Bolivien: Die Lunte brennt

Mit Massenprotesten haben die Bolivianer zum zweiten Mal den Präsidenten gestürzt. Jetzt haben sie die Chance, die Herrschaft der Konzerne zu sprengen.


Die Minenarbeiter protestieren gegen die neoliberale Politik der Regierung. Mit Dynamit kämpfen sie gegen die gewalttätige Polizei

„Am 30. Mai kamen 10.000 Arbeiter und Straßenhändler herunter nach La Paz. Sie trugen ein Transparent der Arbeitervereinigung von El Alto vor sich her, und ihr Kommen wurde von Dynamitexplosionen angekündigt“, schreibt der Journalist James Lehrer in der bolivianischen Hauptstadt La Paz.

Die Demonstranten waren wütend auf den damaligen Präsidenten Mesa. Er hatte im März versprochen, Öl- und Gaskonzerne zu enteignen und die Industrie zu verstaatlichen.
Doch Mesa brach sein Versprechen und machte weiter Politik für Konzerne. Am 6. Juni musste er zurücktreten.

Vier Wochen hatten die Menschen im ganzen Land gegen ihn gestreikt und demonstriert. „Der Kampf gegen die Regierungspolitik hat eigentlich schon vor fünf Jahren begonnen“, meint Mike Gonzales, Professor für Lateinamerikastudien an der Universität von Glasgow.
„Damals wurde das Wasser in der Region Cochabamba privatisiert. Die meisten Bewohner der Stadt sind Arbeiter, die nicht viel Geld haben.
Nach der Privatisierung wurde das Wasser sehr teuer. Dagegen haben sie sich gewehrt.
Im Protest haben sich Kleinbauern und Arbeiter zusammengetan. Sie haben gekämpft, bis das Wasser wieder verstaatlicht wurde.“.

Schon 2003 haben die Bolivianer Präsident Lozada gestürzt, weil er seine Versprechen brach. Die Menschen hassen die Regierung und die Konzerne, weil sie von ihnen gezwungen werden in großer Armut zu leben.

Mitte der 80er Jahre konnten viele Bauern nicht mehr überleben. Sie mussten in den Städten für sehr niedrige Löhne für ausländische Konzerne arbeiten oder wurden arbeitslos.

1986 arbeiteten 117.000 Menschen in der städtischen Industrie. 1995 waren es 231.000. 1997 gab es fast so viele Arbeiter wie Bauern. Von 1997 bis 2000 stieg die Arbeitslosigkeit von 7,6 auf 11,4 Prozent.

Durch das Wachstum der Arbeiterklasse wurde auch die Macht der Arbeiter größer. Weil Bolivien wirtschaftlich vom Export abhängig ist, konnten sie die Regierung und Konzerne durch Streiks und Proteste unter Druck setzen.

Obwohl Bolivien riesige Vorräte an Erdöl und Erdgas hat, sind die Menschen dort ärmer als in allen anderen Ländern des Kontinents. Die Bolivianer verdienen durchschnittlich 1000 Euro im Jahr.

An den Rohstoffen verdienen nur die multinationalen Konzerne. Die Regierung hat die Erdöl- und Erdgasindustrie privatisiert und an ausländische Firmen verkauft. Die Konzernbosse investieren in den Ausbau der Rohstoffindustrie und verlangen dafür niedrige Exportsteuern von der Regierung.

Bolivianische Firmen können sich nicht gegen die Konkurrenten aus dem Ausland durchsetzen. Besonders in den ärmsten Regionen des Landes wehren sich die Menschen seit einigen Jahren dagegen, dass sie von diesem System unterdrückt werden.

„Das Zentrum der Proteste im Juni war El Alto, eine Stadt oberhalb von La Paz. Dort leben fast nur Ureinwohner, die meisten davon sind verarmt. Als Mesa das Erdgas und das Öl privatisieren wollte, waren die Bewohner entschlossen zu kämpfen“, erzählt Mike.

Auch in den anderen Ländern Lateinamerikas werden die Menschen durch das System unterdrückt. Obwohl sich die Wirtschaft auf dem Kontinent insgesamt seit 1996 positiv entwickelt hat und die Produktion steigt, gibt es immer mehr Arbeitslose.

In vielen Ländern haben die Menschen linke Regierungen gewählt, weil sie sich von ihnen mehr soziale Gerechtigkeit erhoffen. Die meisten linken Regierungschefs, wie der brasilianische Präsident Lula da Silva, halten ihre sozialen Wahlversprechen nicht, sondern machen neoliberale Politik.

In sechs lateinamerikanischen Ländern hat die Bevölkerung Regierungen gestürzt, weil sie sie verraten haben. Die Menschen wollen, dass die Gewinne endlich gerechter verteilt werden.
Die Bolivianer fordern, die Rohstoffindustrie wieder zu verstaatlichen und die Gewinne an die Menschen zu verteilen. Mitte Mai stimmte das Parlament darüber ab, ob die Konzerne mehr Steuern für den Gasexport zahlen sollten. Mesa stimmte dagegen.

Die Menschen organisierten daraufhin landesweit Massendemonstrationen, Streiks und Straßenblockaden. Gewerkschafter, Minenarbeiter, Lehrer, Studierende, Bauern, Schüler, Angestellte im Gesundheitswesen und vor allem organisierte Ureinwohner Boliviens kämpften gemeinsam für die Verstaatlichung der Gasvorkommen.

„Die Bolivianer haben aus der Vergangenheit gelernt“, sagt Mike. „Sie haben viele politische Führer erlebt, die ihnen Versprechungen gemacht haben und dann Politik gegen sie gemacht haben. Sogar Evo Morales von der Partei „Bewegung für den Sozialismus“ hat sie nicht unterstützt.
Er hat früher als Führer der Koka-Bauern Proteste gegen die Regierung organisiert. Die Koka-Bauern haben meistens keine andere Lebensgrundlage als ihre Kokapflanzen. Seitdem die US-Regierung den „Kampf gegen Drogen“ führt, haben viele gar nichts mehr“, erklärt Mike.
„Als Morales dann selbst im Parlament saß, hat er sie verraten. Anstatt für die Verstaatlichung der Rohstoffe zu kämpfen, hat er für höhere Steuern für die Konzerne plädiert.“

Die Leute kamen aus dem ganzen Land, um vor dem Regierungsgebäude in La Paz gegen die unsoziale Politik der Parlamentsabgeordneten zu protestieren. „Tausende Koka-Farmer erreichten La Paz, um sich den 10.000 anzuschließen, die schon dort waren“, schreibt der Journalist Luis Gomez. „Eine Gruppe Jugendlicher trug zwei Puppen, die Mesa und den Kongressvorsitzenden Hormando Vaca Diaz darstellten. Nachdem sie eine Stunde durch die Innenstadt marschiert waren, zündeten sie sie an.“

Einen Tag vor Mesas Rücktritt protestierten mindestens 500.000 Menschen auf den Straßen von La Paz. Sie riefen: „Gemeinsam sind wir unbesiegbar.“

Mesa hetzte die Polizei auf die Demonstranten, die mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen angegriffen wurden. Viele Minenarbeiter hatten Dynamitstangen mitgebracht, mit denen sie sich gegen die Angriffe wehrten
Mesa floh aus dem Regierungsgebäude. „Die Bewegung war so erfolgreich, weil sie wirklich eine Bewegung von unten war“, meint Mike.
„Die gesamte Bevölkerung hat gemeinsam gegen die neoliberale Politik der Regierung gekämpft. Ich glaube, in Bolivien kann eine echte Demokratie entstehen, weil die Leute wissen, dass sie jede Regierung stürzen können.“

Doch die Herrschenden werden ihnen die Macht nicht überlassen, sondern die Bewegung mit allen Mitteln bekämpfen. Schon bei den ersten großen Protesten 2000 wurden über 60 Demonstranten von der Armee und der Polizei ermordet.

Für die Bolivianer stellt sich die Frage, wer das Land regieren soll. In El Alto und anderen Städten beginnen die Menschen, sich selbst in Nachbarschaftskomitees zu organisieren und darüber zu diskutieren, ob die Bevölkerung das Land selbst regieren kann.

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