Kaufen, lesen, diskutieren: Das Oskar-Buch

Was haben Medien und SPD-Rechte nicht alles unternommen, um genau das zu verhindern: Oskar Lafontaines Abrechnung mit vermeintlichen Modernisierern, neoliberaler Heilslehre und der Rechtswende der Schröder-Regierung nimmt die Bestsellerlisten im Sturm. Ein Buch wie ein Sprengsatz. Florian Kirner über das Oskar-Buch und seine Wirkung.Nach Friedrich Engels findet der Kampf der Klassen auf drei Ebenen statt: Auf der ökonomischen, der politischen und der ideologischen. Wie bei unterschiedlichen Fronten eines großen Krieges beeinflußt jede Veränderung an einer dieser Kampflinien das Gesamtverhältnis der gegnerischen Kräfte.
Das Herz schlägt links veranschaulicht diesen Zusammenhang. Es ist die wichtigste und einflußreichste Publikation dieses Jahrzehnts. Zu einem äußerst kritischen Zeitpunkt des Krieges um den Sozialstaat trägt es erheblich dazu bei, die Linke an der ideologischen Front in die Offensive zu bringen.

Hans-Ulrich Jörges, Chefredakteur der Schröder-loyalen Zeitschrift Die Woche, ist mit den Nerven am Ende: Danke, Oskar! Der Unruheständler hat die Politik auf den Kopf gestellt: Alle reden über „soziale Gerechtigkeit“, niemand mehr über Reformen (Die Woche, 15. Oktober „99)

Linksschwenk

Blair-Fans wie Jörges stehen fassungslos vor dem triumphalen Erfolg des Lafontaine-Buchs. Seit Monaten verbreiten sie, die Mehrheit der Leute sei ganz wild auf den Umbau des Sozialstaats. Nach dieser Analyse verliert die SPD Wahlen, weil Schröder mit Privatisierung, Deregulierung und Sozialabbau nicht schnell genug vorankommt.

Lafontaine schätzt die Gefechtslage ganz anders ein:

Nach der Bundestagswahl stellte sich heraus, daß das Institut Allensbach die besten Prognosen vorgelegt hatte. Allensbach hatte aber auch ermittelt, daß die soziale Gerechtigkeit das entscheidende Thema dieser Wahl war. Nach Meinung des Instituts wurde die Regierung Kohl deshalb abgewählt, weil sie beim Volk den Eindruck erweckte, es ginge in Deutschland nicht mehr gerecht zu. (S. 101)

Und: Meinungsforscher stellen eine wachsende Identifikation der Mehrheit mit Werten fest, die von den Befragten zuvor als „links“ eingeordnet wurden. Mit den Begriffen „links“ und „rechts“ könnten die Menschen heute nicht mehr viel anfangen, sagen die „Modernisierer“. Die Befragungen beweisen das Gegenteil: (…) Immerhin lassen die Umfragen über das Wertebewußtsein der Deutschen den Schluß zu, daß die Grunddisposition für eine breite Zustimmung zu einer wertebetonenden linken Politik auch in Deutschland gegeben ist. (S. 297)

Soziale Polarisierung und politischer Linksschwenk sind die Grundlage, nicht nur den Ausgang der Bundestagswahl, sondern auch den Erfolg des Lafontaine-Buchs zu verstehen.

Genuß

Viele Leute sind es leid, daß seit Jahren alles, was sich nicht dem Diktat der Märkte unterwirft, als ewiggestrige Verteidigung überholter Besitzansprüche diffamiert wird.

Es ist ein Genuß zu lesen, wie Lafontaine die neoliberale Heilslehre auf 310 schwungvollen Seiten in Grund und Boden argumentiert.

Besonders die Vorstellung, moderne Politik zeichne sich durch die Bedienung der Bedürfnisse der Börse aus, bringt ihn in Rage. Über eine Pressekonferenz schreibt er:

Als Hans Tietmeyer dann aber die Weisheit von sich gab, daß die Erwartungshaltung der Investoren das Entscheidende sei, lächelten die Wirtschaftsjournalisten wieder glücklich (…) Die Weisheit, daß derjenige, der irgendwo eine Kneipe oder einen Laden aufmacht, sich erst fragt, ob er genug kaufkräftige Kunden hat, ist der angebotspolitischen Glaubensgemeinde nicht zu vermitteln. Sie sind fest davon überzeugt, daß Investoren Vertrauen schöpfen, wenn soziale Leistungen gekürzt werden, in den öffentlichen Haushalten gespart und Lohnzurückhaltung geübt wird. (S. 211)

Auch mit seiner scharfen Kritik an der Ideologie des Schröder/Blair-Papiers spricht Lafontaine allen aus dem Herzen, denen das Gerede von der Neuen Mitte auf die Nerven geht:

Aber erwirbt man wirklich Vertrauen durch den Bruch von Wahlversprechen? Und wer gehört eigentlich zum parteifernen Milieumix der mutmaßlichen neuen Mitte? Es ist immer dieselbe Leier. Diejenigen, die hohe Einkommen und Vermögen haben, aber kaum Steuern zahlen und so gut wie nie vom Verlust des Arbeitsplatzes bedroht sind, fordern am lautesten Reformen bei Renten, bei der Arbeitslosenversicherung und bei den Rechten der Arbeitnehmer. (S. 305)

Markt

Lafontaines Buch ist als argumentative Waffe gegen Marktwahnsinn und Modernisierer-Ideologie hocheffektiv. Die von Schröder gebetsmühlenartig wiederholte Alternativlosigkeit seiner modernen Kürzungspolitik läßt Lafontaine nicht gelten:

Die Angelsachsen haben keinen Kündigungsschutz, also sind wir modern und bauen den Kündigungsschutz ab. In vielen Ländern werden soziale Leistungen gekürzt, also sind wir modern und kürzen auch soziale Leistungen. (…) Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Modernität ist zur schlichten Anpassung an wirtschaftliche Zwänge verkommen. Die Frage, wie wir zusammenleben wollen, welche Gesellschaft wir wollen, ist schon unmodern und wird gar nicht mehr gestellt. (S. 64f)

Statt dessen fordert Lafontaine eine wirtschaftspolitische Wende im Geiste des britischen Ökonomen John Maynard Keynes: Der Staat soll aktiv und im Interesse der Menschen in die Wirtschaft eingreifen.

Die Politik der Zentralbanken soll durch deutliche Zinssenkungen dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen. Die Währungsspekulation soll durch eine neue internationale Finanzarchitektur mit Zielzonen und anderen Beschränkungen reguliert und das aberwitzige Treiben an den Börsen durch staatliche Eingriffe und Spekulationssteuern eingedämmt werden.

Diese Maßnahmen sind allesamt zu begrüßen. Die überragende Mehrheit der SPD-Wähler und der Gewerkschaftsmitglieder würde sie zweifellos befürworten. Der wachsende Druck für die Besteuerung von Millionärsvermögen spricht Bände.

Macht

Lafontaine kritisiert Exzesse der Profitmacherei und Raubtierkapitalismus amerikanischer Prägung. Dem stellt er die Perspektive einer neuen sozialen Marktwirtschaft gegenüber.

Wie aber kommt es, daß Lafontaine trotz der großen Unterstützung für seine politische Richtung als Superminister gescheitert ist? Warum konnte er seine Ansichten in einer fast durchgehend von Sozialdemokraten regierten EU nicht durchsetzen?

Lafontaine fordert einerseits eine politische Kultur, die nicht bloß das eine fördert: Profit! (S.295). Andererseits meint er, auch Arbeitgeber trügen zum Gemeinwohl bei, indem sie ihre Interessen verfolgen (S.290).

Hier zeigt sich der zentrale Widerspruch im Projekt Lafontaine und der Grund für sein jähes Scheitern. Denn Marktwirtschaft heißt Konkurrenz um Profite. Daß Unternehmer ihre Interessen verfolgen, bedeutet gerade, eine ausschließlich auf Profitsteigerung abzielende Politik durchzusetzen.

Die traurige Antwort auf Lafontaines Frage, ob die internationalen Finanzmärkte oder gewählte Regierungen die Welt regieren, gibt die Kampagne, die zu Lafontaines Rücktritt führte.

Sie demonstriert, daß ein Superministerium und großer, aber passiver Rückhalt in der SPD keineswegs ausreichen, der geballten Macht von Medien, Unternehmerverbänden, Börse und SPD-Modernisierern stand zu halten.

Auf andere Kräfte zu setzen, auf die Macht der Belegschaften in den Betrieben vor allem, widerspricht Lafontaines rein parlamentarischem Denkansatz. Er ahnt jedoch, daß er und Sozialdemokraten seines Zuschnitts die letzte kritische Instanz innerhalb des bürgerlichen Systems sind und befürchtet:

… über kurz oder lang einen neuen Klassenkampf. Was für Amerika gilt, mag erst recht für Europa gelten. Die Linksregierungen in Europa kamen an die Macht, weil die Bürger der sozialen Kälte des Neoliberalismus eine Absage erteilten. Sollten die Politiker den „Hilferuf“ der Bürgerinnen und Bürger überhören und keine Besserung einleiten, wird sich der Protest andere Wege suchen. Radikale Parteien werden Zulauf erhalten…

Was Lafontaine fürchtet, ist in der Realität der einzige Weg, eine gerechte Gesellschaft zu erkämpfen. Auch wenn er selbst den Schritt scheut, von der Kritik des kapitalistischen Systems zur offenen Ablehnung überzugehen: Sein hervorragendes Buch kann vielen helfen, diesen Schritt zu machen.

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