Spanien 1936: Anarchismus ohne Organisation?

Gemeinhin werden Anarchismus und Organisation für unvereinbar miteinander gehalten. Tatsächlich sind Anarchisten durchaus nicht unorganisierbar. Sie haben nicht nur zahllose Geheimbünde, sondern auch eine Reihe Massenorganisationen geschaffen. Aber sie taten das stets mit einem unguten Gefühl. Die Organisationsfrage hat für die anarchistische Theorie mehr die Bedeutung einer Anti-Ideologie als Anstoß für eigenes Handeln. Für Anarchisten existiert die Organisation aufgrund gemeinsamer Ideen und Aktionen. Es werden jedoch nicht nur Kaderkriterien, sondern auch eine verbindliche Programmatik sowie ein festes und verbindliches Organisationsleben abgelehnt. Die Organisation wird als freie Verbindung verstanden, in die jeder Aktivist ein- aber auch nach Belieben austreten kann. Es gibt keine anerkannte verbindliche Disziplin. Die Funktion einer Organisation für die Ausarbeitung eines Programms oder die Übermittlung revolutionären Erfahrungen wird nicht gesehen.

Der Anarchismus ist darum durch Uneinheitlichkeit in Theorie bzw. Programmatik und Praxis gekennzeichnet. In der Organisation herrschen eine starke Fluktuation der Mitgliedschaft, zufällige politische Erfahrungen und ein meist recht niedriger Bewusstseinsstand vor. Unklarheiten und Unsicherheit in jeder politischen Lage und Perspektivlosigkeit sind die Folge. Anarchisten lassen sich durch jede Modeströmung fortreißen. Ihnen fehlen Ausdauer, Organisiertheit, Disziplin und Standhaftigkeit. Nach kurzen Aktionsphasen fallen sie unvermeidlich in Apathie und Phantasterei zurück.1  Wer wird bei dieser Einschätzung Lenins nicht an die westdeutsche Wirklichkeit der Universitäten und der linken Szene erinnert?

Nun stellt der Anarchismus im deutschsprachigen Raum seit Generationen keine wirksame politische Kraft mehr dar. Aber da sich an ihm spontaneistische Strömungen orientieren, ist die Auseinandersetzung weiterhin erforderlich. Nicht zufällig sind die Außerparlamentarische Opposition (APO) und der SDS Ende der 60er Jahre an der ungelösten Organisationsfrage gescheitert. Aufgrund der Erfahrungen mit den undemokratischen und dogmatischen stalinistischen und maoistischen Organisationen und infolge der nur schwachen Klassenkämpfe ist seit Jahren ein Aufschwung des Spontaneismus zu beobachten. Er entwickelt sich so undogmatisch, dass er schon als unverbindlich gelten kann.

Es ist wenig sinnvoll, sich abstrakt mit den Organisationsvorstellungen und der daraus folgenden Praxis der Anarchisten auseinander zu setzen. Beweiskräftiger ist die Bewährung der Praxis.

Möglichkeiten dafür gibt es ausreichend. Als politische Bewegung existiert der Anarchismus seit 130 Jahren. In den Anfängen der Arbeiterbewegung war er in den romanischen Ländern Europas und Amerikas sowie in den USA stärker als die marxistische Strömung. Weithin vergessen ist schon, dass der Anarcho-Syndikalismus vor dem Ersten Weltkrieg in Frankreich die CGT mit 600.000 Mitgliedern führte. Doch wie die Sozialdemokraten wurden auch die meisten Anarchisten damals Sozialpatrioten – allen voran der hochverehrte Kropotkin. Nach dem Kriege gingen zwar die opportunistischen Teile des Anarchismus größtenteils in der Sozialdemokratie auf, während die revolutionären Elemente sich dem Bolschewismus anschlossen. Doch bestanden auch noch weiterhin starke Organisationen. In der Anfang der 20er Jahre gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation, der anarchistischen Internationale, waren Gewerkschaften aus Spanien und Italien mit jeweils 500.000 Mitgliedern, aus Argentinien mit 200.000, Portugal mit 150.000, Deutschland mit 120.000 und Frankreich mit 100.000 vertreten.2  Sie fielen rasch in sich zusammen und lebten als kleine Zirkel im wesentlichen von ihrer Abgrenzung gegenüber dem revolutionären Marxismus. Nur in Spanien war es anders. Hier kam es noch einmal zum Test anarchistischer Theorie und Praxis.

Programmlosigkeit

Politische Forderungen und Aktionsformen entstehen oft aus einer spontanen Massenbewegung heraus – nicht aber ein Programm. Dieses gründet sich auf einer Einschätzung der Gesellschaft in ihrem internationalen Zusammenhang und auf ihre Entwicklungstendenzen. Auf dieser Grundlage und auf der Basis der Erfahrungen des internationalen Klassenkampfes werden Taktik und Forderungen bestimmt. Ein solches Programm kann nur eine Organisation schaffen und in der praktischen Überprüfung verbessern.

Weil ihm diese Organisation fehlt, hat der Anarchismus nie eine revolutionäre Theorie oder ein Programm entwickeln können. Er ist eine politische Strömung, die in ein paar grundsätzlichen und recht auslegungsfähigen Thesen ihr Selbstverständnis findet. Daher fehlt die politische Geschlossenheit. Die Notwendigkeit dauerhafter und beharrlicher Arbeit wird unterschätzt. Es fehlt die langfristige politische Perspektive. Jede politische Lage wird neu erfahren. Blinder Aktionismus kann ebenso blinden Opportunismus ablösen. Einzelne Aktionsformen wie Terrorismus oder Generalstreik werden dogmatisiert. Hohe Kampfbereitschaft und niedriges politisches Niveau sind allgemein – jedenfalls bei den militanten Anarchisten – und besonders bei den spanischen vor dem Bürgerkrieg. »Die meisten spanischen Militanten leben für die Revolution und glauben, sie könne – ohne Rücksicht auf wann und wie – erreicht werden durch ein ständiges vollständiges Engagement in der Aktion … rein ideologische Fragen interessieren sie nicht und werden bestenfalls für eine Sache der Zukunft gehalten.«3  Naive politische und wirtschaftliche Lehren konnten mit einer Opferbereitschaft bis zum Tode für das Ziel einer idyllischen freien Kommune zusammenfallen.

In jeder kritischen Lage schwankt der Anarchismus zwischen revolutionärem und opportunistischem Tun. Nie entwickelt er ein Übergangsprogramm, welches das Bewusstsein der Massen entwickeln könnte. Er stellt sich nur an die Spitze der spontan handelnden Massen. Da er programm- und darum ratlos war, wurde er von den Ereignissen hin- und hergestoßen. Er musste versagen. Schon 1931 sah Trotzki voraus, dass Spanien der Grabstein des Weltanarchismus werden würde.4

Bedingungen für eine erfolgreiche Revolution

Wenn der Anarchismus je die historische Gelegenheit hatte, eine Revolution zum Sieg zu führen, so im Juli 1936 in Spanien. In einem Lande mit 23 Millionen Einwohnern hatte die anarchosyndikalistische "Confederacion National der Trabajo Anarquista" (CNT) ein bis anderthalb Millionen (1 – 1.500.000) und die politische Organisation "Federacion Anarquista Iberica" (FAI) 30.000 Mitglieder.5 Die Bolschewisten haben in dem viel größeren Russland mit weniger als 100.000 Mitgliedern eine Revolution erfolgreich durchgeführt und gegen eine Welt von Feinden verteidigt. Die Anarchisten konnten sich in Spanien durch ihre Organisation und Massenmedien jederzeit Gehör verschaffen. Sie betrieben eine Radiostation, acht Tageszeitungen und über fünfzig Wochenzeitungen und Zeitschriften.6 Die Kommunistische Partei hingegen dürfte 1935 nur 3.000 und im Juli 1936 allenfalls 30.000 Mitglieder gehabt haben.7 Der Anarchismus war in der Arbeiterbewegung zeitweise so dominierend, dass er einen Alleinvertretungsanspruch erhob.

1919 erließ die CNT ein Manifest, das alle Arbeiter Spaniens aufforderte, sich ihr binnen drei Monaten anzuschließen. Wer dann noch abseits stünde, würde als Streikbrecher betrachtet. 8

Spanien hatte auch die ausgeprägteste Tradition militanter Kämpfe in ganz Europa. In den drei Jahrzehnten vor dem Bürgerkrieg war es zu einer Reihe von militärischen Aktionen und bewaffneten Aufständen, zu heftigen Streiks und revolutionären Massenbewegungen gekommen. In jedem Fall hatte die Vorhut Spaniens 1936 auf militärischem Gebiet größere und umfassendere Erfahrungen als die russische 1917.

Die Wahl der Volksfront

Der opportunistische Kurs zeichnete sich schon vor dem Militärputsch in der Frage der Wahl ab. Einer der unumstößlichen Grundsätze des Anarchismus ist der Wahlboykott. »Das allgemeine Wahlrecht ist Konterrevolution«, heißt es bei Proudhon9– der sich dann aber prompt 1848 ins Parlament wählen ließ. Auch die Haltung der spanischen Anarchisten war zwiespältig. Bei den Gemeindewahlen 1931 hatten sie großenteils gewählt. Die Parlamentswahlen 1933 aber wurden boykottiert. Sollte die Reaktion siegen, so verkündeten sie damals, dann würden sie mit der sozialen Revolution antworten.10 Die Reaktion siegte, und es folgten schwarze Jahre der Unterdrückung.

Zu den Parlamentswahlen im Februar 1936 riefen die Anarchisten zur Stimmabgabe nicht für die eigenen Kandidaten, sondern für die Volksfront auf. Sie ermöglichten damit zweifelsfrei deren Sieg. Während die Rechte auf vier Millionen Stimmen kam, errang die Volksfront 4,8 Millionen. Darunter befanden sich wahrscheinlich über eine Million anarchistische Stimmen.11  Diese Entscheidung, die eine ganz Spanien erfassende Massenbewegung auslöste, wurde in klassisch sozialdemokratischer Art gerechtfertigt. »Wir gaben die Macht den Linksparteien in der Überzeugung,« so Santillan, Organisator von Milizen und später Minister, »dass unter den gegebenen Umständen sie ein geringeres Übel darstellen.«12 Dieses Beispiel zeigte aber bereits, wie die Massen ihren Führern folgten, auch wenn alte Grundsätze ohne Begründung der Tagespolitik geopfert wurden.

Solange der Anarchismus auf kleine Gruppen beschränkt ist, ist eine radikale Phraseologie für ihn typisch. Dann erscheinen Revolution und nahtloser Übergang in die erstrebte Idealgesellschaft nur als Frage revolutionären Wollens, unabhängig von den objektiven Bedingungen. »Unter den konkreten russischen Bedingungen,« verkündete der anarchistische Kongress in Elisabethgrad nach der Oktoberrevolution, »kann der unmittelbare Übergang vom großbürgerlichen Zarismus in die anarchistische Gesellschaft sofort verwirklicht werden; das Haupthindernis … bilden offensichtlich die Staats-kommunisten.« Darum: »Keinen einzigen Kompromiss mit der Sowjetmacht.«13 In Spanien hätte man den Übergang selbst machen und nicht von anderen fordern müssen – also unterblieb er.

Als der Militärputsch 1936 losbrach, bewährten sich Kampfbereitschaft und revolutionärer Wille der spanischen Massen. Die Militaristen hatten mit einem leichten Sieg gerechnet. Tatsächlich aber wurden die meisten putschenden Garnisonen auf dem Festland unschädlich gemacht. Ohne die Hilfe Nazi-Deutschlands, das die Franco-Truppen aus Marokko einflog, wäre die Revolte rasch zusammengebrochen.

Die Massen warteten nicht auf die Dekrete zur Einführung des Sozialismus. Die Eigentümer der Betriebe wurden verjagt, und an ihrer Stelle traten Arbeiterkommissionen. In dem angeblich so individualistischen Spanien wurden ganze Provinzen von landwirtschaftlichen Kollektiven geprägt. Auf dem Lande sollen über drei Millionen in ihnen gelebt haben.14 Praktisch alle Mittel- und Großbetriebe außer im Baskenland fielen unter Arbeiterkontrolle. Wenn auch die idealisierenden anarchistischen Beschreibungen über die innere Struktur und den wirtschaftlichen Erfolg dieser Errungenschaften eher desorientierend wirken,15  so waren sie dennoch unbestreitbar erfolgreich. Die Arbeiter und Bauern konnten die Betriebe nicht nur trotz der Flucht zahlreicher Spezialisten leiten, sie erreichten durch bessere Organisation, Vermeidung von Verschwendungen und Eigeninteresse auch unerwartete Produktionssteigerungen.

In jedem Falle waren feste materielle Basen für die Umwandlung der Gesellschaft geschaffen. An den Massen lag es nicht, wenn die Revolution nicht vorankam. Und es lag auch nicht an fehlendem anarchistischen Einfluss. Die Agrarrevolution wurde im wesentlichen von ihren Ideen getragen, und sie beherrschten Katalonien, das industrielle Zentrum Spaniens. Unter der rasch aufgestellten 100.000 Mann starken Miliz waren 50.000 Mitglieder der CNT.16  Das war eine Kraft, die etwas hätte durchsetzen können.

Die bewaffneten Arbeiter und Bauern beherrschten das Land. Die Regierung existierte nur noch als machtloser Ausschuss. Sie hatte weder eine Armee noch Polizei noch Beamte. Der bürgerliche Staatsapparat existierte nicht mehr. Die Macht lag auf der Straße und musste nur aufgenommen werden. »Sie haben gesiegt, Sie können bestimmen«, erklärte der katalanische Regierungschef Companys den anar-chistischen Führern. Die aber, unter ihnen auch Durruti, verzichteten auf den Sturz der bürgerlichen Regierung.17 »Die CNT und die FAI entschieden sich für die Zusam-menarbeit«, so der spätere Minister Garcia Oliver, »und entsagten dem revolutionären Totalitarismus, der zu einer Erwürgung der Revolution durch die anarchistische und konföderierte Diktatur geführt hätte.«18  Tatsächlich wurde dann die Revolution dank der Beihilfe der Anarchisten erwürgt.

Die Regionalkomitees von FAI und CNT in Katalonien traten nach dem Putsch sofort zusammen. In den ersten Stellungnahmen wurde von dem Ziel der sozialistischen Revolution überhaupt nicht gesprochen.19 Man entschied sich ausdrücklich gegen die Anarchie und für die bürgerliche »Demokratie, die Zusammenarbeit bringt«20  Das Regionalkomitee stellte ausdrücklich fest: »Freiheitlicher Sozialismus kommt jetzt nicht in Betracht. Lasst uns zuerst die Meuterei zertreten.«  21 Statt den revolutionär handelnden Massen die Perspektive einer sozialen Revolution aufzuzeigen, führten sie nur in den zwar unablässigen, aber nicht alles entscheidenden antifaschistischen militärischen Kampf. Alles andere ließen sie so, wie es gerade war. Sie verzichteten auf den revolutionären Krieg.

Sie forderten keine Agrarrevolution, obwohl die Masse der faschistischen Armee aus Bauern bestand. Sie forderten nicht die Unabhängigkeit Marokkos, obwohl Marokkaner die Kerntruppen der konterrevolutionären Truppen ausmachten. Sie forderten und bildeten keine Räte22 und unterstrichen damit den Verzicht auf den Sturz des bürgerlichen Staates. Stattdessen wurden überall antifaschistische Komitees aus Vertretern von Organisationen gebildet, die niemand wählte und die nur von ihren Organisationen, aber nicht von den Massen kontrolliert wurden. Nicht einmal die militärischen Aktionen wurden mit der gebotenen Umsicht geführt, sondern nur das Nächstliegende getan. Den Goldschatz der Bank von Spanien mit seinen 2,3 Mrd. Peseten23  ließ man so unangetastet wie einst schon die Pariser Kommunarden den französischen. Die republikanische Regierung benutzte ihn in den ersten entscheidenden sieben Wochen nicht, um damit auch nur eine einzige Waffe zu kaufen.

Wer darauf verzichtet, den bürgerlichen Staat zu stürzen, der schafft die Vorbedingung für seinen Wiederaufbau. Recht erstaunt standen dann die Anarchisten vor den Folgen ihres Tuns. »Die Tragödie war, dass die Kräfte der Regierung … rasch Boden gewannen. Innerhalb von zwei Monaten war die Frage der Doppelmacht zwischen dem Komitee [Komitee der antifaschistischen Milizen in Katalonien; F.S.] und der Regierung der Generalität [Bezeichnung der katalonischen Regierung; F.S.] mit der Aufgabe der ersteren gelöst.« »Wir opferten sogar die Revolution«, schreibt Santillan hinterher, »ohne zu bemerken, dass dies Opfer auch das des Kriegszieles einschloss.«24

Statt sich mit dem Gold der Bank von Spanien Waffen zu kaufen, geriet man bald in Abhängigkeit von sowjetischen Lieferungen. Da das Kreditwesen unter Kontrolle der Regierung blieb, erhielt der vergesellschaftete Sektor keine Mittel. Die Reserven der Betriebe waren bald verbraucht. Die Rohstoffzufuhr blieb aus, Kurzarbeit war die Folge. Jeder Betrieb versuchte, mit der Lage allein fertig zu werden. Das Gemeininteresse verschwand zugunsten eines Betriebsegoismus, der den eigenen Betrieb als Sondereigentum der jeweiligen Belegschaft betrachtete.25 Schon bevor die Regierung den vergesellschafteten Sektor angriff, hatte er seine Kraft verbraucht. Man kann den Sozialismus nicht isoliert auf der Ebene des Betriebes oder der ländlichen Kommune aufbauen, man braucht dafür die Staatsmacht.

Die Entwicklung des anarchistischen Organisationswesens

Die Einstellung der Anarchisten zur Organisation war stets zwiespältig. Grundsätzliche Verneinung koexistierte mit bedingter Bejahung. Die Machno-Bewegung im Russland des Bürgerkrieges lehnte die Freiheit politischer Organisationen ab und verbot sie einfach26  – aufgrund libertärer Prinzipien. Die Anarcho-Syndikalisten hingegen bejahten stets die Notwendigkeit der Organisierung. Hierarchischer Aufbau, verfestigte Formen, ein Apparat und eine Disziplin, die diesen Namen verdient, werden abgelehnt. Aber es finden sich auch Vorstellungen wie die von Bakunin, der forderte: »Was wir bilden müssen, sind gut organisierte und von Begeisterung erfüllte Stäbe aus Führern der Volksbewegung.«27

In Spanien gab es, wie überall bei Anarchisten oder Anarcho-Syndikalisten, kaum von der Organisation bezahlte Funktionäre. Die einzelnen Gruppen waren weitgehend autonom und von geringer Verbindlichkeit der Mitgliedschaft und folglich wenig koordinierter Arbeit. Sie wählten ihre Vertreter in regionale Plenen und auf Kongressen, die durch hohe Teilnehmerzahlen schon Massenversammlungen wurden. Die minimale politische Vereinheitlichung wurde durch die Presse hergestellt. In der Praxis konnte diese Organisationsform nicht überleben.

Erstaunlicherweise fand die Aufgabe aller anarchistischen Prinzipien wie der Wahlaufruf, Verzicht auf den Kampf um einen freiheitlichen Kommunismus, der Regierungseintritt oder die Straffung der Organisationsstruktur zunächst fast keinen und später nur geringen Widerstand – dann vor allem bei den Freunden Durrutis. Das ist ein Indiz für das niedrige politische Niveau und fehlende demokratische Willensbildung. Peirats schreibt: »Einige abweichende Stimmen verloren sich in dünner Luft. Das Schweigen der anderen war tatsächlich rätselhaft.« 28 Die Mitglieder wurden gar nicht erst gefragt. Die Entscheidung über die Politik der demokratischen Zusammenarbeit an Stelle der sozialen Revolution wurde nahezu einmütig von den "einflussreichen Militanten" getragen. Die Basis sei nur am bewaffneten Kampf und der Verwaltung der enteigneten Betriebe interessiert gewesen. 29 Der Regierungseintritt endlich wurde auf höchster Ebene entschieden. Es ist nicht feststellbar, ob er im nationalen Plenum der CNT überhaupt debattiert worden ist.30

Weil verbindliche Organisationsstrukturen fehlen oder zumindest nicht arbeitsfähig sind, verselbständigt sich in allen spontaneistischen und anarchistischen Gruppen und Organisationen die Führung. Das gilt nicht für die überschaubare Kleingruppe, tritt aber sofort ein, wenn dieser Rahmen gesprengt wird – sei es durch Ausweitung der Gruppe oder die Koordination der Gruppen. SDS und Außerparlamentarische Opposition (APO) haben das zur Genüge bewiesen. Angeblich entschieden die Plenen in Form einer direkten Demokratie. Tatsächlich wurden diese Versammlungen von kleinen, informellen Gruppen manipuliert und waren nur dann keine reinen Akklamationsorgane, wenn diese Führungsgruppen sich in einer Frage spalteten. Das und nicht die Böswilligkeit der bürgerlichen Presse war die objektive Ursache, wenn das persönliche Wollen personifiziert wurde. Jede Uni hatte ihre kleinen Dutschkes – gleich wie das persönliche Selbstverständnis dieser Genossen war. Es ist kein Zufall, wenn heute eine derartige Personifizierung nicht mehr möglich ist.

Eine politische Willensbildung an der Basis kann immer nur in der kleinen Gruppe aufgrund von bekannt gegebenen politischen Plattformen erfolgen. Das ist in der unverbindlichen Organisationsform der Anarchisten nicht möglich. Insofern fehlen Organe der Kontrolle, und die Führung verselbständigt sich – oft sind es die guten Redner von Massenversammlungen. Extremes Beispiel in dieser Hinsicht ist die Machno-Bewegung im russischen Bürgerkrieg. In ihrem Operationsgebiet hat es offenbar nur eine kleine anarchistische Gruppe gegeben. Von den fünfundzwanzig von dem Chronisten der Bewegung, Arschinow, vorgestellten führenden Männern der Bewegung stammten fünfzehn aus der Kleinstadt Gulai Pole, vier aus deren Nachbarschaft, und sechs waren aus allen Teilen Russlands herbeigeströmt, um den einzigen anarchistischen Praxisansatz zu unterstützen.31 Diese winzige Basis führte eine Bauernarmee von 20.000 Mann32  und beherrschte ein Gebiet, in dem mehrere Millionen Menschen lebten. Die Anarchisten waren zufällig die Führer einer spontanen Bewegung. Es hätten genau so gut andere sein können. Machno wurde trotz seiner schweren persönlichen Mängel33  ein regelrecht charismatischer Führer einer Bewegung, die ihn in keiner Weise kontrollierte und auch keine Willensbildungsorgane schuf. »Mit dem Augenblick der Vereinigung der Mehrzahl der aufständischen Strömungen unter Machnos Führung gewann die Bewegung an Einheitlichkeit«, schreibt sein Chronist.34 Es »spielte Machno in der Bewegung eine so ausschließliche Rolle, dass ganze Aufstandsgebiete … mit seinem Namen verknüpft sind.«35 Die Bewegung wurde um eine Person, nicht um ein Programm organisiert.

In Spanien kam es nicht so weit, weil es nicht einen Führer, sondern eine Führung gab. Sie hatte sich völlig verselbständigt. Im weiteren Verlauf des Bürgerkrieges wurde die anarchistische Organisation so hierarchisch gegliedert und so diszipliniert, dass die heutige sozialdemokratische Praxis demgegenüber geradezu als demokratisch erscheint.

Die regionalen Plenumssitzungen, die obersten Organe, waren von Anfang an ohne Bedeutung. Sie wurden kurzfristig binnen zwei oder drei Tagen zusammengerufen, wodurch eine politische Vorbereitung völlig unmöglich wurde. Hier wurde nicht debattiert, sondern feurige Reden wurden gehalten, Losungen beschlossen und revolutionärer Enthusiasmus zur Schau getragen. Allenfalls stimmte man den Entscheidungen der Führer nachträglich zu.36 Die wirkliche Macht wurde in regionalen Komitees konzentriert, die niemand kontrollierte. Schlusspunkt dieser Entwicklung war die Schaffung des Exekutivkomitees von Katalonien Anfang 1938.37 Der Grad der Verselbständigung der Führung kommt symptomatisch zum Ausdruck, wenn ein anarchistischer Kritiker die späteren Grundsatzdiskussionen der spanischen Anarchisten für nebensächlich und nur für ein Mittel politischer Führer im Kampf um die Kontrolle der Organisation hält. Tatsächlich sei die Macht in Händen weniger konzentriert worden.38

Sehr rasch wurde nach Beginn des Bürgerkrieges die Organisation umgestellt. Das Plenum der Regionalkomittees beschloss 1937 in Valencia die Umstellung auf Stadtteilbasis und eine hierarchische regionale Gliederung. Die FAI führte den Kandidatenstatus ein. Wer nicht vor dem 1.1.1936 Mitglied war, musste eine sechsmonatige Zeit bedingter Mitgliedschaft durchlaufen, in der er keine Funktion übernehmen durfte.39 Das Einzelmitglied wurde einer strikten Disziplin unterworfen. »Jedes Mitglied der FAI, das für ein öffentliches Amt bestimmt ist, … kann … von seinem Amt abberufen werden durch kompetente Körperschaften der Organisation, sobald eine solche Handlung notwendig wird.« 40

Diese Bestimmungen wurden in der Folgezeit noch verschärft. Der CNT-Kongress im Januar 1938 beschloss: »Man muss die öffentlichen Meinungsverschie-denheiten innerhalb der Bewegung beenden.« 41 Fortan galt nur noch die Meinung der Führung. Gelder erhielt nur die führertreue Presse. Als die auch in Spanien viel gelesene französische anarchistische Zeitschrift ‚Espagne Anti-Faciste‘ die opportunistische Politik von CNT und FAI angriff, wurde ihr einfach die finanzielle Unterstützung entzogen.42

In den Beschlüssen des Exekutivkomitees von Katalonien wird dieser Prozess besonders deutlich. »Alle örtlichen und sonstigen Organisationen der drei Bewegungen« (CNT, FAI und die Jugendorganisation FIJL, F.S.), so hieß es nun, »werden Entscheidungen dieses Komitees billigen und ausführen … Das Komitee hat die Befugnis, die Mitglieder der militärischen und Politischen Beratungsausschüsse zu ernennen … [Es] kann jene Einzelpersonen, Gruppen, Syndikate, Ortsgruppen oder Ausschüsse ausschließen, die die allgemeinen Resolutionen der Bewegung nicht respektieren oder ihr durch ihre Handlungen schaden.«43 Als beispielsweise Marcos Alcoa die Übernahme einer politischen Funktion in einer Stadt ablehnte, belehrte ihn der zuständige CNT-Regionalsekretär Vazquez (später wurde er nationaler Sekretär), es sei seine Pflicht, dorthin zu gehen, wohin ihn seine Organisation sende.44

Binnen kurzem wurde aus dem unverbindlichen anarchistischen Verband eine bürokratisch geführte Organisation, die dem lebendigen stalinistischen Modell nachgebildet worden war. Die Basis akzeptierte das mit ganz wenigen Ausnahmen. Selbst der Führerkult fand Einzug in die anarchistische Presse. Schon am 29.8.1936, also noch ganz am Anfang dieser Entwicklung, erfuhr man aus der ‚Solidaridad Obrera‘, dass Garcia Oliver »unser am meisten geliebter Genosse« sei. Im Informationsbulletin hieß es: »Männer wie dieser Genosse müssen prominente und verantwortliche Positionen einnehmen, von denen aus sie ihren Brüdern ihren Mut und ihre Dynamik vermitteln können. Und wir würden sogar sagen – ihre Strategie«.45 Das war sicher eine neue Interpretation des alten anarchistischen Grundsatzes der Propaganda der Tat.

Mit dem einher ging der Niedergang in politischer Klarheit. Kleinbürgerliche und nationalistische Töne wurden laut. "Solidaridad Obrera" forderte von Frankreich beispielsweise Hilfe gegen die "Boches", das verächtliche Wort für Deutsche46. Statt die Unabhängigkeit Marokkos zu fordern, erklärte Federica Montseny, die bald Ministerin werden sollte, »die Mohren drücken uns die Zivilisation der Faschisten auf, nicht als eine christliche Zivilisation, sondern als Zivilisation der Mohren …« 47

Regierungseintritt

Niemand erwartete ernsthaft, dass Anarchisten je in eine Regierung eintreten würden, schon gar nicht in eine bürgerliche. Der Grundsatz: "Jeder Staat ist eine Despotie" (Stirner) war unangefochtenes Prinzip. Doch wurde die Notwendigkeit des Staates nur solange geleugnet, wie man ihn nicht brauchte. Doch einmal auf der abschüssigen Bahn des Opportunismus angelangt, rutschten die spanischen Anarchisten sogar in eine bürgerliche Regierung hinein und schlossen ein enges Bündnis mit den Stalinisten in deren übelster Zeit – als die Moskauer Schauprozesse liefen.

Schon am 26.9.1936 waren die Anarchisten in die bürgerlich geführte katalonische Regionalregierung eingetreten. Um die Prinzipienlosigkeit nicht zu offenkundig werden zu lassen, veranstaltete man eine kleine Maskerade. Die "Regierung" wurde vorher in "Nationaler Verteidigungsrat" umbenannt. Das Komitee der katalonischen Milizen opferte man dennoch und löste es auf.48 Damit wurde auch der letzte Ansatz für eine Gegenmacht preisgegeben.

Am 4.11.1936 wurden vier Anarchisten Mitglieder der zentralen Regierung – auf unwichtigen Posten (Gesundheit, Handel, Industrie und Justiz). Die Mühe der Umbenennung in irgendeinen "Rat" machte man sich jetzt schon nicht mehr.

Nun ist jeder Regierungseintritt eine taktische Frage, und die spanischen Anarchisten wären nicht zu tadeln, wenn sie unbrauchbar gewordene Prinzipien aufgegeben hätten. Aber sie traten in eine bürgerliche Regierung ein, die für die Verteidigung der bürgerlichen Demokratie und der bürgerlichen Gesellschaft kämpfte, die den Faschismus gerade hervorgebracht hatte. Jedes weitere Ziel war ausgeschlossen. Diese Geschäftsgrundlage wurde von den Anarchisten akzeptiert. Sie erklärten selbst: »Wir sagen: Erst Krieg, dann die Revolution! Die Regierung allein darf befehlen.« 49 Aber sie täuschten ihre Anhänger über die Konsequenzen und vermittelten den Eindruck, als ob am Ende es nur von einer Willensentscheidung abhängen würde, zum Kommunismus fortzuschreiten. Sie gaben ihre Entscheidung sogar als revolutionäre Tat aus, die die bestehende Gesellschaft bereits entscheidend verändere. Ihr Organ "Solidaridad Obrera" bezeichnete den Regierungseintritt als »den vorzüglichsten Tag in der politischen Geschichte unseres Landes … Die Regierung … hat aufgehört, die Unterdrückungsgewalt gegen die Arbeiterklasse zu sein, wie auch der Staat nicht mehr das Gebilde ist, das die Gesellschaft in Klassen teilt. Beide werden jetzt, mit dem Eintritt der CNT, das Volk noch weniger unterdrücken… Die Aufgabe der Regierung wird es nun sein, den Krieg wirksam zu führen und die revolutionäre Aufgabe nach einem allgemeinen Plan zu koordinieren.« Nach Federica Montseny wurde der Regierungseintritt »von uns als die weitreichendste Revolution betrachtet, die auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet vollbracht worden war.«50 – Weitreichender somit als die Arbeiterselbstverwaltung und die landwirtschaftlichen Kollektive.

Die Identifizierung mit dem bürgerlichen Staat nahm groteske Formen an. Die anarchistische Presse titulierte ihre Minister mit den offiziellen Bezeichnungen. Da konnte der Milizionär an der Aragon-Front dann Erklärungen seiner führenden Genossen in seiner eigenen Presse lesen mit der Einleitung »Seine Exzellenz, der Herr Minister der Justiz, Genosse Garcia Oliver…«51

Der Regierungseintritt war nicht nur ein Vorgang an der Spitze, er wurde auf allen Ebenen durchgezogen. Anarchisten traten massenhaft in staatliche Stellungen ein, und mindestens zwei Dutzend wurden sogar Divisionskommandeure. Das schon erwähnte Plenum in Valencia erklärte die Linie für verbindlich. »Es ist die Pflicht aller Anarchisten, in jene öffentlichen Einrichtungen einzutreten, die dazu dienen können, den neuen Zustand zu sichern und zu fördern.« 52

Hier sollen nicht alle unrühmlichen Handlungen der Anarchisten in der Regierung geschildert werden. Es genügen ein paar erhellende Beispiele. Justizminister wurde Garcia Oliver. Er war sicher nicht verantwortlich für den damals schon einsetzenden stalinistischen Terror, der sich vorerst gegen Trotzkisten und solche, die dafür erklärt wurden, richtete. Die Stalinisten wussten, wer der eigentliche Gegner war und ließen die kollaborationswilligen Anarchisten stets in Ruhe. Aber bald traf dieser Terror auch die sich allmählich formierendenen revolutionären Anarchisten – ohne dass die CNT oder FAI daraus wirklich Konsequenzen gezogen hätten.

Seine Exzellenz, der Herr Justizminister, schirmte durch seine bloße Existenz die Kritik an diesen Vorgängen ab. Gleichzeitig half er mit, ein Klima für die Unterdrückung zu schaffen, wenn er drakonische Strafen pauschal für Deserteure, Feiglinge, Schwarzhändler, Neutrale, Indifferente und Pazifisten forderte und auch entsprechende Dekrete erließ. ‚Solidaridad Obrera‘ hatte übrigens schon vorher die Todesstrafe für Diebstahl gefordert.53  Man muss nur wenig über die ursprünglichen anarchistischen Vorstellungen über Ursache und Überwindung des Verbrechens wissen, um diesen Rückfall in wild gewordene kleinbürgerliche Moralität bewerten zu können.

Noch skandalöser war das Verhalten bei den Maiunruhen in Barcelona im Mai 1937. Nach einer stalinistischen Provokation erhoben sich die Arbeiter, vor allem Anhänger der Anarchisten und der POUM, einer linkszentristischen Partei. Hier zeigte sich noch einmal der ungebrochene revolutionäre Wille der Massen. Die anarchistischen Führer aber fielen ihnen in den Rücken und vermittelten zur Regierung. Dank ihrer Autorität erreichten sie die Einstellung der Kämpfe und den Abbau der Barrikaden. »Legt die Waffen nieder!« forderte das CNT-Regionalkomitee die Arbeiter auf.54Diese Aufforderung wurde bereits von schrillen Tönen begleitet. ‚Frente Libertario‘, das Organ der CNT-Milizen in Madrid, hetzte unverhüllt gegen die Arbeiter von Barcelona, »die gegen die vom Volk gewählte Regierung rebellieren«, und nannte sie »Komplizen Hitlers, Mussolinis und Francos«, mit denen »erbarmungslos umzugehen« sei. 55

Doch Undank ist der Bürger und der Stalinisten Lohn. Die Anarchisten hatten auf die Revolution verzichtet, ihre Anhänger desorientiert und ins bürgerliche Lager geführt. Sie hatten ein Prinzip nach dem anderen aufgegeben, waren in die Regierung eingetreten und hatten Barcelona pazifiziert. Aber sie waren immer noch Repräsentanten revolutionär handelnder Massen. Darum flogen sie, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatten, auf Verlangen der Kommunistischen Partei aus der Regierung.

Doch auch jetzt änderten sie ihre Politik nicht. Sie wurden eine loyale Opposition und appellierten an der öffentliche Meinung gegen das Unrecht, das ihnen widerfahren war. »Und jene«, klagte Federica Montseny, »die uns hätten dankbar sein sollen, weil wir die Straße und die Gewalt aufgaben, weil wir die Verantwortung in der Regierung übernahmen … sie ruhten nicht, bis sie erreichten, dass wir, die Revolutionäre der Straße, auf die Straße zurückkehren sollten.«56 Sie kehrten nicht zur Revolution zurück.

Militarismus und Militarisierung der Arbeit

In Russland war eines der wichtigsten Argumente der Anarchisten gegen die Bolschewisten die Umwandlung der bewaffneten Kräfte in eine reguläre Armee und die Disziplin der Betriebe sowie der Kriegskommunismus infolge der Notwendigkeit des Bürgerkrieges. In Spanien war diese Kritik offenbar völlig vergessen.

Die Milizen hatten ihren Enthusiasmus und ihre militärischen Fähigkeiten im Straßenkampf bewiesen. Das führte zu einer, auch ideologisch bedingten, falschen Einschätzung ihrer Kampfkraft. Es ist ein großer Unterschied, in den Straßen einer vertrauten Stadt unter selbst gewählten Bedingungen zu kämpfen oder aber einen modernen Krieg führen zu müssen. Die CNT lehnte nicht nur die Wehrpflicht, sondern auch die Schaffung einer regulären Armee ab. »Wir können die Existenz einer regulären, uniformierten Wehrpflichtarmee weder verteidigen noch verstehen noch die Notwendigkeit sehen«, hieß es.57

Doch zeigten sich die militärischen Mängel sehr rasch. Die Milizionäre betrachteten sich als Freiwillige mit dem Recht, ihre Einheit jederzeit verlassen zu dürfen. Sie waren kaum ausgebildet, schlecht ausgerüstet und hielten nichts von Waffenpflege. Die militärische Disziplin ließ mehr als zu wünschen übrig. Das äußerte sich nicht nur in Übergriffen. Wer nachts auf Wache nicht schlief, galt als verrückt. Die Versorgung war überhaupt nicht organisiert. Die Beschlagnahmen aber verbitterten vor allem die Bauern. Im Hinterland gab es mehr Waffen als an der Front.58  Am schlimmsten aber war, dass jede Einheit ihren eigenen Krieg führte. Erst am 26.8.1936, über einen Monat nach Beginn der Kämpfe, wurde an der anarchistischen Aragon-Front ein Kriegskomitee gebildet. Aber auch das hatte keine Autorität und blieb recht funktionslos.59

In offener Feldschlacht erwiesen sich die Milizen in ihrer Kampfkraft, vor allem aber in der militärischen Führung, den konterrevolutionären Armeen als weit unterlegen. Besonders auffällig war, dass sich der Wert der nach Madrid verlegten legendären Kolonne Durruti als recht gering und dem der internationalen Brigaden – auch die waren ja nur rasch zusammengestellte Milizen, aber mit unvergleichlich stärkerer Disziplin – als weit unterlegen erwies. Objektiv war es erforderlich, eine reguläre, eine rote Armee zu schaffen. Nicht notwendig aber war die Schaffung eines Heeres nach bürgerlichem Muster anstelle einer revolutionären Armee. Genau das aber befürworteten nun die Anarchisten.

Als erstes wurde das Prinzip der Freiwilligkeit aufgegeben. Schon Ende August 1936 wurden alle Wehrpflichtigen in dem von der Kolonne Durruti besetzten Gebiet zum Wehrdienst aufgefordert.60 Die Milizen wurden trotz des Widerstandes ihrer Angehörigen in reguläre Einheiten umgewandelt – ohne alle politischen Strukturen, mit den alten Rängen und der alten Ordnung. Aus der Kolonne Durruti wurde beispielsweise die 26. republikanische Division.

Die anarchistischen Führer rechtfertigten dies nur noch mit der Ideologie des Sieges. »Mit Disziplin und einer wirksamen Militärorganisation«, so Garcia Oliver, »werden wir zweifellos gewinnen. Disziplin für jene, die an der Front oder an der Werkbank kämpfen, Disziplin in allem ist die Grundlage des Triumphes.«61 Und wenig später rief er Offiziersschülern zu: »Offiziere der Volksarmee! Ihr müsst eine eiserne Disziplin einhalten und sie euren Männern auferlegen, die – einmal unter eurem Kommando – aufhören müssen, eure Kameraden zu sein und die nur noch Rädchen in der Militärmaschinerie unserer Armee sind.«62 Oberst Mera, ehemals führendes CNT-Mitglied in Madrid, trat sein Kommando bei den Durruti-Soldaten mit der Ankündigung an: »Von heute an werde ich nur noch mit Hauptleuten und Feldwebeln zu tun haben.«63 Der Anarchismus war so rasch und gründlich militarisiert, dass sein Organ "Solidaridad Obrera" es als Ehre empfand, als Buenaventura Durruti anlässlich des ersten Jahrestages seines Todes den Rang eines Oberstleutnants posthum verliehen bekam.

Ähnlich war die Entwicklung im Arbeitsleben. Sicher haben die Stalinisten alles getan, um die Arbeiterselbstverwaltung zu untergraben. Sie haben mit Waffengewalt auch die Auflösung landwirtschaftlicher Kollektive erzwungen. Aber der Anarchismus setzte dem keinen geschlossenen Widerstand entgegen. Er propagierte sogar offen die Militarisierung der Arbeit. Die CNT trat für die Bildung eines nationalen Wirtschaftsrates ein. Faktisch war es ein Regierungsorgan zur Lenkung von Produktion und Verbrauch. Das alles war kriegsnotwendig, wenngleich der Kriegskommunismus in Russland vom Anarchismus immer noch vehement abgelehnt wurde. Aber die CNT war auch für die Festlegung der Einkommen nach Leistung und Ausbildung.64 Sie trat dafür ein, dass jeder eine Arbeitskarte erhielt. Mit einer Mehrheit von 516 : 120 Stimmen beschloss der CNT-Kongress im Januar 1938 seine Zustimmung zu einem Arbeitsgesetz, nach dem Entlassungsgründe unbegründetes Fehlen bei der Arbeit, ständiges Verspäten, Nichterreichen der Produktionsnorm und Unruhestiftung waren. Wer zum zweiten Mal aus einem dieser Gründe entlassen wurde, dem war ein Arbeitsplatz an einem anderen Ort anzuweisen.65

Von der Revolution zur Kollaboration

»Die Bakunisten waren gezwungen, sobald sie einer ernsthaften revolutionären Lage gegenüberstanden, ihr ganzes bisheriges Programm über Bord zu werfen. Zuerst opferten sie die Lehre von der Pflicht der politischen und besonders der Wahlenthaltung. Dann folgte die Anarchie, die Abschaffung des Staates … Dann ließen sie den Grundsatz fallen, dass die Arbeiter sich an keiner Revolution beteiligen dürften, die nicht die sofortige vollständige Emanzipation des Proletariats zum Zwecke habe und beteiligten sich an einer eingestandenermaßen rein bürgerlichen Bewegung. Endlich … (gingen) sie ganz gemütlich in die Regierungsausschüsse … fast überall als ohnmächtige, von der Bourgeoisie überstimmte und politisch exploitierte Minderzahl … Das ultralinke Geschrei verwirklichte sich also, sobald es zur Tat kam, entweder in Abwiegelei oder in von vornherein aussichtslosen Aufständen oder in dem Anschluss an eine bürgerliche Partei, die die Arbeiter schmählich politisch ausbeutete und sie obendrein mit Fußtritten behandelte.«

Das schrieb Friedrich Engels im Jahre 1873. Es hätte genau so 1938 geschrieben werden können und beweist, dass der Anarchismus aus seiner Geschichte nichts gelernt hat.

Keine revolutionäre Organisation ist gegen Opportunismus gefeit. Aber sie muss aus ihren Fehlern lernen. Es können auch revolutionäre Organisationen konterrevolutionär werden. Aber dann entsteht aus ihren eigenen Reihen eine Opposition. Spartakusbund, KPD, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht kamen aus der SPD. Ehe die bolschewistische Partei zu einem willigen Machtinstrument einer herrschenden Clique werden konnte, mussten Hunderttausende Kommunisten umgebracht werden.

Im spanischen Anarchismus gab es zwar Kritik. Aber die Opposition entwickelte sich nie zu einem Stadium organisierten und koordinierten Handelns. Darum spielte der Anarchismus auch beim Wiederaufstieg der spanischen Arbeiterklasse keine Rolle mehr. Heute sind Anarchismus und Spontaneismus, wie bisher immer, Ausdruck eines revolutionären Wollens, das blind und ziellos ist.

Anmerkungen
1.      Lenin: "Der ‚linke‘ Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus", Ausgewählte Werke, Bd. II, Berlin 1955, S. 680
2.     Erwin Oberländer (Hrsg.): "Der Anarchismus", Olten und Freiburg 1972, S. 45
3.     Gonzales nach Vernon Richards: "Lessons of the Spanish Revolution". London 1972, S. 83. Richards gehört zu den wenigen Anarchisten, die eine scharfe Kritik an der Politik im Bürgerkrieg geübt haben. Ähnlich dazu ein französischer Syndikalist: "Der FAI-ismus ist auf das Gebiet der Arbeiterkämpfe übertragene Jacquerie"; vgl. Pierre Broué und Emile Témime: "Revolution und Krieg in Spanien", Frankfurt am Main 1968, S. 66
4.     Leon Trotzky: "The Spanish Revolution", New York 1973, S. 146
5.     Richards: "Lessons …", S. 149, Broué/Témime: "Revolution …", S. 80, Trotsky: "Revolution", S. 27 f. Die Mitgliederzahlen wuchsen im Bürgerkrieg rasch an. Die FAI wies Ende 1937 154.000 auf und die CNT 1938 angeblich über 2,5 Mill., obwohl große Teile des Landes besetzt waren. Es fragt sich allerdings, wie weit alle Angaben nicht doch übertrieben werden. Auf dem CNT-Kongress in Saragossa im Mai 1936 waren 551.000 Mitglieder vertreten. Weitere 60.600 von den abgespaltenen Treintistas wurden aufgenommen. Vgl. Richards: "Lessons …", S. 25
6.     Richards: "Lessons …", S. 88
7.     A.a.O., S. 65
8.     A.a.O., S. 54. In ihrer ersten Begeisterung schloss sich die CNT im Dezember 1919 "ohne jeden Vorbehalt" der Komintern an. Der Beschluß wurde erst 1922 rückgängig gemacht. Ein kleiner Teil bildete daraufhin die kommunistische Partei. Vgl. Daniel Guérin: "Anarchismus", Frankfurt am Main 1967, S. 99-102
9.     Zitiert nach Guérin: "Anarchismus", S. 18
10.     Guérin: "Anarchismus", S. 19
11.     Broué/Témime: "Revolution …", S. 90 f.
12.     Richards: "Lessons …", S. 19
13.     Zitiert nach A. Hegedüs/M. Markus u.a.: "Die neue Linke in Ungarn", Berlin 1974, S. 53 f.
14.     Richards: "Lessons …", S. 99
15.     Das gilt für das Funktionieren wie auch die innere Struktur der Betriebe. In der Praxis gab es naturgemäß große Mängel. Beispielsweise wurden Männer und Frauen weiterhin unterschiedlich entlohnt, auch dort, wo die Anarchisten bestimmend waren. Auch Emilienne Morin, die Frau Durrutis, weiß einiges über die untergeordnete Stellung der Frau in der anarchistischen Bewegung zu erzählen. Vgl. Broué/Témime: "Revolution…", S. 188, Hans Magnus Enzensberger: "Der kurze Sommer der Anarchie", S. 84
16.     Broué/Témime: "Revolution…", S. 170
17.     James Joll: "Die Anarchie", Frankfurt am Main-Berlin, S. 198
18.     Richards: "Lessons…", S. 34
19.     A.a.O., S. 38
20.     Broué/Témime: "Revolution…", S. 241
21.     A.a.O., S. 156
22.     Anarchisten haben ohnehin ein unrealistisches Verhältnis zur Macht. In Russland war die Mehrheit gegen die Losung "Alle Macht den Sowjets", weil sie gegen die Macht an sich waren Vgl. Joll: "Anarchisten", S.140
23.     Richards: "Lessons…", S. 36
24.     A.a.O., S. 43
25.     Dazu Broué/Témime: "Revolution…", S. 198-205
26.     Joll: "Anarchisten", S. 143
27.     Zitiert nach Guérin: "Anarchismus", S. 35
28.     Richards: "Lessons…", S. 36
29.     A.a.O., S. 75
30.     A.a.O., S. 76 und 86
31.     Peter Arschinow: "Anarchisten im Freiheitskampf", Zürich 1971, S. 292-300
32.     A.a.O., S. 121
33.     Selbst Arschinow schreibt: "Machno war … nicht hinreichend theoretisch vorgebildet" für seine Funktion (S. 290). Zum politischen Führer war er wegen unmäßigen Trinkens und anderer Eskapaden nicht gerade prädestiniert.
34.     Arschinow: "Anarchisten..", S. 109
35.     A.a.O., S. 66
36.     Richards: "Lessons…", S, 86
37.     A.a.O., S. 85 f.
38.     A.a.O., S. 88 f.
39.      A.a.O., S. 146
40.     A.a.O., S. 147 f.
41.     A.a.O., S. 167
42.     A.a.O.,S. 90. Am 28.3.1937 berief das anarchistische Nationalkomitee eine Konferenz nach Barcelona ein. "Ihr grundsätzliches Ziel war", so schreibt Peirats, "die Unterwerfung aller Organe des Anarcho-Syndikalismus unter die Direktion des Nationalkmitees." Vgl. Richards: "Lessons…", S. 141
43.     Richards: "Lessons …", S. 141
44.     A.a.O., S. 180
45.     a.O., S. 181. Noch deutlicher rechtfertigte "Solidaridad Obrera" am 21.2.1937 das Führerprinzip: "Um das Volk zu führen, ist es unerlässlich, daß jene in der Verantwortung, die Massen führen, diesen Gedanken verkörpern sollten: "Das erste, was man braucht, damit einem gehorcht wird, ist Autorität." … Und das erfordert: Talent, eine Gabe der Führerschaft, und der Glaube an die Bestimmung des Volkes, das man regiert; Aktivität, Voraussicht, Antizipieren von Ereignissen und sich von ihnen nicht fortreißen lassen…" Vgl. Richards: "Lessons ….", S. 208
46.     Broué/Témime: "Revolution ….", S. 279
47.     Ein weiteres Beispiel in dieser Richtung berichtet "Solidaridad Obrera" am 12.9.1936 in einem Zitat von J.P. Fabregas, einem prominenten CNT-Führer: "lch habe den blinden Glauben an die Bestimmung unseres Landes, weil ich an das reine Wesen der Rasse glaube…" Beide Zitate nach Richards: "Lessons …", S. 211
48.     Broué/Témime: "Revolution…", S. 248-250, Richards: "Lessons …", S. 63
49.     Broué/Témime: "Revolution…", S. 261
50.     Richards: "Lessons…", S. 69 f. und 185, Broué/Témime: "Revolution…", S. 255 f. Die Anarchisten wurden übrigens auch Mitglieder der spanischen Exilregierung. Vgl. Richards: "Lessons…", S. 94
51.     Broué/Témime: "Revolution…", S. 280
52.     Richards: "Lessons…", S. 147
53.     A.a.O., S. 212
54.     Broué/Témime: "Revolution…", S. 351
55.     A.a.O., S. 359. Bereits damals wurden einige namhafte revolutionäre Anarchisten ermordet wie Camillo Berneri und Alfredo Martinez. Vgl. Broué/Témime: "Revolution …", S. 354
56.     Richards: "Lessons…", S. 139. Nicht einmal ihre Presse griff die Volksfront an. So vergaben sie jede Chance, wenigstens das politische Bewußtsein ihrer Anhänger zu entwickeln.
57.     Richards: "Lessons…", S. 157
58.     Beim Angriff auf Saragossa befanden sich im katalonischen Hinterland 60.000 Waffen. Auch die CNT in Barcelona hielt Maschinengewehre und Tanks zurück, statt sie an ihre Einheiten an die Aragon-Front zu senden, Broué/Témime: "Revolution…", S. 170, Richards: "Lessons…", S. 78
59.     Broué/Témime: "Revolution…", S. 210
60.     Richards: "Lessons…", S. 158
61.     A.a.O., S. 92
62.     A.a.O., S. 159
63.     A.a.O., S. 160. Der Geist in der Kolonne Durruti soll trotz allem weitgehend solidarisch geblieben sein.
64.     Richards: "Lessons …", S. 171-173                                
65.     A.a.O., S. 167

[Dieser Artikel erschien zuerst 1978 in der orthodox-trotzkistischen Zeitschrift „Die Internationale“.]

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