Der Alptraum der Kriegstreiber

Im Frühjahr 1965 lehnte der französischePhilosoph Jean-Paul Sartre ab, bei einer Anti-Kriegskundgebung
in den USA zu sprechen. Die Begründung: Eine Rede sei "völlige
Zeitverschwendung
", denn "das politische Gewicht"
jener Amerikaner, die gegen den Krieg seien, "ist gleich
null"
.

Überhaupt erzeugte das Thema Vietnam keine größere
Aufregung. Die Verteidigung des korrupten Regimes in Südvietnam
gegen die von Kommunisten geführte Vietminh-Bewegung in Nordvietnam
unterschied sich für die USA nicht von der Verteidigung der
Herrschenden in Taiwan, Südkorea, Iran, Saudi-Arabien, Libanon,
Zaire oder Zentralamerika.

In Vietnam waren anfänglich nur 400 US-"Militärberater"
stationiert. Nach einem Aufstand gegen den südvietnamesischen
Diktator Diem 1962 ordnete US-Präsident J F Kennedy die "begrenzte"
Bombardierung des vietnamesischen Innenlandes mit Napalm und Splitterbomben
an.

Jetzt wurde der Vietcong populär. Zehntausende
schlossen sich der vietnamesischen Guerilla an.

LBJ

Szenenwechsel: Im November 1964 wurde der Demokrat
Lyndon Baine Johnson mit überwältigender Mehrheit zum
Präsidenten der USA gewählt.

Er hatte mit weitreichenden Reformversprechen, wie
zum Beispiel der Auflage eines milliardenschweren "Anti-Armut-Programms",
die Stimmen von Gewerkschaftern, linken Studenten und Schwarzen
gewonnen.

Doch die Hoffnungen wurden rasant enttäuscht.
Die Intervention in Vietnam wurde zum Bombardement, das Bombardement
zum Krieg. Die Johnson-Regierung pumpte das Geld nicht in die
Sozialsysteme, sondern in den Kampf um Vietnam.

Das US-Außenministerium erklärte Anfang
1965, warum:

"Die Situation in Vietnam verschlechtert
sich, und ohne ein verstärktes US-Engagement ist eine Niederlage
innerhalb des nächsten Jahres unabwendbar. Das internationale
Prestige der USA und ein beträchtlicher Teil unseres Einflusses
stehen in Vietnam auf dem Spiel…"

Eskalation

Die Regierung beschloß, den Krieg mit allen
Mitteln zu gewinnen. Am 6. März 1965 waren die ersten 10.000
Marines gelandet. Am Ende des Jahres waren es schon 210.000. Anfang
1967 hatten die USA 470.000 Soldaten in Vietnam.

Die US-Luftwaffe startete die Operation "Rolling
Thunder", das größte und längste Bombardement
der Geschichte.

Nordvietnam sollte, wie es ein US-General ausdrückte,
"zurück in die Steinzeit" bombardiert werden.

Die US-Air Force warf im Schnitt zwei Bomben pro
Minute. Allein 1968 wurden über Vietnam mehr Bomben abgeworfen
als im gesamten Zweiten Weltkrieg.

Militärisch war das Bombardement aber weitgehend
nutzlos gegen einen Gegner, der dem Kampf auswich, aus dem Hinterhalt
zuschlug und sich in einem großräumigen Tunnelsystem
bewegte.

Die Produktion in den unterirdischen Fabriken des
Vietcong wuchs um mehr als 6% im Jahr.

Die Opfer unter der vietnamesischen Bevölkerung
gingen derweil in die Hunderttausende.

Teach-ins

Jahrelang hielt das Lügengebäude der USA
stand. Langsam aber sickerte die Wahrheit durch. Die Barbarei
der Flächenbombardements machte die Kriegspropaganda vom
Krieg des freien Westens für die Demokratie zur Farce.

Die Anti-Kriegsbewegung ging zunächst von kleinen
Aktivistenkernen an den US-Universitäten aus. Sie sorgten
dafür, daß sich die Debatte über den Krieg wie
ein Lauffeuer von Uni zu Uni ausbreitete.

Führende Regierungsvertreter wurden zu öffentlichen
Debatten, den Teach-ins, eingeladen. Dort wurden sie vor Tausenden
von Studenten durch die Argumente der studentischen Kriegsgegner
demontiert.

Die Teach-in-Bewegung zog immer größere
Schichten von Studenten in die Debatte: 1965 nahmen 3.000 in Ann
Arbor teil, 30.000 in Berkeley und schließlich Hunderttausende,
als ein Teach-in in Washington über 122 Uni-Radiostationen
ins gesamte Land übertragen wurde.

Das Interesse am Vietnam-Krieg hatte für viele
einen konkreten Grund: Ihre Einberufung zur Armee stand vor der
Tür!

Explosion

Der Krieg der US-Regierung entwickelte noch eine
weitere Front: 1965-68 explodierten die Ghettos in den USA. Die
Enttäuschung über die Johnson-Regierung, die aufgestaute
Wut über Elend, Polizeibrutalität und Rassismus entlud
sich in Aufständen, die von Mal zu Mal größer
wurden.

Mitte Juli 1967 kam es nach Polizeiübergriffen
zu bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen, bei denen in
New Jersey 21 Schwarze von der Nationalgarde erschossen wurden.

Fünf Tage lang rebellierte Detroit, die fünftgrößte
Stadt der USA. Nach dem Aufstand lagen ganze Straßenzüge
in Schutt und Asche, es gab 40 Tote (hauptsächlich Schwarze),
2.250 Verletzte und 4.000 Verhaftungen.

Die Schwarzenbewegung radikalisierte sich und begann,
die Verbindung zwischen ihrer Unterdrückung in den USA und
der Unterdrückung der Vietnamesen durch die USA zu ziehen.

Der Box-Weltmeister Muhammad Ali setzte ein Fanal,
als er sich seiner Einberufung mit den Worten widersetzte: "No
Vietnames ever called me a nigger!" – Kein Vietnamese hat
mich je als Nigger beschimpft!

Die Schwarzenbewegung inspirierte die Anti-Kriegs-Bewegung
und umgekehrt.

Im April 1967 demonstrierten 400.000 in New York,
im November spalteten sich bei einer Demo von 100.000 in Washington
30.000 Demonstranten zu einem "Marsch auf das Pentagon"
ab, der durch das Militär aufgehalten wurde.

Tet: Der Wendepunkt

Aber die Eskalation beschränkte sich nicht auf
die USA und Vietnam. Weltweit saß eine Generation von Jugendlichen
in den Startlöchern, deren über Jahre aufgestaute Wut
über die herrschenden Zustände nur nach einem Ventil
suchte, um sich entladen zu können.

Den Initialzünder lieferte erneut der heldenhafte
Widerstand des Vietcong.

Als zur Jahreswende 67/68 in Saigon Explosionen zu
hören waren, dachten die US-Soldaten, es wäre gewöhnliche
Böllerei anläßlich von Tet, dem vietnamesischen
Neujahrsfest. Doch sie irrten.

Der Vietcong hatte über Monate hinweg Tausende
von Kämpfern in die Städte eingeschleust. Jetzt startete
er mit 84.000 Mann eine Offensive, die zeitgleich auf 36 der 44
Provinzhauptstädte abzielte. In Saigon wurde die US-Botschaft
von einem Vietcong-Kommando gestürmt.

Die Wirkung auf die linke Jugend in aller Welt
war ungeheuerlich. Fünf Jahre nach Beginn der Intervention
in Vietnam wurde schlagartig klar: Man kann dem amerikanischen
Superimperialisten widerstehen!

Die US-Army brauchte Wochen, um die Tet-Offensive
zum Halten zu bringen. Sie legte dafür die angegriffenen
Städte systematisch in Schutt und Asche.

14.000 Tote, 24.000 Verwundete und 800.000 Obdachlose
unter der südvietnamesischen Zivilbevölkerung
– das war die Antwort der USA auf die Tet-Offensive.

"Es war notwendig, diese Stadt zu zerstören,
um sie zu retten" –
so brachte ein
Major die US-Strategie auf den Punkt.

Aufbruch

Aber auch die Gegenseite erhöhte die Einsätze:
Was als eine Reihe voneinander unabhängiger Bewegungen gegen
verschiedene Aspekte des kapitalistischen Systems begonnen hatte,
vereinigte sich jetzt zu einer weltweiten Rebellion gegen den
Kapitalismus selbst.

Speerspitze der Rebellion war das Losbrechen einer
internationalen Studentenbewegung. An den Universitäten grassierten
revolutionäre Ideen wie ein ideologisches Lauffeuer.

Aber 1968 war mehr, als eine internationale Studentenbewegung.

In Prag konnte eine Massenbewegung gegen die Diktatur
nur durch den Einmarsch der Roten Armee gestoppt werden.

In Paris kämpften die Studenten drei Tage und
Nächte hindurch auf den Barrikaden und verteidigten das Studentenviertel
Quartier Latin gegen die paramilitärischen Polizeieinheiten
der CRS.

Der spektakuläre Kampf der Studenten löste
in den darauffolgenden Wochen aus, was als der "Pariser Mai"
in die Geschichtsbücher einging: Einen Generalstreik von
mehr als 10 Millionen Arbeitern!

Die Linke

Hunderte von Millionen Menschen bewegten sich in
rasanter Geschwindigkeit nach links. In den Folgejahren schossen
revolutionäre Organisationen in der ganzen Welt wie Pilze
aus dem Boden.

Die Anti-Kriegsbewegung wurde durch die Herausbildung
eines organisierten revolutionären Rückgrats zu einem
dauerhaften Faktor. In Vietnam selbst ging das militärische
Debakel der USA gleichzeitig weiter.

Die Stimmung in den USA kippte. Johnson erlitt bei
den Vorwahlen zur US-Präsidentschaft eine vernichtende Niederlage.

Sein Nachfolger Richard Nixon sah sich gezwungen,
von Truppenabzug zu reden. Im April 1970 verkündete er aber
den Einmarsch der USA in Kambodscha.

Die Invasion Kambodschas brachte die Anti-Kriegs-Bewegung
auf einen neuen Höhepunkt.

Nachdem in Kent bei einer Anti-Kriegs-Demo vier Studenten
durch Nationalgarden erschossen wurden, gingen innerhalb von Tagen
350 Unis in einen Streik, dem sich die Schulen anschlossen.

An Massendemos am 9.-10.Mai beteiligten sich landesweit
vier Millionen Studenten – 60% der gesamten Studentenschaft!

Der Sieg

Der enorme Widerstand an der Heimatfront wirkte auf
die Truppen in Vietnam zurück.

Zumal die USA auf eigene Verluste keine Rücksicht
nahmen: Sie schickten die GIs auf Patrouillengänge in den
Dschungel, um den Feind aus dem Hinterhalt zu locken. Wenn der
Vietcong angriff, forderten die Offiziere Artillerie- und Luftunterstützung
an. Die war zwar innerhalb von Minuten da, tötete aber auch
die eigenen Leute.

20% der Verluste der US-Army kamen durch "friendly
fire" zustande. Der Haß der Soldaten wuchs.

"Splittern"
– das Umbringen der eigenen Offiziere mittels Splitterhandgranaten
– kam in Mode. 1.013 offiziell nachgewiesene Fälle gibt es
zwischen 1968 und „72. Insgesamt wurden etwa 10% der Offiziere
in Vietnam von ihren kriegsmüden Mannschaften getötet.

Die Stimmung der Soldaten in der "Hölle
von Vietnam" änderte sich unter dem Eindruck der Anti-Kriegsbewegung
daheim von schlecht zu katastrophal.

1970 waren 10% der GIs in Vietnam heroinabhängig.
1972 war die US-Armee in Vietnam praktisch kampfunfähig und
wurde im Schnellverfahren außer Landes gebracht.

Der Kampf um Vietnam ist ein Lehrbuchbeispiel für
erfolgreichen Kampf gegen imperialistische Kriege. Drei Faktoren
liegen diesem Sieg zugrunde:

  • Der zähe
    und erfolgreiche militärische Widerstand des Vietcong trieb
    den Preis für das US-Massaker in wahnwitzige Höhe und
    ermutigte Unterdrückte in aller Welt, sich ebenfalls zur
    Wehr zu setzen.

  • Der Aufbau
    von Vietnam-Solidaritäts-Komitees schuf eine Struktur, die
    die Propagandalügen vom "Krieg für die Demokratie"
    zerstörte. Sie waren die Grundlage einer internationale Anti-Kriegsbewegung.

  • Den entschlossensten
    Elementen dieser Bewegung gelang es, den Kampf um Vietnam mit
    den Kämpfen gegen Rassismus, Notstandsgesetze, höhere
    Löhne etc. zu verbinden. Gleichzeitig stampften sie revolutionäre
    Parteien aus dem Boden, deren politische Klarheit und organisatorische
    Schlagkraft die Bewegung ausweitete und radikalisierte.

    Die Niederlage führte zum „Vientnam-Trauma“ der Herrschenden in den USA. Sie hatten den Krieg nicht militärisch verloren. Sie verloren ihn moralisch.


    Die ruhmreiche US-Army war in Vietnam im wahrsten Sinne des Wortes zerbrochen. Die Herrschenden hatten weder ihre eigene Armee, noch die amerikanische Bevölkerung im Griff behalten können.


    Dieser Schock saß so tief, dass die US-Armee bis 1983 in keinen einzigen Einsatz geschickt wurde.


    von Stefan Born

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