Streiken bis zum Schluss

Erst wenn die Herrschenden vollständig entmachtet sind, hat die Revolution gewonnen.


Massenstreiks in Bolivien haben im Frühjahr den Präsidenten gestürzt und die Proteste gegen den Ausverkauf der Energiereserven noch stärker gemacht. Noch ist der Kampf nicht entschieden

2 Millionen Arbeiter und Studierende streikten im Mai 1968 für höhere Löhne, freie Universitäten und den Rücktritt der rechten Regierung und des Präsidenten de Gaulle. Viele Aktivisten sahen in dem Generalstreik zu Recht auch die Chance, eine Welt zu schaffen, die sich nicht den Profit-Zielen der Konzerne unterordnet, sondern von den Bedürfnissen der Menschen bestimmt ist.

Doch besonders die damals starke stalinistische Gewerkschaft CGT setzte sich wie die Regierung für ein schnelles Ende des Streiks ein. Die Gewerkschaftsführer glaubten zu Recht, dass die Arbeiter während der Streiks für eine andere Welt das Vertrauen in eine Gewerkschaft verlieren würden, die den Kapitalismus erhalten will. Kurz nachdem die letzten Betriebsbesetzungen aufgelöst waren, konnten die Gaullisten bei den Wahlen ihre Mehrheit im Parlament noch ausweiten.

Schon vor 100 Jahren schrieb Rosa Luxemburg die erste bedeutende marxistische Theorie über Massenstreiks. In ihrer Broschüre „Der Massenstreik, die politische Partei und die Gewerkschaften“ zeigte sie anhand der Kämpfe in Russland 1905, dass Massenstreiks entscheidend sind, um Arbeiter für die Revolution zu gewinnen.

Die Massenstreiks in Russland durchbrachen die künstliche Trennung zwischen politischen und wirtschaftlichen Kämpfen. Arbeiter, die für höhere Löhne streikten, erhoben bald auch politische Forderungen. Ebenso gaben Streiks für politische Ziele den Anstoß zu Streikwellen gegen die materielle Ausbeutung der Menschen. Beides zog neue Gruppen von Arbeitern zum ersten Mal in den gemeinsamen Kampf.

Die russische Bewegung schuf neue Formen der Organisation, um die Kämpfe zu führen. Arbeiter gründeten rasch eigene Gewerkschaften, Parteien und Vereine sowie die Arbeiterräte, auf Russisch: Sowjets.

Aktivisten bildeten neue Netzwerke. Eine neue Solidarität überwand alte Trennlinien wie berufliche Qualifikation, Geschlecht oder Herkunft.

„Das Wertvollste“, schrieb Luxemburg, war die Veränderung der Einstellung und Kultur der arbeitenden Menschen. Der Massenstreik brachte ein neues Gefühl der Macht, wodurch Millionen sich das erste Mal eine bessere Welt als Ergebnis ihrer Anstrengungen vorstellen konnten.

Deswegen ist laut Luxemburg der Massenstreik die unerlässliche Brücke zwischen der kapitalistischen Gegenwart und der sozialistischen Zukunft. Mit ihm können Millionen für eine andere Welt mobilisiert werden und dabei lernen, diese andere Welt auch zu lenken.

Luxemburgs Broschüre untersucht und lobt den Massenstreik aber nicht nur. Sie stellt ihn auch als lebendige Alternative der Tradition der Passivität von Gewerkschaftsbürokratien und sozialdemokratischen Parteien wie der SPD oder Labour in Großbritannien gegenüber.

Während Gewerkschaften die Aktivität der Arbeiter auf wirtschaftliche Fragen begrenzen, beschränken sozialdemokratische Parteien die politische Aktivität auf Wahlkämpfe. Beides übergeht Arbeiter, die nicht Gewerkschafts- oder Parteimitglied sind. Luxemburgs „Sozialismus von unten“ steht dieser reformistischen Tradition gegenüber, die versucht, hauptsächlich „von oben“ Reformen innerhalb des Kapitalismus zu erreichen.

Allerdings unterstellt die Broschüre dem Massenstreik zu viel Macht gegenüber den Gewerkschaftsbürokratien und Führern der sozialdemokratischen Parteien. Luxemburg argumentiert zu Recht, dass eine Massenerhebung die Chance hat, den Partei- und Gewerkschaftsbürokratien die Kontrolle der Arbeiterbewegung zu entreißen.

Doch sie zog daraus den falschen Schluss, dass eine solche Erhebung nicht wieder erstickt werden könnte: „Wenn der Ball einmal ins Rollen gekommen ist, kann ihn die Sozialdemokratie, ob sie es will oder nicht, nicht wieder zum Stehen bringen.“

Damit unterschätzte die Autorin den Einfluss der reformistischen Funktionäre. Wie groß dieser ist, zeigte sich in der revolutionären Bewegung 1918, die Luxemburg selbst mit aufbaute.

Der Erste Weltkrieg wurde im November 1918 unter anderem durch eine Welle von Streiks und Meutereien beendet, die sogar die russische von 1905 übertraf. In fast allen Städten wurden Arbeiter- und Soldatenräte gegründet. Nie war der Ball so stark ins Rollen gekommen, wie 1918 und 1919.

Doch die Spitzen der reformistischen Parteien ließen sich von der Massenerhebung nicht beiseite schieben. Sie stellten sich zum Schein an die Spitze der Bewegung.

Schon im Januar 1918 organisierten die „Revolutionären Obleute“ vor allem in der Rüstungsindustrie einen Streik gegen den Krieg. Obwohl Ebert den Krieg unterstützte, hatten die streikenden Arbeiter so viel Vertrauen in den SPD-Vorsitzenden, dass sie ihn in die Streikleitung wählten.

1925 erklärte Ebert vor Gericht, er sei der Streikführung „mit der klaren Absicht beigetreten, den Streik zu einem baldigen Ende zu bringen.“ Tatsächlich beriet sich Ebert während des Streiks mit Offizieren, die den Streik niederschlagen und Arbeiter töten ließen.

Dieselben Offiziere ließen 1919 Rosa Luxemburg ermorden. In den folgenden Jahren gelang es der SPD, die Revolution endgültig zu ersticken.

Das war möglich, weil in der revolutionären Bewegung Millionen Menschen weiterhin der SPD vertrauten, obwohl sie die Revolution verhinderte. Während einige Arbeiter den Kapitalismus stürzen wollten, kümmerten sich viele andere das erste Mal um Politik und glaubten, mit einer SPD-Regierung wäre ihre Unterdrückung beendet.

Während einige den Verrat von Gewerkschafts- und SPD-Führern erkannten, traten Millionen in Gewerkschaften oder SPD ein und unterstützten deren Führung. Die Bewegung entwickelte sich von Betrieb zu Betrieb und von Arbeiter zu Arbeiter in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Obwohl die besten Aktivisten die SPD ablehnten, gewann sie Einfluss über Millionen andere.

Auch die großen Bewegungen in Südamerika der letzten Jahre haben rechte Regierungen gestürzt, aber den Kampf um eine gerechte Welt noch nicht gewonnen. Die Präsidenten Morales in Bolivien und Chávez in Venezuela wurden von sozialen Bewegungen an die Macht gebracht.

Doch sie versuchen, die Wünsche der Menschen und der Konzerne gleichzeitig zu erfüllen. Weil das nicht dauerhaft möglich ist, besteht die Gefahr, dass die Präsidenten sich irgendwann auf Seite der Wirtschaft stellen.

Deshalb ist es absolut entscheidend, dass die besten Aktivisten sich sammeln und innerhalb solcher Bewegungen unter den Massen dafür argumentieren, die Konzerne vollständig zu entmachten und den Menschen die demokratische Kontrolle der Wirtschaft zu überträgen.

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