Brasilien: Linke lösen sich von Lula

Die Wahl des ehemaligen Gewerkschaftsführers Lula zum Präsidenten Brasiliens weckte viele Hoffnungen auf eine bessere Politik. Raúl Zibechi sprach mit Luciana Genro über Lulas Bilanz ein Jahr nach seiner Wahl.


Luciana Genro wurde in den brasilianischen Kongress als Vertreterin der Arbeiterpartei (PT), der auch Staatspräsident Lula angehört, gewählt. Zusammen mit drei weiteren Abgeordneten und einem Senator droht ihr der Parteiausschluss, weil sie gegen Lulas neues Rentengesetz gestimmt haben.

Wie schätzst du die Lula-Regierung ein?
Die Regierung gründet auf einer Allianz mit mächtigen Sektoren der brasilianischen Bourgeoisie, darunter viele Mitglieder der konservativen Ex-Regierung mit Verbindungen zur Industrie und zum internationalen Kapital. Die PT hat sich entschieden, die Politik des Vorgängerpräsidenten Cardoso fortzusetzen, um so das Vertrauen des Marktes zu gewinnen. Das erklärt solche Reformen wie das neue Rentengesetz, das vom IWF abgesegnet wurde. Wie ich das sehe, wird damit lediglich die Tür zur Privatisierung des Rentensystems aufgestoßen.
Die Regierung zahlte allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres 74 Milliarden Dollar an Zinstilgung, wovon 40 Milliarden aus allgemeinen Steuererhöhungen finanziert wurden. Das ist doch eine falsche und feige Strategie zugunsten der mächtigsten Wirtschaftssektoren auf Kosten der Arbeiterklasse.
Zugleich wurden Ausgaben für die Gesundheit gekürzt, und weder die Null-Hunger-Kampagne noch die Landreform [Bestandteil des PT-Programms] wurden in die Wege geleitet.

Viele Lula gegenüber kritische Analysten argumentieren jedoch, dass Lulas zweite Amtszeit wirtschaftliches Wachstum und einen ernsthaften Versuch, soziale Probleme anzugehen, einleiten wird.
Es gibt keine Anzeichen, dass irgendjemand in der Regierung für einen Kurswechsel eintritt. Die Regierung hat sich für eine neoliberale Strategie entschieden. Die abgeschlossenen Vereinbarungen grenzen den Handlungsspielraum der Regierung ein. Man kann nicht sagen: ich habe das Vertrauen des Marktes gewonnen, jetzt kann ich tun und lassen, was ich will. Dieses Vertrauen muss man täglich neu erkaufen. Die PT hat beschlossen, die Auslandsschulden weiterhin zu bedienen. Davon kann sie nicht abrücken, ohne tiefe Spaltungen hervorzurufen.

Lula und andere Regierungsmitglieder haben jedoch mehrere konkrete Maßnahmen wie beispielsweise Zinssenkungen verkündet, um die Wirtschaft wieder zu beleben.
Das hatte auch der Vorgängerpräsident Cardoso schon immer vor, aber es ist ihm nie gelungen. Keiner Regierung schmecken hohe Zinsraten. Das gewählte wirtschaftliche Modell verlangt hohe Zinsen, um ausländisches Kapital anzulocken. Das ist das Problem. Die Exporte auf hohem Niveau zu halten – der Eckstein des gesamten Projekts – erfordert das Niedrighalten der Löhne, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, und das Hochhalten des Dollarkurses, um hohe Exporteinnahmen einzufahren.

Die Regierung kann aber doch auch die Wirtschhaft ankurbeln, indem sie den Konsum von Wenigverdienern erhöht und so den internen Markt ausweitet.
So steht es im Regierungsprogramm. Aber wie soll man Wachstum, Schuldentilgung und hohe Profite unter einen Hut kriegen? Will man Wachstum und Einkommensumverteilung, muss man mit den globalen Finanzinstitutionen brechen – und ich glaube nicht, dass die von ihnen abhängigen brasilianischen Industriellen das zulassen wollen.

Die Reform der Beamtenpensionen rückte die Staatsbediensteten in den Mittelpunkt des politischen Geschehens. Was hat das zu bedeuten?
Die Angestellten im öffentlichen Dienst haben einen sehr wichtigen Streik organisiert, mit großen Versammlungen und Demonstrationen –die größte, in Sao Paulo, war 60.000 stark. Viele lösen sich von der PT, und daraus könnte eine neue Allianz linker Kräfte entstehen. Unsere Parlamentariergruppe, die jetzt kurz vor dem Ausschluss steht, hat sich die Organisierung einer neuen politischen Kraft auf der Linken zusammen mit anderen sozialen Bewegungen und Kräften als Ziel gesetzt.

Aber werden sich die wichtigsten Bewegungen, beispielsweise die der Landlosen, anschließen?
Viele Fragen sind noch offen. Der zentrale Punkt ist aber, dass die PT-Regierung mit einem wichtigen Element ihrer sozialen Basis gebrochen hat, nämlich den Staatsbediensteten. Im Bundesstaat Rio Grande haben die Gymnasiallehrer 30 Tage lang gestreikt, weil es den Anschein hat, dass sie immer als erste angegriffen werden, wenn die Regierung Kürzungen vornehmen will.

Glaubst du, die Geschäftswelt könnte der PT den Rücken kehren?
Die Bourgeoisie erkennt sehr wohl, dass ihr neoliberales Projekt nur unter einer PT-Regierung durchsetzbar ist. Ein konservativer Präsident anstelle von Lula wäre niemals mit dieser Rentenreform durchgekommen. Wenn allerdings Lula an Popularität verliert und es zu Demonstrationen gegen seine Regierung kommt, dann könnte es zu einem Bruch und einer Neuvereinigung der Rechten kommen. Es hängt von den Bewegungen ab, die bisher die PT als "ihre Regierung" betrachten.Dieses Interview ist auf Englisch in der Zeitung Socialist Review erschienen – wir danken für die Abdruck-Genehmigung.

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