Von der SPD zu Dutschkes SDS

Gretchen Dutschkes Erinnerungen an ihre Zeit mit dem Revolutionär und Studentenführer Rudi Dutschke sind gerade als Buch erschienen (Ein barbarisch schönes Leben). Mit dieser Veröffentlichung wird noch einmal die mitreißende, warmherzige und gewinnende Persönlichkeit des Menschen Rudi Dutschke lebendig. Wer sich mehr für die politische Strategie und Taktik Dutschkes interessiert, sollte unbedingt das schon 1977 erschienene, aber leider vergriffene Bändchen von Fichter und Lönnendonker lesen, das die Edition Aurora zum Fotokopie-Selbstkostenpreis vertreibt.


Tilman Fichter u. Siegward Lönnendonker: Kleine Geschichte des SDS

Tilman Fichter hat selbst seit 1963 dem Berliner SDS bis zur Auflösung 1970 angehört. In diese Zeit fiel der Eintritt einer Gruppe von revolutionären „Unterwanderern“ um Rudi Dutschke in den eigentlich immer noch von der SPD stark geprägten SDS (1965), die Fraktionskämpfe im Berliner und dann im Bundes-SDS zwischen „Aktionisten“ und „Traditionalisten“, die Transformation des SDS von einem linkssozialdemokratischen in einen revolutionären Studentenverband innerhalb von ein bis zwei Jahren.

Dutschkes Stärke war, daß er mehr als irgendein anderer Studentenführer das latente Unbehagen einer ganzen Generation an den erstarrten politischen Verhältnissen der damaligen BRD ausdrückte. F&L dokumentieren den Durchbruch und den Sieg der Aktionisten um Dutschke über die Seminarmarxisten. Sie zeigen aber ebenso, daß der Seminarmarxismus der frühen sechziger Jahre eine wichtige Etappe zur Stabilisierung des aus der SPD ausgeschlossenen war und daß die politische Kraft des SDS in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ohne die Theoriearbeit nicht denkbar ist. Die Ausrufung einer „Kritischen Universität“ an der FU 1967 sei zum Beispiel nur möglich gewesen, „weil seit Anfang der 60er Jahre im SDS … eine Kultur autonomer Arbeitsgruppen bestanden hatte und die KU an fast 10 Jahre theoretischer Vorarbeiten und praktischen Erfahrungen anknüpfen konnte“.

F&L zerstören aber auch den Mythos „1968“, wonach die Studenten damals angeblich alle und von vornherein so viel politischer gewesen wären als heute. So kann man auf Seite 110 etwa lesen:

Der SDS stand (nach dem 2. Juni 1967) vor dem Problem, daß es nicht die revolutionäre Studentenschaft gab und daß eine Vereinheitlichung des Bewußtseins von heute auf morgen ein Ding der Unmöglichkeit war. Die Ungleichzeitigkeit der Lernprozesse war Realität und mußte vom Verband (SDS) ausgehalten werden.

Der SDS war Anfang der sechziger Jahre politisch völlig isoliert, auch in den Hochschulen, verfiel aber trotzdem nicht in politisches Sektierertum und blieb offen für neue Erfahrungen und politische Bündnisse. In Seminaren der Gesellschaftswissenschaften verschafften sich seine Mitglieder Respekt und Gehör. Die Durchbrechung der Isolation gelang jedoch nicht auf dem Weg der politischen Propaganda und Aufklärung, sondern durch die Aktion, wozu natürlich auch die sich verändernden politischen Rahmenbedingungen beitrugen (von Adenauer zu Erhard). Der faszinierende Sprung aus der politischen Isolation zu einer Massenbewegung liest sich auf Seite 112 so:

Nicht nur der Senat von Berlin, sondern auch der Berliner SDS starrte gebannt auf die sich in geometrischer Reihe entwickelnden Teilnehmerzahlen der Demonstrationen.

Es waren – auch dies ist Teil des Mythos „68“ – jedoch keinesfalls nur politische Aktionen gegen Krieg und Unterdrückung, die aus der Isolation führten. Mindestens ebenso wichtig war die Hochschulpolitik des SDS und Aktionen zur Hochschulpolitik im engeren Sinn. Dazu gehörten Streiks gegen höhere Mensapreise, Aktionen gegen alte Nazis unter den Professoren und gegen Studienbeschränkungen aller Art. Dazu gehörte auch eine wissenschaftliche Untersuchung über die Stellung der Hochschule im Kapitalismus, die auch heute noch lesenswert ist. (Hochschuldenkschrift des SDS)

Gerade hier trifft auch zu, was F&L 1977 auf der Rückseite ihres Buches schrieben: daß „die Geschichte des SDS den Charakter eines Lehrstückes für … sozialistische Politik an den Hochschulen“ gewinnt.

Hätte der (linke, von Autonomen beeinflußte) ASTA der Berliner FU im Mai 1996 dieses Lehrstück gekannt und beherzigt, hätte er nie und nimmer aus Enttäuschung über eine Abstimmungsniederlage für einen Streik auf einer Vollversammlung diese überlassen und die Studenten der Agitation des RCDS überlassen.

F&L zeigen am Beispiel des FU-Streiksemesters im Sommer 1966, daß sich der SDS damals nicht zu schade war, ein taktisches Bündnis mit Vertretern der Burschenschaften einzugehen, um eine Vollversammlung von politische rechts stehenden Medizinern und Juristen zustande zu bringen, die unter Führung des SDS zum ersten großen Sitzstreik von 3.000 Studenten ausartete. Das war beste Einheitsfronttaktik im Sinne der Komintern-Beschlüsse von 1921!

Das Buch von F&L ist ein „Muß“ für alle politisch interessierten Studenten. Es stellt die Geschichte des SDS wahrheitsgetreu dar, gibt einen guten Überblick in das gespannte Verhältnis von SPD und linken Studenten, gibt darüber hinaus einen Abriß politischer Traditionen an den deutschen Universitäten seit dem vorigen Jahrhundert und bringt in den Fußnoten eine Fülle interessanter Einzelheiten über die deutsche Nachkriegslinke, aber auch über die Vergangenheit heute tragender Politiker. z.B. kann man nachlesen, daß die Wahl eines Mitglieds einer schlagenden Verbindung namens Eberhard Diepgen zum 1. Asta-Vorsitzenden der Freien Universität am 30. Januar (!) 1963 „in West-Berlin das Faß zum Uberlaufen“ brachte …

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