Sozialpolitik und Klassenkampf

Der Sozialstaat ist ins Gerede gekommen. Ein kleiner, aber lautstarker Chor aus hochbezahlten Arbeitgeberfunktionären, CDU – und FDP-Politikern, Regierungsbeamten, Wirtschaftsprofessoren und -journalisten ruft den Arbeitslosen, den Rentnerinnen, den Kranken, den Eltern, Kindern und Jugendlichen zu: „Ihr seid zu teuer geworden. Ihr habt Besitzstandsdenken und Versorgungsmentalität entwickelt. Das können wir uns nicht mehr leisten!“ Gelegentlich stimmt auch ein sozialdemokratischer Ministerpräsident mit ein und fordert tiefe „Einschnitte“ ins soziale Netz.

Dabei wird gerne behauptet, der Sozialstaat sei nicht mehr zeitgemäß , ein Überbleibsel aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Heute jedoch „sind die sozialen Sicherungssysteme unbezahlbar geworden“, wie der Stern schreibt, und ihre „Ausgaben und Leistungen müssen den Grenzen wirtschaftlicher Tragfähigkeit angepaßt werden“. Diese letzte Aussage stammt übrigens nicht aus der aktueller Debatte, sondern – wörtlich – aus einer Denkschrift des Reichsverbandes der Deutschen Industrie vom Dezember 1929.

1929 – das war das Jahr, in dem die große Wirtschaftskrise begann, die in Deutschland zu sechs Millionen Arbeitslosen führte, zur Nazi-Diktatur und schließlich zum Krieg. Vielleicht ist es ja gar nicht der Sozialstaat, sondern die Argumente seiner Gegner, die mit einer unseligen Erblast der Vergangenheit behaftet sind?

Wir wollen uns deshalb in diesem Beitrag mit der Geschichte des Sozialstaats in Deutschland befassen, uni die gegenwärtige Diskussion besser zu verstehen und Argumente für die anstehenden Auseinandersetzungen zu sammeln.

 

Als Vater der Sozialversicherungen gilt Otto von Bismarck, der als Reichskanzler unter Kaiser Wilhelm I. und Ü. zuerst die Krankenversicherung (1883) und die Unfallversicherung (1884), später dann auch die Invaliden- und Altersversicherung (1889) durchsetzte. Für Bismarck waren diese Maßnahmen die folgerichtige Ergänzung zum Sozialistengesetz, mit dem er 1878 die sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen verboten hatte. In der rasch wachsenden Industriearbeiterschaft sah er eine riesige Bedrohung für den Bestand der preußisch-deutschen Monarchie. So erklärte er offen, „in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung … erzeugen zu wollen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt“.

Auf Widerstand stieß Bismarck bei den Befürwortern eines von allen staatlichen Eingriffen und Regelungen freien Kapitalismus, die in der Sozialpolitik eine Einschränkung der Selbstregulierungskräfte des Marktes sahen. Deren Position war aber geschwächt, nachdem die Handelskrisen der Siebziger Jahre zu einer bedrohlichen Verschärfung der sozialen und politischen Konflikte geführt hatten.

Bismarck hatte auch keineswegs im Sinn. den Kapitalisten in irgendeiner Weise weh zu tun. Die Forderungen der Arbeiterschaft nach Verbot der Sonntagsarbeit und Begrenzung des Arbeitstages auf zehn Stunden lehnte er beharrlich ab. Viele Großunternehmen, die ihren Arbeitern bereits betriebliche Krankenunterstützung gewährten, waren ohnehin nicht böse über eine allgemeine Krankenversicherung, die zu zwei Dritteln aus Beiträgen der Arbeiter finanziert wurde.

Die Rechnung des Reichskanzlers Bismarck, die organisierte Arbeiterbewegung durch eine Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“ klein zu halten, ging nicht auf. Im Mai 1889 streikten im Ruhrgebiet 90.000 Bergarbeiter für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. Preußisches Militär tötete 15 Arbeiter, konnte den Streik aber nicht brechen. Der Kaiser mußte in Berlin eine Abordnung von Bergarbeitern aus Dortmund-Dorstfeld empfangen. Als die Arbeit nach drei Wochen wieder aufgenommen wurde, hielten sich die Zechenleitungen nicht an den mit den Delegierten der Arbeiter ausgehandelten Kompromiß.

Von da an wurde Wilhelm Ü. von dem Alptraum verfolgt, eine Wiederholung des Streiks könnte seinen Thron zum Einsturz bringen. Er schrieb an Bismarck, man müsse „eingedenk sein, daß fast alle Revolutionen aus dein Versäumnis rechtzeitiger Reformen entstanden“ und forderte gesetzliche Beschränkungen für die Sonntags- und Nachtarbeit, staatliche Schlichtungsstellen und den Ausbau von Schulen und Krankenhäusern. Gegen den Widerstand Bismarcks hob der Reichstag im Januar 1890 das Sozialistengesetz auf. Im März wurde Bismarck vom Kaiser entlassen, weil er sich weigerte, die von Wilhelm verlangten Sozialgesetze verabschieden zu lassen.

Das sozialpolitische Engagement des Kaisers war nicht von langer Dauer. Weil die Arbeiter sich „undankbar“ zeigten und mehr denn je sozialdemokratisch wählten, wurde bald wieder die Peitsche hervorgeholt. Aber das half nun nichts mehr. Die Arbeiterbewegung war jetzt stark genug, um in den folgenden zwei Jahrzehnten bis zum ersten Weltkrieg Schritt für Schritt den Ausbau der Sozialversicherung und des Arbeitsschutzes durchzusetzen.

 

Arbeitslosenversicherung

Die Arbeitslosenversicherung kam erst 1921. Für die Unternehmer war und ist dies der unangenehmste Teil des Sozialstaats. Denn Arbeitslose, die auf Unterstützung rechnen können, lassen sich nicht so leicht für Billiglöhne anheuern. Und das bedeutet, daß auch die Beschäftigten weniger erpreßbar sind.

Welche Bedeutung diese Frage hat, kann man daran ablesen, daß bei steigenden Arbeitslosenzahlen mit schöner Regelmäßigkeit von den Unternehmerverbänden die Forderung erhoben wird, die Arbeitslosen sollten verpflichtet werden, auch erheblich schlechter bezahlte Jobs anzunehmen. Als gäbe es Millionen von offenen Stellen, die nur deshalb nicht besetzt werden können, weil die Arbeitslosen zu anspruchsvoll sind! In Wahrheit geht es den Arbeitgeber-Funktionären nur darum, die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung auszuhöhlen, damit sie die Beschäftigten zum Lohnverzicht erpressen können.

Deshalb ist es nicht zufällig, daß die Arbeitslosenversicherung bald nach dem ersten Weltkrieg geschaffen wurde. Das Kaiserreich und sein Militärapparat, der die Interessen des Kapitals geschützt hatte, waren zerbrochen. Die Unternehmer waren auf die Unterstützung der Gewerkschaften und der SPD angewiesen, wenn sie ihren Reichtum und ihre Profitquellen behalten wollten. Der Versuch. mit Freikorps-Truppen einen rechten Putsch durchzuführen (der sogenannte „Kapp-Putsch“ von 1920). scheiterte am Generalstreik der Gewerkschaften. Das waren die Kräfteverhältnisse mit denen die Einführung der Arbeitslosenversicherung erst möglich wurde.

In den folgenden Jahren gelang es den Kapitalisten, Schritt für Schritt wieder die Initiative in die Hand zu bekommen. im Herbst des Inflationsjahres 1923 löste die Berliner Regierung gewaltsam die Länderregierungen in Sachsen und Thüringen auf, wo SPD und KPD Koalitionen gebildet hatten. Die Gewerkschaften verzichteten diesmal auf den Aufruf zum Generalstreik. Zum Dank dafür gab die Regierung grünes Licht für die Verlängerung der täglichen Arbeitszeit: Sie hob das Gesetz über den Acht-Stunden-Tag auf, das seit 1919 galt.

 

Massenaussperrung

1928 zettelten die Unternehmer einen Arbeitskampf in der westdeutschen Metallindustrie an. Mehr als 200.000 Arbeiter wurden ausgesperrt. Der Grund: Die Arbeitgeber waren mit dem Ergebnis der staatlichen Schlichtung nicht zufrieden, das nach dem Gesetz eigentlich bindend sein sollte. Für diesen offenen Rechtsbruch wurden sie mit einem neuen Schlichtungsspruch belohnt, der geringere Lohnerhöhungen vorsah.

Der „Schwarze. Freitag“, der Krach an der New-Yorker Börse vom Oktober 1929, lag noch keine sechs Wochen zurück, als der Reichsverband der Deutschen Industrie in einer Denkschrift unter dem Titel Aufstieg oder Niedergang verlangte, der „Förderung der Kapitalbildung“ müsse unbedingter Vorrang eingeräumt werden. Zur Sozialpolitik heißt es in diesem Papier:

Die materiellen Ansprüche der Wirtschaft an die Sozialpolitik müssen sich in den Grenzen der Leistungsfähigkeit und Entwicklungsmöglichkeit der Wirtschaft halten. Nur dann ist die Erfüllung der sozialen Aufgaben für die Dauer gesichert. Die wirtschaftliche Produktivität ist die Quelle sozialer Leistungen. Aus dieser Erkenntnis heraus fordern wir in Übereinstimmung mit der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände eine Reform:

  1. der Sozialversicherungsgesetze. Ihre bisherigen Grundlagen sollen erhalten bleiben, aber Ausgaben und Leistungen müssen im Gegensatz zum jetzigen Zustand den Grenzen wirtschaftlicher Tragfähigkeit angepaßt werden. Die Sozialversicherung soll die wirklich Schutzbedürftigen und Notleidenden betreuen, eine unberechtigte, die Volksmoral schädigende Ausnutzung ihrer Einrichtungen aber verhindern.
  2. der Arbeitslosenversicherung. … Ziel der Reform muß sein, den Haushalt der Reichsanstalt durch weitere Ersparnisse ohne Erhöhung der Beiträge und ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel in ein dauerhaftes Gleichgewicht zu bringen.
  3. der Schlichtungsordnung und des Zwangslohnsystems. Die staatliche Zwangswirkung auf die Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen ist zu beseitigen

Die Arbeitslosenversicherung stand schon sehr bald im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Die Zahl der Erwerbslosen wuchs sprunghaft an. Im März 1930 brach ein Proteststurm bei den Unternehmerverbänden los, als die SPD-geführte Regierung eine Erhöhung der Beiträge von 3,5% auf 4% ankündigte. Unter diesem Druck zog die Regierung ihren Vorschlag zurück. Reichskanzler Hermann Müller stellte stattdessen ein Gesetz in Aussicht, mit dem die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung an die Einnahmen angepaßt werden sollten. Damit war die Kürzung der Arbeitslosenunterstützung vorprogrammiert, und nun stimmte die SPD-Fraktion gegen ihren eigenen Kanzler.

 

Brünings Notverordnungen

Die Regierung Müller trat zurück. Neuer Kanzler wurde Heinrich Brüning von der katholisch-konservativen Zentrumspartei. Brüning hatte keine Mehrheit im Parlament, aber er konnte sich auf die Duldung durch die SPD stützen. Mit Notverordnungen, das heißt Regierungserlassen ohne Zustimmung des Reichstags, bewerkstelligte er den Sozialabbau, den die Unternehmer forderten und den die Gewerkschafter in der SPD-Fraktion eigentlich verhindern wollten.

Der Aufstieg der Nazis ist durch diese Politik ganz entscheidend begünstigt worden. Vor dem Beginn der Wirtschaftskrise hatten sie 1928 bei der Reichstagswahl gerade 2,6 Prozent der Stimmen bekommen. Im September 1930, ein halbes Jahr nach dem Machtantritt Brünings. waren es 18,3 Prozent, und im Juli 1932, nach zwei Jahren Sozialabbau durch Notverordnungen, 37,3 Prozent!

Die SPD und die Gewerkschaften hätten die Chance gehabt, diesen Aufstieg der Hitler-Partei zu verhindern, wenn sie Lohnsenkungen und Sozialabbau entschlossen bekämpft hätten, anstatt tatenlos zuzusehen, wie der konservative Kanzler Brüning die sozialen Errungenschaften der Nachkriegsjahre zerstörte.

Anhand der kurzen, aber wechselhaften Geschichte der Weimarer Republik läßt sich somit zweierlei recht gut zeigen:

  1. Ausbau und Einschränkung des Sozialstaats waren direkt abhängig von der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeiterschaft und Unternehmerklasse.
  2. Dieses Kräfteverhältnis wurde nicht nur durch das Auf und Ab der wirtschaftlichen Konjunktur bestimmt, sondern auch durch das Verhalten der großen Arbeiterorganisationen. SPD und Gewerkschaften tragen deshalb eine besondere Verantwortung für die Erhaltung des Sozialstaats.

 

Adenauers Rentenreform

Können wir die gleichen Schlußfolgerungen auch aus der Entwicklung des Sozialstaats in der Bonner Republik ziehen?

Der bekannteste und wohl auch bedeutsamste Meilenstein der Sozialpolitik der Wirtschaftswunderjahre war die Rentenreform von 1957. Damals wurde die dynamische Rente eingeführt. das heißt die regelmäßige Anpassung der Rentenhöhe an die Bruttolöhne der Beitragszahler.

Diese Reform steigerte die Popularität des CDU-Bundeskanzlers Adenauer in solchem Maße, daß er die Bundestagswahl im Herbst 1957 mit absoluter Mehrheit gewann.

Bis dahin war die Höhe der Rente beirrt Eintritt in den Ruhestand festgelegt worden. Während die Löhne rasch anstiegen – sie hatten sich seit der Währungsreform 1948 verdoppelt – mußten die Renten hinter dieser Entwicklung zurückbleiben. Obwohl es bereits mehrere allgemeine Rentenanpassungen gegeben hatte, entsprach die Durchschnittsrente 1955 nur einem knappen Drittel eines vergleichbaren Arbeitslohns. Es mußte also etwas geschehen.

Hinzu kam, daß viele Rentner gleichzeitig Kriegsopferentschädigungen bezogen. Nach der Rentenreform konnten diese gekürzt werden, so daß Sozialleistungen aus Steuermitteln durch Zahlungen aus Versichertenbeiträgen ersetzt wurden. Der Finanzminister war deshalb ein begeisterter Befürworter der Rentenreform.

Trotzdem wurde die dynamische Rente zu Recht als enormer sozialer Fortschritt verstanden: Sie eröffnete die Aussicht, auch im Ruhestand an der allgemeinen Entwicklung des Lebensstandards beteiligt zu werden.

Aber auch diese Reform war nicht einfach ein Geschenk der konservativen Regierung an das dankbare Volk. Mit dem Abbau der Nachkriegsarbeitslosigkeit (von 10,4 Prozent 1950 auf 3,5 Prozent 1956) war das Selbstvertrauen der Arbeiterschaft wieder erwacht. Im Oktober 1956 hatte die IG Metall die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit von 48 auf 45 Stunden erreicht.

Noch im gleichen Monat traten 34.000 Metallarbeiter in Schleswig-Holstein in den Streik, um eine Angleichung der Lohnfortzahlung bei Krankheit an die gesetzlichen Regelungen für die Angestellten durchzusetzen. Der Streik dauerte fast vier Monate und endete erst am 14.2.1957 – genau neun Tage, bevor im Bundestag die Rentenreform beschlossen wurde.

Ein Gesetz über die Lohnfortzahlung, das die endgültige Angleichung der Arbeiter an die Angestellten und die Abschaffung aller Karenztage brachte, kam übrigens erst im Sommer 1969 zustande, vor dem Hintergrund wachsender Unruhe in den Großbetrieben der westdeutschen Stahlindustrie, die sich im September 1969 in einer Welle von spontanen Streiks entlud.

In der ersten Hälfte der Siebziger Jahre waren Selbstbewußtsein und Kampfbereitschaft der Arbeiterschaft besonders groß. Es gab politische Streiks gegen den Versuch der CDU, 1972 den SPD-Kanzler Willy Brandt zu stürzen, eine erneute spontane Streikwelle vor allem der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter 1973, und im Frühjahr 1974 einen Streik der ÖTV, mit dem eine Lohnerhöhung von 11 Prozent durchgesetzt wurde.

Im gleichen Zeitraum wurde der Sozialstaat weiter ausgebaut: Es gab eine Reihe von Verbesserungen in der Krankenversicherung, die Einführung der flexiblen Altersgrenze bei der Rente (1972) und die Ausbildungsförderung (BAFöG 1971), die den Zugang zu den Universitäten auch für jene öffnete, die nicht aus einer wohlhabenden Familie kamen.

Die Wende kam mit der Wirtschaftskrise von 1974/75, bei der die Zahl der Arbeitslosen erstmals wieder auf über eine Million anstieg. SPD-Kanzler Helmut Schmidt gewann die Wahl 1976 mit dem Versprechen, die Renten seien sicher – trotz rückläufiger Beitragseinnahmen. Wenige Wochen nach dem Wahlsieg beschloß die Regierung, die nächste Rentenerhöhung um ein halbes Jahr zu verschieben. In den folgenden Jahre fielen die Rentenanpassungen geringer aus als die Lohnerhöhungen.

Die Gewerkschaften setzten sich gegen die wachsende Arbeitslosigkeit nur halbherzig zur Wehr. Erst um die Jahreswende 1978179 kam es zu einem sechswöchigen Streik der .Stahlarbeiter um die Einführung der 35-Stunden-Woche. Der Streik endete mit einer Niederlage, die 40-Stunden-Woche wurde für weitere fünf Jahre festgeschrieben. Nicht zuletzt deshalb stieg die Zahl der Arbeitslosen beim nächsten Konjunktureinbruch 1981/82 auf über zwei Millionen.

 

Das Lambsdorff-Papier

Der Wirtschaftsminister der SPD/FDP- Regierung, Otto Graf Lambsdorff machte sich zum Sprecher der Unternehmerverbände. Im Sommer 1982 veröffentlichte er einen umfangreichen Katalog mit Forderungen zum Abbau von Sozialleistungen. Das Lambsdorff-Papier bereitete das Ende der sozial-liberalen Koalition vor. Allerdings nicht, weil SPD-Kanzler Schmidt sich weigerte, die Forderungen der Unternehmer und der FDP zu erfüllen, sondern weil er bei dem Versuch, den Sozialabbau in eigener Verantwortung durchzuführen, auf wachsenden Widerstand der Gewerkschaften stieß.

Die FDP ließ die Koalition platzen und machte Helmut Kohl von der CDU zum Bundeskanzler. Die neue Regierung machte sich sofort an den Abbau des Sozialstaats. Dabei brauchte sie zunächst nur diejenigen Maßnahmen durchzuführen, die noch von der alten Regierung vorbereitet worden waren, so die Einführung des Krankenversicherungsbeitrags für Rentner ab 1983, die praktisch eine Kürzung der Renten bedeutete. In den folgenden Jahren wurde der Sozialstaat durch zahllose Einzelkürzungen zurückgedrängt.

Ablesen läßt sich das an der Entwicklung des Anteils der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt. Von 1965 bis 1975 war dieser Anteil von 20 auf 30 Prozent gestiegen. Bis 1982 blieb dieser Wert etwa konstant. Bis zum Ende der Achtziger Jahre wurde er auf knapp 27 Prozent gedrückt.

Dabei hat es die Kohl-Regierung bis heute sorgsam vermieden, die offene Konfrontation mit den Gewerkschaften zu suchen. Im Zuge der Wiedervereinigung kam es sogar zu einer erneuten Ausweitung der Sozialleistungen. Kohl wußte sehr gut, daß die Massenbewegung, die den SED-Staat zu Fall brachte, in der ostdeutschen Arbeiterschaft eine gehörige Portion Selbstvertrauen erzeugt hatte. Der Versuch, das „Anspruchsdenken“ der ehemaligen DDR-Bürger durch die Umstellung der Löhne und Renten im Verhältnis 1:2 von vornherein auf ein Minimum zu reduzieren, ging denn auch gleich in einer Flut von spontanen Protesten unter. Als 1991 aus Protest gegen die Abbruchpolitik der Treuhand die Montagsdemonstrationen für einige Wochen wieder aufgenommen wurden, weitete die Bonner Regierung den Umfang der ABM-Maßnahmen aus, mit denen der Übergang in die Arbeitslosigkeit zeitlich gestreckt werden sollte.

Die Kosten der Wiedervereinigung führten dazu, daß der Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt bis 1995 auf den vorher nie erreichten Höchststand von 33 Prozent anstieg. Diese Kosten werden fast ausschließlich aus den Beiträgen der beschäftigten Arbeitnehmer (in Ost und West) getragen.

Wenn aber die Zahl der Beschäftigten zurückgeht, müssen entweder die Beiträge erhöht oder die Leistungen gekürzt werden. In dieser Situation haben die Arbeitgeberverbände jetzt wieder die Forderung nach Leistungskürzungen erhoben. Wenn ein führender SPD-Politiker wie Gerhard Schröder „tiefe Einschnitte“ ins soziale Netz für unvermeidlich erklärt, ist das eine direkte Parteinahme für den Standpunkt der Unternehmer. Und es erleichtert Helmut Kohl die Aufgabe, nun wirklich die Konfrontation mit den Gewerkschaften zu suchen, wie es mit der geplanten Kürzung der Lohnfortzahlung geschieht.

 

Kürzungs-Propaganda

Die Angriffe auf den Sozialstaat werden von einer aufwendigen und unverschämten Propagandakampagne begleitet. Angeblich sind die deutschen Arbeitnehmer zu oft krank, setzen zuwenig Kinder in die Weit und nutzen das soziale Netz auf diese Weise schamlos aus. Im Westen darf man auch noch mit dem Finger auf die ostdeutschen Rentner zeigen., die ja schließlich keine Beiträge in die westdeutsche Rentenversicherung gezahlt haben.

Ein Drittel aller Krankmeldungen entfällt auf den Montag! Und der häufigste Krankheitstag überhaupt ist der Freitag! Das soll sich anhören, als würden Krankheiten hauptsächlich dazu dienen, das Wochenende zu verlängern. In Wahrheit gehen natürlich diejenigen, die am Samstag und Sonntag krank werden, auch erst am Montag zum Arzt. Wenn nicht immer mehr Arbeitnehmer auch am Wochenende arbeiten müßten, müßte der Anteil der Montags-Krankmeldungen im Durchschnitt eigentlich nicht 33, sondern 42 Prozent betragen! Und wer im Lauf der Woche erkrankt, wird eben in der Regel bis zum Wochenende krankgeschrieben – deshalb ist es ganz natürlich. daß am Freitag der Krankenstand am höchsten ist.

Die Renten, die heute ausgezahlt werden, stellen weder für die westdeutschen noch für die ostdeutschen Rentner eine Rückzahlung der früher eingezahlten Beiträge dar. Sie werden jeweils aus den Beiträgen der Beschäftigten finanziert. Wenn die Rentenversicherung in Ostdeutschland ein besonders großes Minus macht, bedeutet das nur, daß es dort wegen der höheren Arbeitslosigkeit weniger Beitragszahler und wegen der niedrigeren Löhne geringere Beitragseinnahmen gibt als im Westen. Vermutlich ist das Defizit der Rentenversicherung im Emsland oder in Westberlin noch größer. Es kommt bloß niemand auf die Idee, dafür Zahlen zu veröffentlichen.

 

Arbeitsplätze

Aber ist diese Art der Rentenfinanzierung, der „Generationenvertrag“, nicht wirklich auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt, wenn es immer mehr alte Menschen und immer weniger Kinder gibt?

Die Zahl der Beitragszahler im Jahr 2030 hängt nicht davon ab, wieviele Kinder heute geboren werden, sondern davon, wieviele Arbeitsplätze es im Jahr 2030 gibt. Wann es ein Angebot von dreißig Millionen Arbeitsplätzen und nur zwanzig Millionen Deutsche im Erwerbsalter geben sollte, dann wird es kein Problem sein, die überzähligen Arbeitsplätze durch Einwanderer zu besetzen.

Und heute bestehen die Finanzschwierigkeiten des Sozialstaats erst recht nicht darin, daß es zuwenig Kinder gibt, sondern in der wachsenden Arbeitslosigkeit Hätten wir vier Millionen Arbeitslose weniger, dann könnten die Beiträge zur Sozialversicherung von heute 40 auf 30 Prozent vom Lohn gesenkt werden. Die Verantwortung für die Zahl der Arbeitsplätze tragen aber nicht die Rentner. nicht die Kranken, die Ostdeutschen oder die Kinderlosen, sondern allein die Unternehmer.

Es ist auch eine Illusion zu glauben, „tiefe Einschnitte“ in den Sozialstaat könnten neue Arbeitsplätze schaffen. Nur um ein Beispiel zu nennen: Der Vorstand des Opel-Konzerns hat im Februar erklärt, man habe wohl gute Umsätze und gute Gewinne gemacht, aber die Produktivität mache solche Fortschritte, daß beim nächsten Modellwechsel in zwei Jahren ein Viertel der Arbeitsplätze wegfalle. Da wird auch die geforderte Senkung der „Lohnnebenkosten“ nicht zu Neueinstellungen führen, sondern bloß zu höheren Gewinnen bei weiterem Abbau von Arbeitsplätzen.

1930 konnten die Unternehmer ihre Forderungen zum Abbau des Sozialstaats durchsetzen, weil SPD und Gewerkschaften stillgehalten haben. Der einflußreiche Vorsitzende der Holzarbeitergewerkschaft, Fritz Tarnow, erklärte 1931 auf dem SPD-Parteitag in Leipzig, man müsse „der Wirtschaft diejenigen Mittel sichern, die sie nach der kapitalistischen Wirtschaftstechnik braucht“. Für die Zukunft sah er umso rosigere Zeiten voraus: „… wenn sich der Nebel dieser ökonomischen Krise verzogen hat, dann wird man deutlich sehen, daß nach in dieser Zeit die sozialistischen Fundamente stärken, die kapitalistischen schwächer geworden sind …“

Diese Hoffnungen sind grausam enttäuscht worden. Die führenden Leute der SPD befinden sich auch heute auf dem Holzweg. Schröders Ruf nach tiefen Ein- schnitten , Lafontaines Kampagne gegen die Aussiedler und Aussagen des DGB-Vorsitzenden Schulte, Lohnsenkungen könnten zu mehr Arbeitsplätzen führen, sind als Signal verstanden worden, daß die SPD dem Abbau des Sozialstaats keinen entschlossenen Widerstand leisten will. Darum sind Kohl und seine Freunde von der FDP aus den Landtagswahlen im März gestärkt hervorgegangen. Deshalb glauben sie, nun auch mit dem Angriff auf die Lohnfortzahlung durchzukommen.

Ob der Sozialstaat erweitert oder abgebaut wird, hängt in erster Linie vom Kräfteverhältnis zwischen Arbeitnehmern und Kapitalisten ab. in Zeiten der Vollbeschäftigung steigt oft das Selbstbewußtsein der Arbeiterschaft, umgekehrt nimmt es bei wachsender Arbeitslosigkeit meistens ab. Das ist aber keineswegs unvermeidlich. Der Massenstreik Ende letzten Jahres in Frankreich hat gezeigt, daß die Arbeiterbewegung auch in Krisenzeiten erfolgreich sein kann.

Der französische Präsident Chirac hat einige seiner Sozialabbau-Pläne beiseite legen müssen und kürzt jetzt die Militärausgaben.

Das ist auch in Deutschland möglich. Die Gewerkschaften und die SPD müssen jetzt alles daransetzen, uni die Kürzung der Lohnfortzahlung zu verhindern.

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