Ein Blick zurück und nach vorn

Arno Klönne betrachtet die internationale Zusammenarbeit von Gewerkschaften in ihrer Anfangsphase und zieht daraus Lehren für heute.


Zur Person

Arno Klönne war Professor für Soziologie und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a. „Die deutsche Arbeiterbewegung“, München 1989, ISBN 3-42311073-2; Arno Klönne/Hartmut Reese: Die deutsche Gewerkschaftsbewegung. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hamburg 1984, ISBN:3-87975280-X

Der Kampf um den 8-Stunden-Tag – zentrales Projekt der internationalen Arbeiterbewegung

Bereits auf dem Internationalen Sozialistenkongress von 1889 in Paris wurde der 1. Mai als internationaler Kampftag zur Durchsetzung des 8-Stunden-Tags ausgerufen. Die Normalarbeitszeit lag damals bei bis zu 12 Stunden. Die Losung lautete: Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung und acht Stunden Schlaf. In der Forderung nach dem 8-Stunden-Tag bündelten sich die Interessen der Arbeiter an Freizeit, Bildung und der Teilhabe an Staat und Gesellschaft. Der 8-Stunden-Tag symbolisierte die von der Arbeiterbewegung angestrebte soziale und politische Freiheit. Bis zum ersten Weltkrieg wurde die Forderung auf jedem 1. Mai international aufgestellt. Der 1. Mai war damals noch kein gesetzlicher Feiertag, sondern die Arbeiter nahmen ihn sich einfach frei. Wobei das natürlich nicht einfach war – die Folgen waren in der Regel wochenlange Aussperrungen oder Entlassungen. Erst die Welle revolutionärer Erhebungen von 1918, die den ersten Weltkrieg beendete, brachte in Deutschland den Normalarbeitstag von acht Stunden.

Internationale Solidarität – kein leeres Schlagwort
Ein Beispiel: Die Weltgewerkschaft für Seeleute ITF

Die nationalen Flächentarifverträge spielten für die Seefahrt zunehmend keine Rolle mehr. Die Zunahme des Welthandels, aber vor allem der verschärfte Wettbewerbsdruck seit den 1970er Jahren führte zu Ausflaggungen. Darunter versteht man, dass z.B. ein deutsches Schifffahrtsunternehmen seine Schiffe unter der Flagge und damit unter den Bedingungen eines anderen Landes fahren lässt – und ausgeflaggt wurde natürlich in Billiglohnländer. Um dem so entstandenen Niedriglohnsektor etwas entgegenzusetzen, wurde die Internationale der Seeleute zur Tarifvertragspartei aufgewertet und somit zur ersten globalen Gewerkschaft. Sie hat Mindestlöhne von 1.400 $/Monat durchgesetzt. 2003 haben die Hafenarbeiter Europas durch ihren internationalen Protest mit massiven Streik- und Blockadeaktionen die Durchsetzung einer EU-Hafenrichtlinie verhindert, die erlaubt hätte, Arbeits- und Lohnstandards in europäischen Häfen zu unterlaufen. Die Mitgliederzahlen steigen weltweit.

„Globalisierung“ ist das Schlagwort, mit dem seit etlichen Jahren schon die gewerkschaftliche Opposition gegen die Demontage aller sozialen Errungenschaften der Arbeiterbewegung in die Ecke gedrängt wird. Selbst prächtig verdienende deutsche Konzerne drücken Minderungen der Löhne und Verdichtung der Arbeitsintensität mit der Drohung durch, die Produktion müsse sonst in andere Länder verlagert werden. Die Gewerkschaftsführungen und die Großbetriebsräte werden von den Stabsstellen des Kapitals darauf eingeschworen, sich auf Lohn- und Sozialdumping einzulassen – nur so könne der Wirtschaftsstandort Deutschland den internationalen Wettbewerb bestehen.

Kein einigermaßen klar denkender Mensch wird glauben können, in den Chefetagen der großen Unternehmen sei man von vaterländischen Gefühlen bewegt. Dort wird vielmehr eine alte Methode der Interessendurchsetzung in eine neue, erfolgreiche Form gebracht: „Teile und herrsche“. Transnational agierende Konzerne spielen die Belegschaften und Gewerkschaften der einzelnen Nationen gegeneinander aus. Das geschieht schon seit langer Zeit, aber die zunehmende Internationalisierung der Kapital-, Waren- und Arbeitsmärkte eröffnet einer solchen Strategie zusätzliche Möglichkeiten.

Die Organisationen der ArbeitnehmerInnen stehen dem bisher ziemlich hilflos gegenüber. Zwar gibt es internationale Dachverbände nationaler Gewerkschaftsbünde oder Branchengewerkschaften, etwa den EGB (Europäischer Gewerkschaftsbund), und es wird versucht, Betriebsräte in europäischen oder internationalen Großunternehmen zu etablieren. Aber diese institutionellen Ansätze befinden sich weitab vom Problemhorizont der nach wie vor national geformten gewerkschaftlichen und betrieblichen Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen, weitab auch von der Erfahrungswelt und Lebenspraxis der Gewerkschaftsmitglieder und der abhängig Beschäftigten. Und um das deutsche Beispiel zu nehmen: Wer könnte schon behaupten, die in der Bundesrepublik in großer Zahl zu findenden Wanderarbeiter oder Saisonarbeiter ausländischer Nationalität seien in die Tätigkeit der hiesigen Gewerkschaften einbezogen? Es gibt nur bescheidene Geh-versuche in dieser Richtung.

Verlieren die Gewerkschaften ihren gesellschaftsgeschichtlichen Rang, weil sie keine Chancen haben, über ihre nationalen Beschränktheiten hinauszukommen? Weil standortfixierte Interessenvertretung der Arbeit den Operationen eines international mobilen Kapitals sich nur ohnmächtig unterwerfen kann?

Sind Gesellschaftsbilder und Handlungsfelder der „normalen“ und „ehrenamtlichen“ gewerkschaftlichen und betrieblichen Aktivisten zwangsläufig nationalborniert – und die internationalen gewerkschaftlichen Repräsentationen oder Büros nur eine Spielwiese für Spitzenfunktionäre und Profis, mit Alibicharakter?

Bei nüchterner Betrachtung kommt man jedenfalls nicht um folgende Einsicht herum: Für den durchschnittlichen gewerkschaftlichen Alltag hier und heute hat Internationalismus kaum einen Stellenwert.

Wer sich die Mühe macht, in Dokumente aus der Geschichte der Gewerkschaften in der Epoche ihres Aufstieges hineinzusehen, also in Berichte und Protokolle aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, kommt zu einem zunächst verblüffenden Resultat des Nachforschens: Ganz anders als in der Gegen-wart war das solidarische Interesse an der Lage, den Zielen und den Kämpfen der Arbeiterorganisationen in anderen Ländern ein selbstverständlicher Bestandteil des jeweiligen nationalen Diskurses der Branchengewerkschaften. Keineswegs war das Postulat „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ bereits verwirklicht, aber es galt perspektivisch. Aus einer Fülle historischer Quellen lässt sich erschließen, wie damals versucht wurde, über den Stand der Organisierung von Arbeitern in anderen Nationen zu informieren, über Arbeitskonflikte dort zu berichten, internationale Kontakte herzustellen, bei Streiks oder Aussperrungen quer zu den nationalen Grenzen Unterstützung zu geben, auch finanziell zu helfen. In einigen Branchen, so bei den Bau- und Holzarbeitern, war Mobilität über die Landesgrenzen hinaus ziemlich verbreitet, und es gab deshalb Ansätze für eine internationale gewerkschaftliche Mitgliedschaft. Bei den nationalen Gewerkschaftskonferenzen traten Delegierte der Arbeiterorganisationen anderer Länder auf – und das nicht als „Tagungstouristen“, sondern um Vereinbarungen über gemeinsames Handeln zu erreichen. Für die gewerkschaftliche Basis greifbare Absichten und Forderungen mit inter-nationalem Inhalt wirkten mobilisierend: Die länderübergreifende Inanspruchnahme des 1. Mai als Tag der Demonstration von Arbeiterinteressen, der länderübergreifende Kampf für den Achtstundenarbeitstag. Das alles war kein Internationalismus zur Ablage in Vorstandsakten, sondern Ausdruck eines Gesellschaftsbildes, das den Mitgliedern der Gewerkschaften als Spezifikum der Arbeiterbewegung galt: Die Internationalität war es, die Menschenrechte erkämpfbar machen konnte.

Zweifellos standen auch damals pragmatische Auseinandersetzungen um Löhne und Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt der gewerkschaftlichen Tätigkeit. Aber sie hatten ihre Bezugspunkte in einem gedanklichen Bestand der Arbeiterbewegung insgesamt, der – bei aller Vielfalt und manchen Differenzen – als Konsens enthielt, dass die Gesellschaft durch den Konflikt sozialer Klassen bestimmte werde und der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte sein dürfe.

Es wäre falsch, den Zustand der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften in Deutschland und in anderen europäischen Ländern in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu glorifizieren. Aber im Vergleich zur heutigen Situation sticht der so gar nicht „abgehobene“, für die Basis der Arbeiterorganisationen greifbare Internationalismus der damaligen Epoche hervor. Das Jahr 1914 bedeutete den Bruch mit dieser hoffnungsvollen Linie der Entwicklung. Den imperialistischen Machtgruppen – nicht nur in Deutschland – gelang es, Teile der Arbeiterbewegung und insbesondere ihrer Führungsgruppen in „nationale Verantwortung“ zu nehmen. Die Arbeiterorganisationen gerieten in einen langanhaltenden Prozess der Spaltung, auch der Internationalismus der Gewerkschaftsbewegung zerfiel, eine Politik gewerkschaftlichen „Burgfriedens“ mit dem scheinbar nationalen Kapital zum Zwecke der angeblichen „Standortverteidigung“ – im Krieg oder im „Weltmarktringen“ – wurde zur Attraktion bis heute hin. Es bedarf eines hohen Aufwandes von gesellschaftspolitischer Aufklärung und innerorganisatorischer Konfliktfähigkeit, um klarzustellen: Gewerkschaftliche Ausrichtung auf nationale „Standort“-Kommandos hat katastrophale soziale Folgen.

Wer gewerkschaftlichen Internationalismus wiederbeleben will, darf die Schwierigkeiten auf einem solchen Weg nicht unterschätzen: Die Unterschiede in den Traditionen und Strukturen von Arbeitnehmerinteressenvertretungen in den einzelnen Nationen (auch der Europäischen Union), politische Differenzen auch in den Gewerkschaften, kulturelle (auch sprachliche) Barrieren, die Beharrlichkeit nationalistischer Mentalitäten. Zweifellos ist aber ein gewerkschaftlicher Internationalismus nicht zu entwickeln über Pflichtübungen von Vorstandsverwaltungen, er setzt Erfahrungen der Gewerkschaftsmitglieder voraus, Meinungsaustausch über die Grenzen hinweg, gemeinsame Aktionen bei konkreten Konflikten, länderübergreifende Kampagnen in Streitfällen mit der Kapitalseite. Der Blick zurück zu den Ursprüngen internationaler gewerkschaftlicher Zusammenarbeit kann dabei hilfreich sein.

Zwei Erkenntnisse sind es vor allem, die sich im Material der Geschichte abzeichnen. Erstens: Praxisrelevanz hat eine internationale Perspektive gewerkschaftlich dann, wenn sie im Zusammenhang von Arbeitskämpfen sich entwickelt oder im Kontext einer Kommunikation über Arbeitsverhältnisse, Arbeitsqualifikationen und betriebliche Konflikte in spezifischen Branchen oder transnationalen Konzernen. Der internationale Aus-tausch unter denjenigen Gewerkschaftsmitgliedern, die nicht hauptamtlich für die Organisation tätig sind, braucht einen neuen Aufschwung, und er ist nur „lebensnah“ machbar. Auch bei knapper Kassenlage geben die Gewerkschaftsvorstände Geld aus; weshalb soll nicht durchzusetzen sein, dass sie einiges davon in internationale Kontakte von aktiven Mitgliedern und Vertrauensleuten investieren? Und weshalb sollte es nicht erreichbar sein, dass internationale Projektgruppen bei länderübergreifenden Arbeitskonflikten zu selbstverständlichen Formen gewerkschaftlichen Agierens werden? Allerdings sind da viele bürokratische Gewohnheiten in den Gewerkschaften aufzubrechen.

Zweitens: Gesellschaftspolitisches Engagement kommt am ehesten dann zustande, wenn es einen das Detail übergreifenden Horizont hat – was nicht heißt, es müsse sich um eine geschlossene Ideologie handeln.

Das ist auch so bei Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern. Zum Beispiel: Gewerkschaftliche Forderungen nach länderübergreifenden Mindeststandards für Löhne sind anziehungsfähig und können Bewegung hervorbringen, wenn sie sich mit der Aufforderung zu einer gesellschaftlichen Debatte verbinden: Weshalb breitet sich unter dem Kapitalismus Armut auch in hochvermögenden Staaten aus? Welche Interessen herrschen im globalisierten Kapitalismus? Wie sollen wir leben, wenn es nach dessen Willen läuft? Wollen wir so leben? Gibt es Alternativen dazu? Keine dieser Fragen ist national zu beantworten.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.