EU-Referendum: Nein zum Europa der Bosse

Am 29. Mai stimmen die Franzosen über die EU-Verfassung ab. Die Menschen kämpfen in mehr als tausend Initiativen für ein Nein.

Das Nein zum neoliberalen Europa erhält in allen Meinungsumfragen die Mehrheit – sechs Wochen vor der Abstimmung lag es in der 15. Meinungsumfrage bei 56 Prozent. Bleiben wir vorsichtig: Der „wissenschaftliche“ Wert dieser Umfragen ist begrenzt, doch zweifellos spiegeln sie eine allgemeine Tendenz wider. Und diese Tendenz ist von Woche zu Woche steigend, obwohl fast alle Medien – Fernsehen, Radio, Zeitungen, selbst die führende Tageszeitung Le Monde, die den Ruf hat, „objektiv“ zu sein – für das Ja trommeln. Der jüngste Fernsehauftritt von Chirac hat das Nein noch einmal gestärkt: Dem Präsidenten fiel es schwer, zu verstehen, dass die jungen Menschen, die vom Fernsehen handverlesen worden waren, ihn zu befragen, nicht sehr enthusiastisch auf die Zukunftsperspektiven reagierten, die ihnen die neoliberale EU im Allgemeinen und die konservative Raffarin-Regierung im Besonderen bietet: Arbeitslosigkeit, Armut und Unsicherheit.

Wir erleben in dieser Kampagne für das Nein eine große Mobilisierung der Linken. Landesweit haben Aktivisten mindestens tausend lokale Komitees gegründet. Auf der Linken haben sich alle politischen Kräfte, Gewerkschaften, Netzwerke und Bewegungen um den Kampf für das Nein zusammengeschlossen und handeln gemeinsam. Allein in den größeren Städten haben bisher an die 2000 Veranstaltungen stattgefunden. Darüber hinaus findet die Kampagne vor dem Hintergrund anhaltender sozialer Mobilisierungen statt, vor allem im öffentlichen Dienst, in den Häfen und an den Gymnasien. Anders als üblicherweise bei Wahlen drehen sich die Debatten nicht um die zu wählenden „Köpfe“, sondern um den Inhalt. Man ist erstaunt über das hohe politische Niveau auf den Veranstaltungen. Die Anhängerinnen des Nein argumentieren wirklich mit dem Verfassungstext. Die Anhänger des Ja suchen ihre Argumente an anderen Orten. Sie sagen, wer gegen die Verfassung ist, sei gegen Europa, für die extreme Rechte, für das Chaos, für den Krieg usw. Selbst die Führung der Sozialistischen Partei übernimmt diese Scheinargumente. Sogar der Jungfernflug des Airbus 380 Ende April in Toulouse und die Gedenkfeiern zum 8.Mai müssen als Argumente für das Ja herhalten.

Trotz der verbleibenden Unsicherheiten stellen wir uns schon die Frage, wie es nach dem 29. Mai weiter gehen soll, wenn das Nein sich durchsetzt. Was machen wir, nachdem wir auf der Place de la Bastille und in allen Städten der Provinz gefeiert haben werden?

Selbst die Rechten sehen, dass es eine reale Dynamik für ein linkes Nein gibt. Der französische Innenminister verspricht für diesen Fall einen Regierungswechsel, um die Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufzufangen, die sich in einem Nein entladen kann. Die EU-Kommission überlegt bereits Alternativszenarien. Sie will die geplanten Volksabstimmungen in den Niederlanden und in Großbritannien in diesem Fall absagen.

Ein Sieg des Nein würde die Debatte über die Zukunft der EU neu anstoßen.

Am 19. März in Brüssel war das schon spürbar: Hier dominierte das Nein zur Dienstleistungs-Richtlinie und das Nein zur Verfassung. Das europäische Netzwerk Transform und die Stiftung Copernic haben am 3. April in Paris eine europäische Versammlung für das Nein und für ein anderes Europa organisiert. Menschen aus mehr als 15 Ländern sind der Einladung gefolgt. Attac Deutschland hat eine Kampagne gestartet, das französische Nein zu unterstützen.

In Athen hat es anlässlich der Ratifizierung der EU-Verfassung im Parlament eine Demonstration zur Unterstützung des Nein gegeben. Das französische Nein kann die Karten in Europa neu mischen.

Die Menschen in den meisten Mitgliedstaaten der EU werden allerdings nicht das Recht haben, demokratisch über die EU-Verfassung abzustimmen. Die Unterstützer des Nein hoffen deshalb, dass ihre Stimme im französischen Nein Ausdruck findet. Wir werden sie nicht enttäuschen.

Die Debatte um Alternativen für ein anderes Europa muss jetzt auf europäischer Ebene geführt werden. Das Europäische Sozialforum in Athen bietet eine hervorragende Gelegenheit dazu.

Der erste Schritt dahin ist ein europäischer Aufruf für das Nein – er soll denen widersprechen, die behaupten, Frankreich wäre isoliert, falls das Nein sich am 29.Mai durchsetzten sollte. Tatsächlich sind es die Anhänger des Ja, die Tag für Tag mehr in Frankreich und in ganz Europa isoliert sind.

Sie wollen nur eine große Freihandelszone. Wir wollen ein demokratisches, soziales, solidarisches und friedliches Europa. Jetzt haben wir die Chance, uns gegen ein Europa für die Konzerne und Reichen zu wehren.

Auch wenn wir es nicht schaffen, haben wir eines erreicht: Überall in Europa ist das Bewusstsein gewachsen, dass der Neoliberalismus nicht die Zukunft der Menschheit ist.

Von Michel Rousseau

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