Der Aufstand der Ausgegrenzten

Die Jugendlichen in den französischen Vorstädten wehren sich gegen Armut und Rassismus. Einwanderungsexperte Professor Werner Schiffauer im Gespräch mit Linksruck.


Löscharbeiten im Pariser Vorort Aulnay-sous-Bois. Der französische Innenminister Sarkozy sagte nach dem Beginn des Aufstandes, er wolle „den Abschaum wegspülen”. Er meinte die Bewohner der Vorstädte.

Werner Schiffauer ist Autor zahlreicher Bücher über Einwanderung. Er lehrt an der Europa-Universität in Frankfurt an der Oder.

Der SPIEGEL verbindet den Aufstand in Frankreich mit den Anschlägen in der Londoner U-Bahn-Anschlägen und redet von einer „Generation Dschihad“. Tobt in Frankreich ein Religionskrieg?

Nein. Hier werden zwei völlig unterschiedliche Dinge zusammengeworfen. In Frankreich läuft zurzeit ein Gettoaufstand.
Träger sind Jugendliche, die gerne ein integrierter Teil der Gesellschaft wären. Das wird ihnen verwehrt.
Sie haben schlechte Bildungschancen. Selbst mit Ausbildung bekommen sie keinen Job. Sie haben Wut auf das System, die sich jetzt in Gewalt entlädt.
Die Dschihadisten hingegen sind oftmals in einer privilegierten Situation. Ihre Meinungsführer sind Studierende, ähnlich wie bei der radikalen Linken. Sie sind offen für Utopien, für Fragen der Gerechtigkeit, für radikale Opposition.
Sie suchen eine Ideologie, die ihrer Unzufriedenheit mit diesem System Ausdruck verleiht und finden sie im radikalen Islam. Den ganz harten Kern führt dieser Weg bis zum Terrorismus.
Das sind unterschiedliche Prozesse. Der jetzige Aufstand in Frankreich ist mit den Revolten in den US-amerikanischen Schwarzengettos in den 60er Jahren zu vergleichen, nicht mit den Terroranschlägen radikaler Islamisten.

Diese „Wut auf das System“ ist in den Vorstädten explodiert. Warum dort?

In den Vorstädten leben hauptsächlich Einwanderer und ihre Kinder. Vor 30 Jahren wurden diese Vorstädte speziell für Einwanderfamilien gebaut: reine Wohnstätten, abgekoppelt vom Arbeitsplatz, vom kulturellen Leben, von Konsummöglichkeiten.
Diese Konzentration in Trabantenstädten konzentriert auch die Folgen der sozialen Krise in Frankreich besonders stark in den Banlieues. Von dieser Krise sind alle Franzosen betroffen, Einwanderer und ihre Kinder aber in besonderem Maße.
Einen Tag vor Beginn der Proteste wurde eine neue Studie über die soziale Situation in den Vorstädten veröffentlicht. Die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich liegt bei 23 Prozent – unter Migranten beträgt sie 36 Prozent. Jeder dritte Abiturient ist Arbeitslos.
Bewerber aus den Vorstädten haben eine fünfmal geringe Chance zu Vorstellungsgesprächen eingeladen zu werden, als Bewerber aus den „besseren Vierteln“. Dem Gros der Vorstadtbewohner steht nur etwas mehr als die Hälfte des Durchschnittseinkommens zur Verfügung.
Das ist die soziale Situation. Dazu kommt die Alltagserfahrung mit dem Staat, insbesondere der Polizei. Diese Erfahrung ist eine von rassistischer Diskriminierung.
Jugendliche arabischer oder afrikanischer Herkunft werden ohne Grund von der Polizei kontrolliert. Ihr Aussehen reicht für einen Verdacht.
Damit widerspricht die Alltagserfahrung der Migranten der offiziellen französischen Staatsideologie, dem Republikanismus. Der Republikanismus betont die Gleichheit aller französischen Staatsbürger.
Migrantenkinder sind fast durchweg französische Staatsbürger. Sie sprechen auch durchweg französisch, da ihre Eltern hauptsächlich aus ehemaligen französischen Kolonialgebieten kommen, wo französisch Amtssprache war.
Doch gleich behandelt werden sie vom Staat nicht, eher wie der „Feind im Inneren“. Diese Spannung zwischen Versprechen und Realität entlädt sich jetzt gegen den Staat.

Warum sind Migranten besonders von der sozialen Krise betroffen?

Die wachsende Ungleichheit und Abkoppelung der Migranten ist Folge dessen, was wir als Globalisierung kennen. Die Integration von Migranten erfolgte zuallererst über den Arbeitsmarkt, über Jobs.
Das war, in Frankreich wie in Deutschland, die Schwer- und Leichtindustrie. Mit der fortschreitenden Deindustrialisierung sind diese klassischen Migrantenjobs weggefallen, weil Konzerne Fabriken dichtmachen oder die Produktion woanders aufbauen. Dadurch ist die Arbeitslosigkeit unter Migranten überproportional gestiegen.

Verhindert die neoliberale Globalisierung die Integration von Einwanderern?

Das hängt schon zusammen. In dem Prozess der wirtschaftlichen Veränderung wurden auch Organisationen, über die Integration erfolgte, geschwächt und verändert. Die Gewerkschaften waren für Integration zentral.
Die internationalistische Ausrichtung, die die Arbeiterbewegung traditionell hat und die Tatsache, dass Gewerkschaften entlang der gesellschaftlichen Bruchlinie von Kapital und Arbeitern organisieren, hat Migranten reinorganisiert in die größeren sozialen Auseinandersetzungen. Dort spielte die Frage der Herkunft keine große Rolle. Heute sind die Gewerkschaften aufgrund des ökonomischen Wandels geschwächt und spielen diese Rolle nicht mehr so sehr.
Auch die klassischen Arbeiterparteien, wie die Sozialdemokraten, haben durch ihren Kurswechsel hin zu neoliberaler Politik an Bindekraft verloren. Weil Migranten durch die schlechte Jobsituation besonders auf staatliche Hilfe angewiesen sind, treffen sie Einschnitte im Sozialstaat besonders hart.
Diese Einschnitte wurden auch von sozialdemokratischen Regierunge wie zum Beispiel der Regierung Jospin organisiert. Das führt natürlich zu einer Enttäuschung. Das Vertrauen in das politische System sinkt. Die Folgen sind jetzt zu sehen.

Im Umkehrschluss würde das heißen, das eine wieder erstarkte Arbeiterbewegung, die Migranten und Nichtmigranten vereint, eine Antwort auf die Ausgrenzung wäre.

Im Prinzip schon. Ich bin aber skeptisch, dass die Gewerkschaften diese Rolle noch mal spielen können. Mir sieht es nicht so aus, als gäbe es im gewerkschaftlichen Bereich eine Antwort auf die wirtschaftlichen Veränderungen im Zuge der Globalisierung.

Politiker in Frankreich und Deutschland sagen, viele Migranten wollen sich gar nicht integrieren, sondern in „Parallelgesellschaften“ abschotten.

Dieses Gerede von den „Parallelgesellschaften“ macht mich wütend, weil es überhaupt nicht die reale Ausgrenzung von Migranten durch die Mehrheitsgesellschaft thematisiert. Die Abschottung läuft andersrum.
Es ist bei gleichen Noten schwieriger, als türkischer Jugendlicher einen Ausbildungsplatz zu kriegen, als als Deutscher. Es ist schwieriger, als Türke eine Wohnung im Berliner Villenbezirk Zehlendorf zu bekommen, als als Deutscher.
Laut einer Studie würden mehr Ausländer einen deutschen Partner heiraten als Deutsche einen ausländischen Partner. Migranten werden ausgegrenzt.
Auf diese Ausgrenzung reagieren ausländische Gemeinden mit Ansätzen von Selbstorganisation. Da türkische Kinder in der Schule durchfallen, bieten die Moschee-Gemeinden Nachhilfe an. Da die Arbeitsämter mit der Berufsqualifizierung hoffnungslos überlastet sind, werden über Moscheen unter anderem Computerkurse angeboten.
Auf die zeigen Politiker jetzt mit dem Finger und sagen: „Ihr baut eine Parallelgesellschaft auf“. Dabei würde diese Selbstorganisation gar nicht benötigt, würden Migranten nicht vom Staat im Stich gelassen.

Der französische Innenminister Sarkozy hat angekündigt, mit Härte gegen den Aufstand vorzugehen.

Natürlich ist es möglich, den Aufstand durch massive staatliche Gewalt zu ersticken. Doch damit ist weder das Problem gelöst noch die Gewalt weg.
Sie wird weitergehen, in Form der Selbstzerstörung innerhalb der afrikanischen und arabischen Gemeinde, in Form von Kriminalität, Rauschgiftkonsum und Ähnlichem. Schon jetzt brennen ja hauptsächlich die Autos der Vorstadtbewohner. Ihre Schulen stehen in Flammen.
Diese brennenden Autos sind ein Signal der Ausgegrenzten an die Gesellschaft. Sie sind normalerweise unsichtbar und haben das Gefühl, anders als durch Gewalt überhaupt nicht mehr wahrgenommen zu werden.
Bisher haben Politiker diese Signale ignoriert und die Situation verschlechtert, statt verbessert. Jetzt wird wieder vom „Kampf der Kulturen“ geredet, der Westen gegen die Einwanderer, der Islam gegen die Christen.
Wenn die Politiker selber die Auseinandersetzung so beschreiben, müssen sie sich nicht wundern, wenn die Ausgegrenzten anfangen, diese Zuschreibung zu akzeptieren und zu sagen: „Ja, wir sind Einwanderer. Ja, wir stehen zum Islam.“ Die Ausgrenzung ist die Ursache der Abgrenzung der Migranten, die dann wieder beklagt wird.
Es wird keine Entspannung ohne eine wirkliche soziale Perspektive für die Ausgegrenzten geben, ob in Frankreich oder hier. Das ist die Lehre aus dem Aufstand in Frankreich, und nicht der Ruf nach dem starken Staat.

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