.
"[5]
Und eine Woche später äußerte der General Russki vor dem gleichen Gremium: "Die
modernen
Forderungen der Kriegstechnik gehen über unsere Kraft.
"[6]
Bis
dahin waren über 15 Millionen Menschen, vor allem Bauern, zum Kriegsdienst ausgehoben, 5,5
Millionen waren tot, verwundet oder gefangen. Die mangelnde Wirtschaftskraft versuchte man
durch Menschenmaterial zu kompensieren, was aber nur dazu führte, daß die Produktion von
Nahrungsmitteln und Kriegstechnik im Hinterland geschwächt wurde (40% der Arbeiter Petersburgs
waren zur Armee eingezogen, womit man sich auch eine Schwächung der linken Kräfte in den
Betrieben erhoffte; aber gleichzeitig wurde damit erreicht, daß die Parolen der
fortschrittlichen Arbeiter
die Front erreichten).


Sozialismus oder Kapitalismus:
Die zwei Konzeptionen der russischen Revolution

Die Menschewiki folgten dem mechanistischen Dogma, daß der Sturz des Feudalismus nur im Bündnis zwischen Bourgeoisie und Arbeitern stattfinden könne, wogegen die Bolschewiki sahen, daß die russische Bourgeoisie zu eng mit dem Feudaladel verbunden war und von daher unfähig sein mußte, den Feudalismus zu stürzen und eine bürgerliche Revolution durchzuführen. Nur ein Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern könne den reaktionären Feudalismus stürzen.

Des weiteren gingen die Menschewiki und wie auch viele Bolschewiki davon aus, daß eine sozialistische Gesellschaft erst dann errichtet werden könne, wenn eine lange Phase der kapitalistischen Entwicklung durchlaufen sei. Lenin und Trotzki, die anerkannten Führer der Arbeiterklasse Rußlands, die sich zu jener Zeit noch im Exil befanden, hielten dies für vermeidbar, "wenn die Arbeiterklasse in einer Anzahl von fortgeschrittenen Ländern die Macht errang, wenn sie den rückständigeren mit allen verfügbaren Mitteln zu Hilfe eilte." [19] Und dies war keine unrealistische Hoffnung, wenn man die revolutionäre Flut berücksichtigt, die Europa am Ausgang des Ersten Weltkriegs erschütterte.


Die Lage war aussichtslos und nur ein sofortiger Austritt aus dem Weltkrieg
hätte den Zarismus
vorläufig retten können. Doch die Gier nach Eroberungen war stärker, und die Kapitalisten
verdienten auch nicht schlecht am Krieg, einmal abgesehen davon, daß die Unruhen der Massen
nach einer Kapitulation Rußlands verstärkt wieder aufflammen würden. So griff statt dessen
Fatalismus und Intrige unter den Herrschenden um sich.
Minister und Generäle wurden des Verrats beschuldigt und ausgewechselt.
Der Generalstab und die Duma (ein Parlament ohne Befugnisse) bezichtigten den Zarenhof des
Deutschtums (die Zarin war eine deutsche Fürstin), waren aber, wie schon früher, zu feige, den
Zaren zu stürzen. In den zweieinhalb Jahren des Krieges hatte Rußland vier Premierminister,
fünf Innenminister, vier Agrarminister und drei Kriegsminister verschlissen, was die tiefe
Verunsicherung und politische Spaltung der Herrschenden deutlich macht.

Und auch das Bündnis mit
Frankreich und England war ein Bündnis zwischen Herrn und Sklaven: "England hat
geschworen, standhaft durchzuhatten bis zum fetzten Blutstropfen … des russischen
Soldaten
" [7], ging die Rede in den Offizierskasinos.
Die Soldaten an der Front fingen an, dies für
sich zu übersetzen: "Alle sind bereit bis zum letzten Tropfen … meines Blutes zu
kämpfen." [8] Die zaristische Geheimpolizei Ochrana meldete
Oktober 1916:

"Die Armee im Hinterland und ganz besonders an der Front ist voll von Elementen,
die zum Teil fähig sind, eine aktive Kraft des Aufstandes zu werden, während die anderen
nur imstande wären, die Unterdrückungsarbeit
zu verweigern.
" [9]

An der Front kam es zu Unruhen, und es kam vor, daß ganze Truppenteile
geschlossen desertierten. Offiziere, die sich den Soldaten entgegenstellten, mußten um
ihr Leben fürchten. In der Flotte waren Meutereien keine Seltenheit.

Je länger der Krieg dauerte, um so schlechter wurde die Versorgungslage auch in den
Städten, und die Inflation stieg immer weiter. Das Streikverbot wurde kaum noch befolgt. Die
Polizeitruppen gingen mit äußerster Brutalität gegen die Streikenden vor, viele Arbeiter
wurden erschossen, mit dem Resultat, daß die Empörung wuchs. Es kam zu Solidaritätsstreiks,
und die Streiks wurden zunehmend politischer. Die Arbeiter und Soldaten forderten sofortigen
Frieden, Brot, Land und das allgemeine Wahlrecht. Soldaten, die zur Unterstützung der Polizei
herangezogen wurden, fingen vereinzelt an, nicht die Arbeiter zu beschießen, sondern die
Polizei.

"Die oppositionellen Stimmungen haben einen enormen Umfang angenommen, wie sie.
ihn in der erwähnten Wirrnisperiode (gemeint ist die Revolution von 1905) in den breiten
Massen bei weitem nicht erreicht hatten" [10] so der Polizeidireklor von Petersburg im
November 1916.

Bei all diesen Widerstandsaktionen war die Organisation der Bolschewiki von
entscheidender Bedeutung, denn sie gab der Bewegung die politische Orientierung. Die Ochrana
versuchte zwar immer wieder, der führenden Mitglieder der Bolschewiki habhaft zu werden und
ihre Organisation zu zerschlagen, aber unter großen Opfern gelang es immer wieder, die
Organisation am Leben zu erhalten und Flugblätter herauszubringen. Die Bolschewiki hatten zu
jener Zeit nur einige Tausend Mitglieder, aber sie hatten einen großen Einfluß in den
Großbetrieben und in den Arbeitervierteln.

Angesichts der verzweifelten Lage wurde es Anfang 1917 immer klarer,
daß einzelne Streiks und Demonstrationen nicht
mehr ausreichen. Immer mehr reifte der Gedanke, daß nur gemeinsame Aktionen des
Proletariats eine Änderung bringen könnte.

Am 23. Februar 1917 war der internationale Frauentag, zu dem die üblichen
sozialdemokratischen Demonstrationen stattfinden sollten. In den Arbeiterkomitees wurde mit
Unterstützung der Bolschewiki beschlossen, auf Streiks zu verzichten, da dies angesichts der
Verzweiflung der Bevölkerung zum offenen Zusammenstoß und zum Aufstand führen könnte. Die
Einschätzung war, daß die Petersburg stationierten Soldaten noch nicht voll auf der Seile
der Arbeiter standen. Keiner sollte ahnen, daß dieser Tag dennoch zum ersten Tag der
Revolution werden sollte.

Entgegen dem Beschluß des Arbeiterkomitees
traten am nächsten Morgen die Textilarbeiterinnen einiger Fabriken in den Ausstand und
schickten Delegationen zu den Metallbetrieben von Petersburg. Sie forderten, ihren Streik zu
unterstützen. Daraufhin revidierte das Arbeiterkomitee seinen Beschluß: wenn schon Massenstreik,
dann alle. Den letzten Anstoß für diese Aktion der Textilarbeiterinnen gab wohl, daß am 9.
Februar Brotkarten eingeführt wurden und die Schlangen der Frauen vor den Läden immer länger
wurden, während die Reichen weiter in Luxus schwelgten. Ungefähr 90.000 waren in den Streik
getreten. Die Wut entlud sich in Demonstrationen,
Straßenversammlungen und Zusammenstößen mit der Polizei.
Die Frauen forderten von der Stadtduma Brot, viele forderten das Ende des Krieges und den
Rücktritt des Zaren.


Die fünf Tage des
Aufstands

Am nächsten Tag, den 24 Februar nahm die Bewegung noch zu, und mehr als die
Hälfte aller Arbeiter von Petersburg trat in den Streik. Es kam wieder zu Massenversammlungen,
Demonstrationen und Zusammenstößen mit der Polizei. Diesmal wurden auch berittene Soldaten
eingesetzt, die versuchten, die Demonstrationen aufzuhalten. Während die Demonstranten sich
mit der Polizei erbitterte Gefechte lieferten, versuchten sie die Soldaten durch Gespräche
auf ihre Seite zu ziehen. Die Parole und Hoffnung der Demonstranten war; "Die Soldaten
werden nicht schießen".

Am 25. Februar weiteten sich die Demonstrationen und Streiks noch einmal aus.

Und wieder kam es zu Angriffen der Polizei. Als die berittene Polizei einen Redner niederschoß,
wird aus der Demonstration zurückgeschossen. Einige Soldaten eröffneten
das Feuer auf die Polizei und vertrieben diese, die meisten Soldaten verhielten sich neutral
und abwartend. Immer wieder umzingelten die Demonstranten, vor allem die Frauen, viele von
ihnen mit Soldaten verheiratet, die Soldaten und forderten diese auf. sich den
Arbeitern anzuschließen. Für den nächsten Tag, einem Sonntag, erläßt der Zar den
Befehl, den Aufstand mit Militär niederzuschlagen. Die Polizei zeigt sich nicht
mehr offen, sondern schießt aus dem Hinterhalt auf die Demonstranten. Auch eine
Ausbildungseinheit für Unteroffiziere eröffnet das Feuer mit Maschinengewehren. Über
40 Demonstranten werden erschossen. Aber die Demonstranten sind entschlossen und lassen
sich nicht von den Straßen vertreiben. "Im Volke hat sich der Glaube festgesetzt
die Revolution habe begonnen, der Erfolg sei den Massen sicher, die Regierung ohnmächtig,
die Bewegung zu unterdrücken, da die Truppen auf Seiten des Volkes ständen, der entscheidende
Sieg sei nahe, weil die Truppen heute oder morgen offen auf die Seite der revolutionären
Streitkräfte
übergehen würden
…" [11], beschrieb
ein Polizeispitzel die Stimmung. Und am Abend dieses Tages meuterten die
Soldaten des Lehrregiments, deren Offiziersschüler auf die Arbeiter geschossen hatten.

Am Montagmorgen entschieden sich die Arbeiterversammlungen mit Mehrheit,
den Kampf fortzuführen. Noch während sie berieten, erreichte sie die Nachricht,
daß mehrere Kasernen zur Revolution übergelaufen waren. Nun waren die Arbeiter
bewaffnet, und im Laufe dieses und des nächsten Tages überzeugten sie die restlichen
Kasernen, stürmten die verhassten Polizeireviere und besetzten alle wichtigen
öffentlichen Einrichtungen, befreiten die Gefangenen aus den Gefängnissen und
verhafteten die Feinde.
Der Aufstand, von dem niemand gesprochen hatte, und den niemand geplant hatte, hatte gesiegt.
Das restliche Rußland folgte auf dem Fuß.

Schon während des Aufstandes gab es in den Betrieben Wahlen zu Arbeiterräten, die Form der Selbstorganisation, die die Arbeiter schon 1905 herausgebildet hatten. Nach der siegreichen Revolution bildeten sich überall im Lande Arbeiter- und Soldatenräte, die den Petersburger Sowjet als ihre Regierung betrachteten.


Der Sowjet und die Doppelherrschaft

Die politische Führung des Sowjets lag bei den Menschewiki und den Sozialrevolutionären und nicht bei denen, die die Revolution geführt hatten.

"Es ist natürlich, daß in den Februarkämpfen die bolschewistischen Arbeiter an erster Stelle standen. Aber mit dem Sieg verändert sich die Lage… Zu den Wahlen für die Organe und Institutionen der siegreichen Revolution werden aufgerufen und strömen herbei unermeßlich breitere Massen, als jene, die mit der Waffe in der Hand gekämpft haben… Die überwältigende Mehrzahl der Arbeiter, Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Parteilose unterstützte die Bolschewiki im Augenblick
des unmittelbaren Zusammenpralls mit dem Zarismus. Jedoch begriff nur eine kleine Minderheit der Arbeiter, worin sich die Bolschewiki von den anderen sozialistischen Parteien unterschieden… Die Arbeiter wählten Sozialisten, das heißt solche, die nicht nur gegen die Monarchie, sondern auch gegen die Bourgeoisie waren. Sie machten fast keinen Unterschied zwischen den drei sozialistischen Parteien.
Da aber die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre über unvergleichlich größere Intellektuellen-Kader verfügten, … ergaben die Wahlen, sogar in Fabriken und Betrieben, ein großes Übergewicht der Menschewiki und Sozialrevolutionäre.
" [12]

Darüber hinaus begünstigte der Delegiertenschlüssel für
die Sowjets die rückständigeren Elemente, die Soldaten,
die Bauern in Uniform: Auf jede Kompanie kam ein Delegierter
(oft Offiziere, die sich noch rechtzeitig den Mantel der Revolution
umgehangen hatten), während die Arbeiter einen Delegierten pro tausend
Arbeiter stellten. Und die Kleinbetriebe waren besser repräsentiert als die
Großbetriebe.

Der linke Menschewik Suchanow schrieb am 28. Februar: "Die wirkliche Macht war in seinen
[des Sowjets] Händen, soweit es überhaupt eine Autorität gab… Format gehörte die Macht dem
Dumakomitee… Aber dies nur auf dem Papier… in diesen entscheidenden Stunden der
Erschütterung
war es absolut unfähig zu regieren."[13]

Aber der Sowjet gab
sofort und aus freien Stücken seine Macht an die Bourgeoisie ab, ja diese mußte von
den Führern des Sowjets bedrängt werden, die Machl zu übernehmen.
"Die gemäßigten Parteien haben die Revolution nicht nur nicht gewollt, sie haben sich vor ihr
einfach gefürchtet
" [14],
schrieb der Präsident der Duma, Rodsjanko. Sie wollten nicht die Macht von Gnaden der
Arbeiter und Soldaten, weil sie nicht die Zuversicht hatten, die gewaltige Macht der
Arbeiter und Bauern in einer Konterrevolution zu zerschlagen. Zur Machtübergabe des Sowjets,
deren Führung in den Händen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre lag, an die Bourgeoisie
schrieb Suchanow:

"Das Volk neigte keinesfalls zur Duma; es interessierte sich nicht für sie und dachte nicht
daran, sie – politisch oder technisch – zum Zentrum der Bewegung zu machen … Miljukow [der
Führer der
Bürgerlichen] begriff vortrefflich, daß es vollkommen in der Macht des Exekutivkomitees
[des Sowjets] stand, der Regierung der Großbourgeoisie die Gewalt zu übertragen oder sie ihr
nicht zu übertragen.
" [l5]

Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die die demokratische Revolution die Jahre zuvor, wenn
auch halbherzig, gepredigt hatten, lehnten die Machtübernahme ab. Suchanow: "Eine Macht, die den Zarismus ablöst,
kann nur eine bürgerliche Macht sein… Anderenfalls wird der Umsturz mißlingen und die
Revolution zugrunde gehen.
" [16]

Die Menschewiki wollten die Revolution retten, indem sie die Macht an die Gegner der Revolution
aushändigten. (!) Sie stellten nur eine Bedingung: Propagandafreiheit für die linken Parteien.
Die Beendigung des Krieges, Agrarreform oder Achtstundentag usw. waren für sie kein Thema. Statt dessen versprachen sie der Bourgeoisie, die Massen zu zähmen. Dieser Verrat an den Massen fand natürlich in Geheimverhandlungen statt.

So entstand eine Doppelherrschaft: auf der einen Seite die Provisorische Regierung
unter der Führung der Bourgeoisie und der Großgrundbesitzer ohne jede wirkliche Autorität, an der Spitze Leute, die den Massen verhaßt waren, und auf der anderen Seite der Sowjet, der das Vertrauen der Massen genoß, dessen Führung aber die Massen hinterging.

"Es gab weitverbreitete Forderungen nach Frieden, Land und Brot unter den Massen. Die Regierung konnte und wollte diese nicht erfüllen. Und in diesem Klassenkampf war der Sowjet auf der Seite der Regierung, Er verkaufte die Sabotage der Regierung als die Verwirklichung des Programms, während er die Massen zur Ruhe und Loyalität aufforderte. Das heißt, der Sowjet kämpfte gegen das Volk und die Revolution und für die Politik der bürgerlichen
Regierung.
" [17]

Dabei wußten die Kapitalisten, wie ohnmächtig sie waren: Der neue Kriegsminister Gutschow schrieb am 9. März, über die Regierung:

"…ihre Erlasse werden nur in soweit befolgt, als sie die Zustimmung des Sowjets haben… Der Sowjet kontrolliert die wichtigsten Elemente der wirklichen Macht, wie die Armee, die Eisenbahnen und Post- und Fernmeldewesen. Man kann rundweg sagen, daß die Provisorische Regierung nur so lange existiert, wie dies der
Sowjet… zuläßt.
" [18]

Eine solche Doppelherrschaft ist notwendigerweise instabil und nur von vorübergehender Dauer: Entweder der Bourgeoisie gelingt es, die Macht in einer Konterrevolution vollständig an sich zu reißen oder die Massen ergreifen endgültig seihst die Macht, was dann schließlich im Oktober 1917 geschah.

Anmekrungen

1 Trotzki: "Die Geschichte der Russischen Revolution", Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1982, 1. Band, S. 16

2 ebenda, S. 19

3 ebenda, S. 38

4 Cliff: "Lenin". Pluto-Press, London 1976, Band 2, S. 25f s

5 Trotzki, a.a.O., S.26

6 ebenda, S. 26

7 ebenda. S. 27

8 ebenda, S. 27

9 ebenda, S. 29

10 ebenda, S. 46

11 ebenda. S. 106f.

12 Trotzki.a.a.O.,S. 149f

13 Cliff: "Lenin", a. a. 0., S. 86

14 ebenda., S. 146

15 ebenda. S. 148

16 ebenda, S. 148

17 Cliff: "Lenin".a,a.O.,S.94

18 ebenda, S. 94

19 D. Hallas: "Die Komintern", Frankfurt/Main. 1987. S. 39; vgl. auch: Lenin, Gesammelte Werke, Dietz-Verlag Ostberlin, 1974, Band 31, S. 232

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