Polarisierung in Europa

Die Ablehnung neoliberaler Politik hat die politische Landschaft in Europa grundlegend verändert.

Während Europa in den achtziger Jahren überwiegend konservativ regiert war, werden heute nur fünf von fünfzehn Mitgliedsstaaten nicht von Sozialdemokraten regiert.

Im Lauf der neunziger Jahre wurde eine konservative Regierung nach der anderen abgewählt. Oft verbunden mit Kämpfen der Arbeiterklasse, wie dem Generalstreik der französischen Arbeiter 1995. Die konservativen Parteien gerieten europaweit in eine Krise.

Die Tories in Großbritannien dezimierten sich in der Wahl 1997 regelrecht selbst, als einige ihrer Abgeordneten zu New Labour überliefen. Die französischen Konservativen zerreißen sich in Flügelkämpfen. Die deutsche CDU wird von Korruptionsskandalen erschüttert.

Am tiefsten ist diese Krise in Italien, wo von der ehemaligen Democrazia Cristiana außer einem halben Dutzend kleiner Splitterparteien nicht viel übrig geblieben ist.

Das unmittelbare Ergebnis dieses Linksschwenks war, dass rechte Sozialdemokraten an die Macht kamen. Der mittlerweile offen neoliberale Tony Blair in Großbritannien, der Kanzler der Neuen Mitte in Deutschland, oder der linker wirkende, aber neoliberal handelnde Lionel Jospin in Frankreich.

Die zweite Garde der Konservativen

Die Konservativen formieren sich deshalb neu. In zwei Ländern haben sie die Sozialdemokraten aus der Regierung gedrängt: Anfang 2000 in Österreich, dieses Jahr in Italien.

In beiden Fällen haben sich die Konservativen weit nach rechts hin geöffnet. Die österreichische ÖVP hat sich mit dem Faschisten Jörg Haider verbündet, Berlusconis Forza Italia mit Gianfranco Fini, der sich selbst einen „Postfaschisten“ nennt.

Seit dem Wahlsieg Berlusconis wurde dieses Modell mehr und mehr zum Vorbild für alle anderen europäischen konservativen Parteien.

Vor allem die deutsche CDU/CSU ist eng mit Berlusconi verbunden. Auf Drängen Kohls wurde die Forza Italia 1999 in die europäische Volkspartei aufgenommen. Es war allen voran die deutsche CDU/CSU, die massive Wahlkampfhilfe für den Berlusconi-Block leistete.

Führende Politiker der Union sprachen auf Wahlkampfveranstaltungen � wie Karl Lamers, der Europaexperte der Union, Mitte März auf einer Großkundgebung in Rom. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung beriet die Forza Italia in ihrem Wahlkampf.

„Das ist ein weiteres ermutigendes Signal für das bürgerliche Lager in der EU“, jubelte Michael Glos, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag nach dem Wahlsieg Berlusconis. Stoiber lud den neuen italienischen Ministerpräsidenten zum CSU-Parteitag 2001 im Oktober ein.

Italien � die Neue Mitte scheitert

Es ist die Verantwortung der sozialdemokratischen Politik der Neuen Mitte, dass Berlusconi ein zweites Mal die Macht ergreifen konnte.

Berlusconi kam 1994 schon einmal an die Regierung, nachdem eine Serie von Korruptionsskandalen die Parteienlandschaft Nachkriegs-Italiens gesprengt hatte. Auch damals schon koalierte er offen mit dem Faschisten Fini und dem Rassisten Umberto Bossi. Aber seine Regentschaft sollte keine acht Monate währen.

Berlusconi kam als Unbekannter an die Macht, weil er ein Ende der Korruption versprach. Aber kaum in Amtswürden brachte er ein Gesetz in das Parlament ein, das Hunderte korrupter Manager und Politiker wieder aus dem Gefängnis gebracht hätte.

Allein die kleine Tageszeitung Il Manifesto rief zur Gedenkdemonstration am 25. April anlässlich der Befreiung vom Faschismus nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Es kamen 300.000, die gegen Berlusconi, Bossi und Fini protestierten.

Als die Regierung schließlich das Rentensystem angriff, handelten auch die Gewerkschaften. Eineinhalb Millionen Arbeiter demonstrierten in Rom.

Ein eintägiger Generalstreik und eine darauf folgende Streikwelle erschütterten das Land. In der Folge brach Berlusconis Bündnis auseinander. Die Neuwahlen gewann das Olivenbaum-Bündnis, dessen Rückgrat die Sozialdemokraten der damaligen PDS bildeten � heute DS.

Der Olivenbaum verwelkt

Die italienischen Arbeiter setzten große Hoffnungen in die Olivenbaum-Regierung. Schließlich war es die erste wirklich linke Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg, nach fast fünfzig Jahren ununterbrochener Herrschaft der Konservativen.

Aber Massimo D’Alema, der langjährige Vorsitzende der PDS, war wie sein deutsches Vorbild Gerhard Schröder derart um ein respektables Image bei den Konzernchefs bemüht, dass sich viele seiner Stammwähler nicht mehr darin wiederfinden konnten.

Das Olivenbaum-Bündnis enttäuschte seine Wähler. Es setzte genau das durch, woran Berlusconi 1994 gescheitert war: Die Kürzung der Renten.

Der Olivenbaum beteiligte sich 1999 am NATO-Krieg gegen Serbien. Seine Politiker hetzten gegen Flüchtlinge und Kriminelle.

Die Enttäuschung über diese Politik gab Berlusconi die Möglichkeit, zu behaupten, er stünde für Veränderung. Zwar gewann Berlusconi die Wahl, aber die größte Partei in Italien ist die der Nichtwähler.

Eine neue Linke

Die Militanz der italienischen Arbeiter, die Berlusconi 1994 stürzte, ist nicht verschwunden.

Einhunderttausend demonstrierten im April dieses Jahres in Mailand, um die Befreiung von Mussolinis faschistischem Regime zu feiern. Im Mai streikten Tausende Metallarbeiter.

Auch unter der Olivenbaumregierung waren die Verhältnisse nicht ruhig. Basisnetzwerke von Gewerkschaftsaktivisten, die sogenannten Cobas, organisierten 1999 Widerstand gegen den NATO-Krieg.

Die Cobas zeigten sich auch schon fähig, Massenmobilisierungen für den Erhalt sozialstaatlicher Errungenschaften durchzuführen, gegen den Willen der Gewerkschaftsführung, die auch in Italien an die Sozialdemokratie gekettet war.

Schon 1994 zeigten sich enorme Risse zwischen der traditionellen Gewerkschaftsführung und ihrer Basis. Der Augenzeuge Tom Behan berichtete über die damaligen Massendemonstrationen gegen Berlusconi:

„Immer, wenn die Gewerkschaftsbürokraten hinter großen Glasscheiben zu sprechen versuchten, wurden sie mit Flaschen, Tomaten, Muttern und Bolzen beworfen. Die Masse war da, um das Rentensystem und den Sozialstaat gegen Berlusconi zu verteidigen, aber sie waren auch da aus Protest gegen den Schund an Übereinkommen, den ihre Führer im Laufe der vergangenen Jahre abgeschlossen haben.“

Öl ins Feuer

Über die neunziger Jahre hat in Italien ein Ablösungsprozess weg von der traditionellen Sozialdemokratie stattgefunden. Dieser Prozess hat die Mehrheit der Arbeiterklasse nach links, hin zu Aktionen gegen das kapitalistische System geführt.

Die Demonstration gegen die WTO 1999 in Seattle hat dieser Entwicklung einen zusätzlichen Schub gegeben. In Italien entsteht eine Neue Linke, in der radikale Antikapitalisten und Gewerkschafter zusammenarbeiten. Der wohl eindrucksvollste Ausdruck ist ihr gemeinsamer Protest gegen den Gipfel der G�8 in Genua.

Die 30er Jahre in Zeitlupe

Italien zeigt uns wie unter einem Mikroskop, wohin jedes europäische Land driftet.

Der Prozess einer politischen Polarisierung zwischen links und rechts ist in jedem Land zwar unterschiedlich weit, aber nichtsdestotrotz im Gange.

1991-92 erschütterte eine Serie von Pogromen gegen Asylbewerber Deutschland. Das Land schien nach rechts zu kippen. Die Asylflutkampagne von Kohl ließ die NPD zu einer politischen Kraft werden.

Im selben Jahr aber streikten die ArbeiterInnen und Angestellten des öffentlichen Dienstes zwei Wochen lang, das erste Mal seit 1974. In der Folge schwenkte Deutschland nach links. Zwischen 1990 und 1994 fand eine Wählerwanderung von 10 Prozent von der CDU/CSU zur SPD statt.

Die Arbeiterkämpfe und der faschistische Aufschwung des vergangenen Jahrzehnts waren in Deutschland wie überall in Europa eng miteinander verknüpft. Sie stellen beide entgegengesetzte Antworten auf die ökonomische und politische Krisenanfälligkeit des europäischen Kapitalismus dar.

Der englische Marxist Tony Cliff prägte zur Beschreibung dieses Phänomens den Begriff von den „30er Jahren im Zeitlupentempo“.

Mit den 30er Jahren verbinden viele ausschließlich die Machtergreifung Hitlers. Das ist aber nur eine Seite der 30er.

Die Einheitsfront der Arbeiterparteien SPD und KPD hätte den Sieg Hitlers verhindern können. Deutlich wurde das in Frankreich.

Ein Putschversuch der französischen Faschisten 1934 löste eine Entwicklung aus, die zur Bildung einer linken Regierung führte. In den folgenden Jahren durchzog eine Welle von Streiks und Fabrikbesetzungen Frankreich.

Diese vorrevolutionäre Situation wurde noch überboten durch die spanischen Ereignisse desselben Sommers, als ein faschistischer Staatsstreich des Generals Franco durch eine der inspirierendsten Revolutionen der Geschichte gekontert wurde.

In beiden Fällen war es die Volksfront-Politik, die aus Rücksicht gegenüber einem vermeintlich fortschrittlichen Teil innerhalb des Bürgertums die von den Arbeitern erkämpften Errungenschaften aus der Hand gab.

Das französische Vichy-Regime, das mit den deutschen Nazibesatzern kollaborierte, und die Francofaschisten in Spanien kamen beide über eine demoralisierte Arbeiterklasse an die Macht. Genauso wie in Deutschland war also auch in den anderen europäischen Ländern das Endergebnis der 30er Jahre keineswegs unausweichlich.

Wenn wir von den 30er Jahren in Zeitlupe sprechen, dann meinen wir, dass die Elemente der 30er Jahre auch heute vorhanden sind, wenn auch in verdünnter Form. Eine wirtschaftliche Krisenentwicklung, eine politische Legitimationskrise des Kapitalismus, so wie eine Klassenpolarisierung, in der auf der einen Seite Arbeitermilitanz und eine neue Linke erwacht, auf der anderen Seite faschistische „Antworten“ an Zulauf gewinnen.

Die 30er Jahre in Zeitlupe sind ein Film, der ein offenes Ende hat. Der Ausgang hängt davon ab, ob wir es schaffen, eine alternative Führung zur Sozialdemokratie aufzubauen.

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