Warum Schwule und Lesben in die Offensive gehen müssen

Schwulen und Lesben geht es in Deutschlandheute so gut wie nie zuvor. Wie weit diese Verbesserungen gehen, ist allerdings stark umstritten. In Wahrheit geht eine tiefe Spaltung durch die angebliche schwullesbische Gemeinde, die aber systematisch verwischt wird.

Es ist modern geworden, die Unterdrückung gleichgeschlechtlicher
Liebe als längst vergangen hinzustellen. Der "Fokus"
fragte auf einem berühmt gewordenen Titelblatt "Leben
Schwule besser?",
das britische Wirtschaftsmagazin "Economist"
schrieb 1997:

"Die ersten Vertreter einer einmaligen, neuen
Klasse tauchen auf: junge Schwule, die Diskriminierungen und Angriffe
nie fürchten mußten…"

Hinzpeter

Diese Darstellung findet Bestätigung auch von schwuler Seite.
In seiner Polemik "Schöne schwule Welt – der Schlußverkauf
einer Bewegung"
kommt der Stern-Redakteur Werner Hinzpeter
zu dem Schluß: "Die Schwulen haben den Hauptgewinn
erzielt, ohne es zu bemerken."

Dem Motto "Feiern statt Jammern" gemäß,
richtet sich Hinzpeters Attacke vor allem gegen jene "Handvoll
Funktionäre"
der Schwulenbewegung, die die "letzten
Diskriminierungen"
mit "übertriebenem Rummel"
zu Markte trägt.

Ein bißchen Diskriminierung werde es zwar immer
geben. Eine schwule Emanzipationsbewegung hält Hinzpeter
aber für überflüssig.

Wie tiefgreifend Hinzpeters Differenzen mit den "offiziellen"
Magazinen der Szene und der politischen Strategie des Lesben-
und Schwulenverbandes Deutschlands (LSVD) sind, ist allerdings
trotz der feindseligen Aufnahme seines Buches fraglich.

Markt

Gemeinsam ist ihnen allesamt, daß sie den Weg zur Freiheit
in einem stetigen Wachstum der "pink economy" und dem
Aufbau der "schwulen Marktmacht" sehen. Je größer
und profitabler die schwullesbische Szene, und je finanzkräftiger
die Schwulen und Lesben selbst, desto weniger Raum bleibt dieser
Ansicht nach für Diskriminierung.

Der schwule Unternehmer wird zum Helden der Emanzipation
aufgebaut und darf sich so fühlen. Wie beispielsweise Gary
Henshaw:

"Ich denke, es ist eine gute Umgebung. Eine
Menge junger Leute kommen und arbeiten in einem schwulen Unternehmen,
im wesentlichen um sich selbst zu befreien. Sie sind mit den Problemen
des Schwulseins aufgewachsen, kommen plötzlich damit raus,
arbeiten in einem schwulen Club oder einer Bar, wo sie Leute finden,
die sie akzeptieren und eine coole Zeit verbringen."

Wer die Zustände in der Gastronomie kennt, wird
Zweifel an der befreienden Wirkung eines dortigen Jobs haben.
Doch der Mythos vom gemeinsamen Interesse von rosa Arbeit und
Szene-Kapital treibt noch ganz andere Blüten.

Nach dem Lesbenwein "Corange" mit dem Doppelaxtsymbol
und dem Handy für Schwule der "Pride Telecom",
hat der Kölner Unternehmer Michael Adamczaks nun den schwulen
Kühlschrank erfunden:

"Schwule ernähren sich gesundheitsbewußt,
also muß das Gemüsefach größer sein. Außerdem
brauchen sie mehr Ablagen für Sekt und Weißwein."

Realos

Das Bild vom Durchschnittsschwulen als dem mondänen, erfolgsorientierten
Szene-Yuppie, der gutes Geld verdient, viermal soviel feiert wie
der Normalhetero und den Rest seiner Zeit beim Friseur verbringt,
wird gezielt aufgebaut – nicht nur von schwullesbischem Unternehmertum
und der Szenepresse.

Auch der LSVD, der auf seinen anzeigenfinanzierten
Internetseiten auch gleich noch eine verbandsnahe Versicherung
für Schwule und Lesben anpreist, spielt seinen Part in der
allgemeinen Realitätsverzerrung.

Zwar arbeiten viele ehrlich engagierte Basisschwule
im Rahmen des Verbandes.

Politisch kontrolliert wird er aber von einer dem
rechten Flügel der Grünen zuzuordnenden Gruppierung
um den schwulen Bundestagsabgeordneten Volker Beck.

Die Verengung der traditionellen Forderung nach gleichen
Rechten auf das Eherecht ist ein gutes Beispiel für deren
Herangehen.

Die "eingetragene Lebenspartnerschaft"
drückt das Bedürfnis jener Realo-Schwulen aus, sich
gemäß ihrer sozialen Lage und nach der Machtbeteiligung
als grüne Funktionäre nun auch als schwule und lesbische
Bürger etablieren zu dürfen.

So unterstützenswert die Reform trotz alledem
natürlich ist, gäbe es für die Masse der Schwulen
und Lesben wesentlich dringlichere Forderungen – die Anerkennung
sexueller Verfolgung als Asylgrund etwa oder besseren Schutz vor
Diskriminierung am Arbeitsplatz.

Realität

Denn entgegen dem Bild, das uns von ökonomisch und politisch
interessierter Seite verkauft wird, gehört die große
Mehrheit der Schwulen und Lesben nicht zu den Gewinnern des neoliberalen
Zeitalters.

Sie verdienen ihren Lohn als stinknormale Angestellte oder Arbeiter
und in aller Regel außerhalb der traditionell homophilen
Exotenparks, wie dem Kulturbetrieb, der Mode- oder der Werbebranche.

Oder sie sind arbeitslos, Sozialhilfeempfänger,
von der finanziellen Unterstützung ihrer Eltern abhängige
Jugendliche oder Studenten mit schlechtbezahltem Nebenjob. Für
diese schwullesbische Mehrheit ist das Zeitalter der Unterdrückung
noch lange nicht vorbei. In einem durchschnittlichen Großbetrieb
schwul oder lesbisch zu sein, ist auch heute kein Spaß.

Wer arm ist und dem insbesondere in der schwulen
Szene aggressiv durchgesetzten Schönheitsideal widerspricht,
wird sich auch in der "pink economy" bei den Verlierern
finden.

Auch das Bild vom nahenden Ende der Diskrimierung ist mehr als
schief. Zweifellos hat die zunehmende Akzeptanz schwulen und lesbischen
Lebens in den letzten Jahren die Lage für alle Homosexuellen
verbessert. Es gibt allerdings gleichzeitig eine Tendenz in die
andere Richtung, die fahrlässig übersehen wird.

Im Kampf gegen das Phantom der "Political correctness"
halten es Harald Schmidt und andere für einen Akt der Befreiung,
endlich wieder ungestört rassistische, frauen- und schwulenfeindliche
Sprüche ablassen zu dürfen. Jene Form von "Tabubruch"
hat in den letzten Jahren dazu geführt, daß antischwule
Witzeleien und billigstes Klischeegedresche selbst in Kreisen,
die sich selbst als fortschrittlich definieren, erneut grassieren.

Auch das Thema "Ich bin nicht mehr schwul
– Gott sei Dank!"
bei Nachmittagstalkerin Bärbel
Schäfer läßt fragen, inwieweit die vermehrte Präsenz
schwullesbischer Themen in den Medien Homophobie zurückdrängt.

Stonewall

Daß es inzwischen trotzdem leichter ist, als in den 50er
oder 60er Jahren, reklamiert heutzutage jeder schwule Clubbesitzer
für sich und seine Zunft. Die gestiegene Akzeptanz hat allerdings
mit der Entstehung einer schwullesbischen Subkultur rein gar nichts
zu tun.

Die kommerzielle Subkultur ist nur Trittbrettfahrer
der erkämpften Akzeptanz, nicht deren Ursache.

Der historische Urknall der modernen Schwulen- und
Lesbenbewegung, der Aufstand in der New Yorker Christopher Street
1969, ist hierfür das beste Beispiel.

Das New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village
war bereits in den 50er Jahren mit schwulen und auch einigen lesbischen
Lokalen gut bestückt. Die unerträgliche Situation in
der Gesellschaft änderte sich dadurch keineswegs, daß
Schwule und Lesben in ihrem kleinen rosa Ghetto abgezockt wurden.

Erst als ein Polizeiübergriff auf das Stonewall
Inn mit zweitägigen Straßenschlachten beantwortet wurde,
begann sich an der gesellschaftlichen Situation etwas zu ändern.

Daß gerade eine Razzia im Stonewall Inn zu
den Ausschreitungen führte, war kein Zufall.

Der Aufstand 1969 war nicht nur eine Rebellion gegen
die ständigen Übergriffe der Polizei, sondern auch ein
Befreiungsschlag der unterprivilegierten Schwulen und Lesben gegen
die Abhängigkeit von einer mafiakontrollierten, exklusiven
und ausbeuterischen Szenewelt.

Wie Georg Klauda in einem exzellenten Artikel in
dem seit kurzem erscheinenden Magazin für sexuelle Emanzipation
"Gigi" schreibt:

"Für die Straßenkinder, die Tunten,
Transen, für all die, die von der bürgerlichen Kleinfamilie
und der kommerziellen Homoszene gleichermaßen ausgespukt
wurden, ist das Stonewall eine Heimat, die sie mit Zähnen
und Klauen gegen „die Schweine“
(die Polizei) verteidigen."

Ursache

Die bis dato dominierende bürgerliche Schwulenbewegung reagierte
entsetzt auf die Unruhen. Randy Wicker von der "New York
Mattachine Society" äußerte:

"Der Anblick von kreischenden Tunten, die Sprechchöre
rufen und um sich treten, widerspricht allem, was Leute meiner
Ansicht nach von Homosexuellen denken sollen."

Aber eine neue Schicht von militanten, durch die Kämpfe rund
um 1968 radikalisierten Aktivisten begann, der alten Garde die
Führung der Bewegung streitig zu machen.

Während die Mattachine Society dazu aufrief, die öffentliche
Ordnung zu bewahren, nutzten schwule und lesbische Militante den
Aufruhr in der Christopher Street zur Gründung der radikalen
"Gay Liberation Front".

Die Politik der GLF war in mancherlei Hinsicht problematisch,
was zu ihrem letztlichen Scheitern beitrug. In ihrer Ablehnung
einer falschen Einheit mit den Szene-Profiteuren war sie aber
ebenso vorbildlich wie in der Erkenntnis, daß der Kampf
gegen sexuelle Unterdrückung als Teil des Kampfes gegen das
kapitalistische System geführt werden muß.

Der britische Marxist Tony Cliff erklärt, warum
das nötig ist:

"Solange die traditionelle Kleinfamilie eine
ökonomische Einheit für die Erziehung der Kinder und
die Befriedigung der konsumptiven Bedürfnisse der Erwachsenen
ist, werden Homosexuelle als abweichend betrachtet werden.

Der schwule Mann entspricht nicht der Männerrolle
als Versorger von Frau und Kind, und die lesbische Frau entspricht
nicht der Rolle als Frau und Mutter.

Die gegenwärtige Familie ist nicht nur ein
Gefängnis für die, die in ihr leben, sondern versklavt
auch diejenigen, die nicht in die Geschlechterrollen passen, die
mit ihr verbunden sind."

Chance

Wie ist die Lage heute? Die eindrucksvollen Massenmobilisierungen
zu den CSD-Paraden, das nach der AIDS-Krise wieder wachsende schwullesbische
Selbstbewußtsein und der bei der Bundestagswahl zu besichtigende
Linksschwenk eines nennenswerten Teils der Bevölkerung, haben
die öffentliche Meinung sehr positiv beeinflußt.

Diese Chance muß entschlossen genutzt werden. Denn ein zu
sich verschärfenden Wirtschaftskrisen neigendes System wie
der Kapitalismus bietet keinen sicheren Hafen. Was gestern erkämpft
wurde, muß schon heute verteidigt werden und kann schon
morgen verloren sein.

Die Tragödie der ersten deutschen Schwulenbewegung
sollte uns Warnung genug sein: Berlin „32: Hauptstadt sexueller
Freiheit – Berlin „33: Hauptstadt des faschistischen Terrors!

Wir sollten die Gunst der Stunde deshalb nutzen und
selbstbewußt in die Offensive gehen, anstatt die Emanzipationsbewegung
vorschnell für überflüssig zu erklären oder
die sexuelle Befreiung den Marktkräften zu überantworten.

Dummerweise ist jene Schicht von Verbandsfunktionären
und Szene-Unternehmern, die derzeit die Führung schwullesbischer
Politik innehaben, ein aktives Hindernis, für eine entschlossene
Kampagne von unten.

Die Szeneprofiteure können mit einer Bewegung,
die sich selbstbewußt ihren Platz in der Gesellschaft erkämpft
nichts anfangen. Sie sind ökonomisch auf die Abhängigkeit
ihrer Klientel vom rosa Ghetto angewiesen.

Die Führung des LSVD kann mit schwullesbischer
Selbstaktivität ebensowenig anfangen, da man die Masse vor
allem auf die Wahl der Grünen und – seit dem Regierungswechsel
– eine "kritische Begleitung" der neuen Bonner Machthaber
beschränken will.

Bruch

Ein Bruch mit der bürgerlichen Führung ist notwendig,
wenn wir die Chance nutzen wollen, offene und latente Homophobie
nicht nur in Gesetzen, sondern auch in der Gesellschaft zurückzudrängen.

Dieser Bruch ist möglich.

Die zum Teil tumultartigen Debatten rund um den CSD
belegen den wachsenden Unmut über die Selbstherrlichkeit
der Szenefürsten und den Alleinvertretungsanspruch der schwulen
Realos. Die schärfer werdende soziale Krise macht die verlogene
Einigkeit des schwulen Barbesitzers mit der lesbischen Barkeeperin
brüchiger.

Auch die lähmende Koppelung schwullesbischer
Politik an die rot-grüne Regierung erweist sich immer mehr
als Sackgasse.

Nicht nur die rot-grüne Jämmerlichkeit
in Sachen Doppelpaß läßt Schlimmes ahnen, wenn
Kirche und Konservative erst einmal gegen die Homoehe loslegen.

Auch Scharpings homophob begründete Weigerung,
den Ausschluß von Schwulen aus Führungsfunktionen der
Bundeswehr zu beenden, zeigt wie nötig es ist, die Abwarterei
durch mobilisierten Druck von unten zu ersetzen.

Es ist unter Schwulen und Lesben, wie es unter Millionen
derer ist, die am 27. September mit großen Hoffnungen Rot-Grün
gewählt haben: Die Unzufriedenheit wächst, die alte
Führung versagt – der Kampf um den Aufbau einer neuen, entschlossenen
Führung von unten muß jetzt beginnen.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.