Modell für eine andere Welt?

Jan-Peter Herrmann über das Venezuela unter Hugo Chávez.

„Die Zahl der Revolutionäre wächst, es wachsen auch ihre Kampfeslust und ihr Bewusstsein. Und das ist als der größte Sieg des venezolanischen Prozesses zu verstehen. Das definiert ihn als Revolution. Noch sind die sozial-ökonomischen Veränderungen begrenzt, aber das Bewusstsein der Hauptakteure der neuzubildenden Gesellschaft hat sich enorm verändert.“
Marta Harnecker (Beraterin von Hugo Chávez), Januar 2003.

Als Venezuelas Präsident Hugo Chávez im April 2002 kurzzeitig aus dem Amt geputscht wurde, zeigten die Medien, wie die US-Regierung die neue venezolanische „Zivilregierung“ unter dem Präsidenten des Unternehmerverbandes Carmona freudig anerkannte und nahezu die gesamte Weltpresse die Rückkehr zu „Stabilität“ und „Ordnung“ in Venezuela feierte.1

Organisiert wurde der Putsch von Teilen der herrschenden Wirtschaftselite, dem Management der staatlichen Erdölgesellschaft PdVSA, Teilen des Militärs sowie Teilen des korrupten Gewerkschaftsdachverbandes CTV. Mittlerweile ist erwiesen, dass auch Spanien und die USA den Putsch unterstützt haben.

Dass Chávez nur 48 Stunden später wieder im Amt war, wurde von der Presse zwar erwähnt. Die Umstände jedoch, unter welchen dies passierte, kamen nur am Rande vor. Tatsächlich zogen hunderttausende verarmte Slumbewohner, Straßenverkäufer, Fabrikarbeiter, Hausmädchen, LKW-Fahrer usw. von den Hügeln hinab in die Hauptstadt Caracas, umzingelten den Präsidentenpalast, und riefen „Er hat nicht abgedankt, sie haben ihn entführt!“.2 Die Massen zwangen die Putschisten aufzugeben und zu fliehen.3

Der Name Hugo Chávez ist mittlerweile in aller Munde. Linke rund um den Globus und vor allem in Lateinamerika feiern ihn als den Helden der Armen, er erntete tosenden Beifall, als er auf dem Weltsozialforum den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ankündigte und zum Widerstand gegen den US-Imperialismus aufrief. Der „Bolivarianische“ Prozess in Venezuela hat das Land zu einem Modell für eine andere Welt gemacht.

Was passiert in Venezuela?

Venezuela ist als fünftgrößter Erdölexporteur der Welt, der an den Öleinfuhren der USA 15% hält, ein sehr reiches Land. Gleichzeitig existiert in Venezuela kaum vorstellbare soziale und wirtschaftliche Ungleichheit. Zwischen 1958 und 1998 betrugen die Erdöleinnahmen der PdVSA ca. 300 Milliarden US-Dollar, während 1995 66% der Venezolaner in Armut und 35% in extremer Armut lebten.4 Die Landverteilung in Venezuela ist eine der ungleichsten der Welt: 2% der Landbesitzer verfügen über 60% des Ackerlandes.

Seit den 1920er Jahren ist der Ölsektor der dominante Sektor. In den Boom-Jahren der 1950er und 60er waren Zugeständnisse an die Arbeiter möglich, so dass in Venezuela eine Mittelklasse entstehen konnte, die größer als die der Nachbarstaaten war. Venezuela bekam den Spitznamen „die Schweiz Lateinamerikas“, in den USA sah man Venezuela als einen Ort, an dem nicht viel passierte und wo es billiges Öl gab. Doch selbst auf dem Höhepunkt des wirtschaftlichen Wohlstands fristeten viele Venezolaner ihr Dasein in bitterster Armut.

In den 70er Jahren begann in Venezuela eine tiefe Krise. Auf ihrem Höhepunkt Anfang der 80er Jahre wurde Venezuela auf neoliberalen Kurs gebracht. Dies bedeutete den fast kompletten Ausverkauf von Staatseigentum: Stromerzeuger, Transport- und Telekommunikationsfirmen, die beiden Fluglinien, Wasser- und Abwasserfirmen wurden verkauft. Gleichzeitig wurden Subventionen gekürzt, Arbeit flexibilisiert und die Preisbindung für Lebensmittel aufgehoben, was zu Preissteigerungen von bis zu 100% führte.5

Dies rief zunehmend Widerstand hervor. Ende der 80er Jahre kam es zu Studentenunruhen mit über 60 Toten. Am 27. Februar 1989, als vor allem Arbeiter und Angestellte des öffentlichen Dienstes morgens auf dem Weg zur Arbeit bemerkten, dass sich die Buspreise über Nacht verdoppelt hatten, brach ein spontaner Massenaufstand, der sogenannte „Caracazo“, aus. Busse wurden umgeworfen und angezündet, es kam zu Plünderungen. Hierbei ging es nicht nur um die Buspreise, sondern um die allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen. Die Revolte breitete sich schnell aus und griff von Caracas in andere Großstädte über, bis sie schließlich niedergeschlagen wurde. Während dieser Tage ermordete das Militär über tausend Menschen.

Der Caracazo war ein Auftakt für andere anti-neoliberale Revolten in Lateinamerika wie den Aufstand der Zapatisten in Mexiko 1994, die Massenrevolte gegen die Wasserprivatisierung in Bolivien und den Sturz der Regierung in Argentinien 2001.

Chávez’ Aufstieg zur Macht

Als Sohn einer Lehrerfamilie ging Hugo Chávez auf die Offiziersschule. Er wurde beeinflusst von der nationalistischen Tradition des Generals Velasco in Peru, Perons in Argentinien oder Nassers in Ägypten, einer Tradition, die eine nationale Befreiung von der Dominanz der USA sowie eine eigenständige Wirtschaft anstrebt und den Staat als Motor für die kapitalistische Entwicklung vorsieht. 1982 gründete er in den Offizierskasernen die Bewegung der „Bolivarianischen Revolution 200“, benannt nach dem lateinamerikanischen Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar.6

Chávez sagte 1996: „Die Bolivarianische Bewegung wurde vor 15 Jahren in den Kasernen geboren, als ein paar Soldaten zu der Einsicht gelangten, dass der Feind nicht Kommunismus, sondern Imperialismus heißt. Über viele Jahre arbeiteten wir hart und entwickelten nach und nach eine nationalistische, patriotische Bewegung, mit einem Bein in den Kasernen und dem anderen auf der Straße […] Das jetzige politische Modell ist tödlich verwundet, und es gibt keine andere gangbare Alternative, als mit dem bourgeoisen, neoliberalen System zu brechen, das in Venezuela seit 1945 herrscht […] In unserem Modell von Demokratie […] muss es direkte Demokratie geben, eine Regierung des Volkes mit öffentlichen Versammlungen und Kongressen, wo die Menschen das Recht haben, ihre gewählten Vertreter abzusetzen, zu ernennen, ihnen ihre Zustimmung zu geben, oder sie abzuberufen.“7

Bereits 1992 unternahm Chávez mit seinem Offizierszirkel einen Putschversuch, der fehlschlug, woraufhin er verhaftet wurde. Einen Auftritt im Fernsehen, der ihm zugestanden wurde, um seine Leute zur Aufgabe aufzurufen, nutzte er, um zu verkünden, dass die Welt ihn nicht zum letzten Mal gesehen habe und er weiterkämpfen werde. Damit sicherte er sich die Sympathie der Mehrheit der Venezolaner. 1994 wurde er begnadigt, kam frei und gründete das Wahlbündnis MVR8, mit dem er schließlich 1998 mit 56 Prozent der Stimmen die Wahl zum Präsidenten gewann.

Nach 40 Jahren der Herrschaft von zwei korrupten Parteien, die ein perfektioniertes Ausplünderungssystem betrieben hatten, kam plötzlich ein Soldat mit dunkler Hautfarbe an die Macht und stellte damit das politische System in Venezuela auf den Kopf. Die Armen feierten diesen Sieg als den ihren, zusätzliche Unterstützung erhielt er aus den verarmenden Mittelschichten, aber auch von Seiten einiger venezolanischer Unternehmer, die in Chávez eine Person sahen, die das Land stabilisieren könnte.

Die 56% bedeuteten ein Mandat für massive Veränderung. Die nach Monaten und unter Beteiligung aller Bevölkerungsschichten und Minderheiten erarbeitete neue Verfassung wurde 1999 in einem Referendum mit 72% der Stimmen angenommen. Im Jahr 2000 gab es erneut Präsidentschaftswahlen, woraufhin sein Mandat für sechs Jahre mit 59% der Stimmen verlängert wurde. 2004 brachte die rechte Opposition ein durch die neue Verfassung möglich gemachtes Referendum zu Chávez’ Abwahl ein, aber die Bevölkerung lehnte dies mehrheitlich ab. Chávez erhielt wieder 59% der Stimmen.

Bolivarianische Politik

Seit 1998 hat die Chávez-Regierung viel erreicht. In einem Land mit 25 Millionen Einwohnern haben 1,4 Millionen Erwachsene Lesen und Schreiben gelernt, so dass die UNESCO Venezuela kürzlich als frei von Analphabetismus erklärt hat. Drei Millionen Venezolaner, die vorher überhaupt keinen Zugang zu Bildung hatten, können ihren Schulabschluss nachholen oder studieren. Seit 1998 haben drei „Bolivarianische“ Universitäten eröffnet, bis Ende 2006 sollen noch sechs weitere hinzukommen. 70% der Bevölkerung haben zum ersten Mal Zugang zur Gesundheitsversorgung, 12 Millionen Venezolaner erhalten über Kooperativen und Verteilungslager der Regierung subventionierte Lebensmittel zu vergünstigten Preisen, eine Million erhält sie kostenlos. Etwa 700.000 neue Arbeitsplätze wurden geschaffen.

Das Trinkwassernetz wurde seit 1998 für zwei Millionen Menschen erweitert, der Mindestlohn wurde seit 1999 verdreifacht, die Rechte der Ureinwohner wurden gestärkt; innerhalb von zwei Jahren wurde der Bau von 92.000 Wohnungen gefördert, was dem Gesamtwert aller zwischen 1989 und 1998 gebauten Wohnungen entspricht9, und seit 2003 untersteht die PdVSA, die vom vorherigen Management auf eine Privatisierung vorbereitet worden war und völlig selbstständig operiert hatte, wieder einem Ministerium. 2004 hatte Venezuela ein Wirtschaftswachstum von 17,3% (Privatsektor: 18,6%; öffentlicher Sektor: 11%).

Durch die Erhöhung des Teils des Erdöls, den die ausländischen Erdölkonzerne an den venezolanischen Staat zu liefern haben, von 1% auf 16,66% seit Januar 2005, wird erwartet, dass die Nettoeinkünfte Venezuelas aus dem Erdölexport von 46 Millionen Dollar auf über 750 Millionen Dollar im Jahr 2005 steigen werden. Der Staatshaushalt für 2006 beträgt ca. 33 Mrd. Euro, wovon 41% in soziale Programme fließen sollen. Damit sind die öffentlichen Ausgaben seit 1998 verdreifacht worden.

Dafür steht Chávez, und dafür wird er verehrt: Er zeigt, dass man die angebliche Alternativlosigkeit der Globalisierung durchbrechen kann, dass Reformen eben doch durch- und umsetzbar sind.

Die meisten dieser Projekte laufen über die sogenannten ‚Misiones’ (Missionen). Die Koordinatoren werden von Chávez ernannt und sind ihm direkt verantwortlich. Geschaffen wurden die Misiones von der Regierung, weil sie effizienter funktionieren sollen als Programme, die von den Ministerien koordiniert werden. Sie bilden Freiräume, in denen die alte Staatsbürokratie umgangen und die sogenannte partizipative Demokratie in der Praxis eine Rolle spielen kann.

Neuerdings zeigt sich eine weitere Seite der partizipativen Demokratie. Die Chávez-Regierung überprüft derzeit ca. 700 Unternehmen. Diese sollen enteignet und von Arbeitern übernommen werden. Oft handelt es sich bei den Unternehmen um stillgelegte Betriebe, die seit dem Unternehmerstreik 2002/2003 nicht mehr produzieren. Laut Verfassung ist dies jedoch illegal. In solchen Fällen kann der Betrieb von der Nationalversammlung zum „öffentlichen Gut“ erklärt werden und darf enteignet werden. Allerdings erhält der Eigentümer eine dem Marktpreis entsprechende Entschädigung. Als nächstes wird dann von den Beschäftigten eine Kooperative gebildet, die den Betrieb dann zu 49 % besitzt (hierzu vergibt die Regierung teilweise zinslose Kredite), während 51 % in Staatshand wandern.

Zurzeit gibt es acht Fabriken in Venezuela, die von Arbeitern übernommen sind, doch erst bei zweien davon ist der juristische Weg der Enteignung abgeschlossen. Wie diese dann verwaltet werden, gestaltet sich bislang noch sehr unterschiedlich. Das Stichwort lautet „cogestión“, was soviel wie Mitverwaltung bedeutet, im Sinne einer paritätischen Besetzung der Firmenleitungen mit Vertretern der Arbeiter und der Regierung. Nachdem die Armee schon Anfang September einige Firmen übernommen hatte, wurden Ende September zwei weitere Firmen zu öffentlichem Eigentum erklärt, woraufhin die Arbeitsministerin María Cristina Iglesias die Arbeiter dazu aufrief, diese Unternehmen rückzuerobern“

Darüber hinaus ruft die Regierung die Bevölkerung dazu auf, geschlossene Betriebe zu melden, damit diese auf eine mögliche staatliche Übernahme hin überprüft werden können. Eine der nationalen Koordinatorinnen des Pro-Chávez-Gewerkschaftsverbandes UNT10, Marcela Máspero, meint dazu: erst besetzen wir, dann lösen wir die Eigentumsfrage.“

International engagiert sich Chávez in der OPEC mit dem Ziel stabiler und hoher Ölpreise. Er strebt eine Lateinamerikanische Freihandelszone an, die sozusagen das solidarische Gegenstück zum neoliberalen, auf deregulierte Profitmaximierung zugeschnittene und von US-Konzernen dominierte ALCA (FTAA – gesamtamerikanische Freihandelszone) sein soll.

Wie weiter?

Arbeiter haben unter Chávez auch einiges hinnehmen müssen, v.a. im öffentlichen Sektor: Er hat ein Streikverbot eingeführt für Forderungen, die den Staatshaushalt überschreiten. Dies war zwar gegen die Aussperrungen der Opposition gerichtet, doch wendeten sich einige Arbeiter daraufhin von ihm ab. Orlando Chirinos von der Gewerkschaft UNT meint, in Venezuela gebe es einen fentlichen Sektor, der so tut, als seien die Arbeiter und Angestellten glücklich, auch wenn sie es nicht sind.“ In einem Interview mit der Zeitung El Mundo sagte Chirinos Anfang Oktober 2005, dass Präsident Chávez „aufhören muss, unilaterale Erklärungen abzugeben in Bezug auf das Mindesteinkommen. Wir fordern dieses Mindesteinkommen bereits seit zwei Jahren, das Problem ist nur, dass die Arbeiter dieses Mindesteinkommen nicht landesweit erhalten.“ Der mittlerweile abgewählte Vorsitzende der Stahlarbeitergewerkschaft, Machuca, sagte in einem Zeitungsinterview ebenfalls Anfang Oktober, dass „Chávez sich von den normalen Leuten entfernt und nicht immer versteht, was gerade vor sich geht.“

Diese kritischen Bemerkungen deuten auf ein Problem in Chávez’ Verständnis von Sozialismus hin, nämlich dass er die Entwicklung hin zu radikalen gesellschaftlichen Veränderungen nicht in erster Linie als eine sich „von unten“ entwickelnde, sondern überwiegend als von oben gesteuerte Veranstaltung betrachtet. Tatsächlich bedeuten die Übernahme von Betrieben durch den Staat z.B. nicht notwendigerweise demokratische Arbeiterkontrolle, sondern nach jetziger Lage eher die Mitbestimmung durch Belegschaftsvertreter (und dies auch nicht überall). Außerdem sind diese Betriebe nach wie vor dem Markt und seinen Gesetzen unterworfen. Die Bolivarianischen Zirkel, die eine Art basisdemokratischer Verankerung der Regierung darstellen sollen, werden von der Regierung gelenkt und beeinflusst.

Außerdem setzt die Regierung durch Kredite und andere Anreize auf die Initiative aus dem privaten Sektor, um eine Verringerung der Arbeitslosigkeit herbeizuführen, statt ihre riesigen Geldmittel in ein öffentliches Investitionsprogramm zu stecken, das weitaus mehr Menschen zu einer Arbeit verhelfen könnte.

Das Bolivarianische Projekt vermittelt das Gefühl eines revolutionären Prozesses mit offenem Ausgang, nachdem es Millionen bisher randständiger Menschen ins gesellschaftliche Leben einbezogen hat. Gleichzeitig erinnert der Versuch der Regierung Chávez`, das Ziel nationaler Entwicklung im Rahmen eines „kontrollierten Kapitalismus“ zu erreichen, an eine klassische, aber immer wieder gescheiterte linke Reformpolitik. Es besteht der Versuch, den Nationalstaat durch zwischenstaatliche Kooperation in der Region dem Diktat des globalen Kapitals zu entziehen. Chávez will durch eine verbesserte Stellung Venezuelas auf dem Weltmarkt den Armen durch die Öleinnahmen mehr geben. Der Staat ist für ihn sowohl der Motor der Klassenaussöhnung als auch der Entwicklung des Landes.

Natürlich muss man Chávez immer gegen eine rechte Regierung der Bosse verteidigen. Seine Politik schwächt den Neoliberalismus in ganz Lateinamerika und darüber hinaus. Doch damit die sozialen Veränderungen weitergehen, muss den alten Eliten und ihren Verbündeten die Macht entrissen werden. Medien, Banken und große Dienstleistungsindustrien sind nach wie vor in den Händen der Bourgeoisie. Der alte kapitalistische Staats-apparat wurde nicht zerschlagen.

In der Erdölfrage ist Venezuela für die USA etwa so bedeutend wie Saudi Arabien. Im Zeitalter eines neuen Imperialismus, der nationale Grenzen und Souveränität in seinem Profitstreben nicht akzeptiert, wird es auch für Venezuela schwieriger werden, einerseits radikale Reformen durchzuführen und andererseits zu versuchen, gute Beziehungen zu den Kapitalisten im In- und Ausland zu unterhalten. Eine Senkung des weltweiten Ölpreises würde es Chávez schwer machen, die sozialen Reformen weiterzuführen.

Zentral ist daher die Frage, wie der Prozess insgesamt vertieft werden kann. Die Bewegung, die wir im Caracazo 1989 gesehen haben, die Bewegung, die den Putsch 2002 rückgängig gemacht hat, und die vielen lokalen Bewegungen heute, zeigen was möglich wäre. Sie sind die Kraft, die die Veränderungen in Venezuela dauerhaft machen könnten. Dafür muss der enorme Reichtum des Landes unter die demokratische Kontrolle der Mehrheit gebracht werden.

Die Chance besteht, dass in den Kämpfen, die unweigerlich bevorstehen, diese Kraft eine politische Alternative, die über Chávez hinausgeht, aufzeigt, und die venezolanischen Arbeiter und Armen die Macht der Eliten in Wirtschaft und Staat brechen.

Wenn wir die Erfolge der Linken in ganz Lateinamerika anschauen, Wahlerfolge, erfolgreiche Kampagnen gegen Privatisierungen, Stürze neoliberaler Regierungen infolge von Massenbewegungen usw., dann ist es durchaus möglich, dass der revolutionäre Prozess in Venezuela den Effekt hat, die Linke in Venezuela selbst, in Lateinamerika und weltweit zu stärken und zu ermutigen.

Fußnoten

1 Die ersten Maßnahmen dieser ‚Zivilregierung’ waren die Abschaffung der per Referendum abgestimmten Verfassung, die Auflösung des obersten Gerichts und des Parlaments, sowie die Verordnung, dass Chávez-Anhänger nicht mehr in den Medien gezeigt werden dürfen.
2 The New York Times, 18.04.2002.
3 In dem Dokumentarfilm „The Revolution will not be televised“, der den Putsch aus Sicht der Regierung Chávez darstellt, gibt es eine Szene, in der die Putschisten zusammen mit Journalisten auf einer Pressekonferenz ihre Machtergreifung mit Sekt begießen. Als sie aus dem Fenster blicken und die Massen sehen, begreifen sie nur langsam, was vorgeht. Als sie aber erkennen, wer sich da draußen versammelt, dauert es nicht lange und die Putschisten fliehen aus dem Präsidentenpalast. Kurze Zeit später wird Chávez mit einem Helikopter zurückgebracht. Der Film zeigt die beeindruckende spontane Explosion einer Bewegung, die in den Weltmedien ignoriert wurde.
4 Gonzalez, Mike: Venezuela: Many Steps to come, in: International Socialism 104, Oktober 2004, S. 65-94, hier: S. 67 ff.
5 Schmidtkunz, Franziska: Der „bolivarianische Prozess“ in Venezuela, Wien 2004, S. 5.
6 Der Name rührt daher, dass etwa 200 Jahre vergangen sind, seit Bolívar das sogenannte Groß-Kolumbien schuf (bestehend aus dem heutigen Kolumbien, Ecuador und Venezuela), welches er selbst nicht überlebte.
7 Zitiert nach: J. Raimondo: The New Bolívar, www.antiwar.com, 5. Januar 2001.
8 In diesem Wahlbündnis vertreten sind u.a. die MAS (Movimiento al Socialismo – Bewegung zum Sozialismus), die MEP (Movimiento Electoral del Pueblo – Wahlbewegung des Volkes), die PCV (Partido Comunista de Venezuela – die kommunistische Partei) sowie 5 weitere den Mittelstand und die Bauern vertretenden Parteien.
9 Schmidtkunz, S. 12.
10 Die UNT wurde im April 2003 als unabhängiger bolivarianischer Dachverband gegründet und hatte sehr schnell mehr Mitglieder als der oppositionelle Dachverband CTV.

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