Portrait: Pierre Bourdieu – Ein Intellektueller meldet sich zu Wort

Pierre Bourdieu, der bekannteste französische Soziologe, meldet sich flammend zu Wort. Er bezieht Stellung gegen Ausländerfeindlichkeit, gegen die Bildungsmisere, gegen den Nato-Krieg im Kosovo und gegen sensationsheischenden Journalismus. Vor allem richten sich seine Wortmeldungen jedoch gegen die „neoliberale Invasion“, in der er die Ursache allen Übels erkennt.

Er sieht ganz klar wie sich seit dem Ende der 70er das neoliberale Denken in allen Bereichen durchgesetzt hat. „Selbst die Kultur ist davon infiziert (…) Ein Teil der Intellektuellen hat an diesem kollektiven Überzeugungswechsel kräftig mitgewirkt.“


Bourdieu bezeichnet die Entwicklung als „konservative“ Revolution, die auch und gerade von den sozialdemokratischen Parteien in Europa getragen wird. Es ist der Versuch, den Sozialstaat abzubauen und letztendlich zu zerstören.


Das äußerte sich zum Beispiel in Frankreich in der Kürzung der öffentlichen Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau. Statt dessen wurde der Erwerb von Eigentum massiv gefördert. Das Resultat davon ist, dass sich „die am stärksten benachteiligten Teile der Bevölkerung“ jetzt in regelrechten „Orten der Verbannung“, den französischen Vorstädten, konzentrieren.



Elend


Anfang der 90er führte in Frankreich er eine Untersuchung über die Lage der "einfachen Leute" durch. Dabei stellte er fest, dass sich das "Leiden an der Gesellschaft" verstärkt hat. Damit meint er nicht nur das Leiden an Armut oder Arbeitslosigkeit, sondern das "relative Leiden" wegen enttäuschter Erwartungen.


Zum Beispiel das Leiden der engagierten Berufsschullehrerin, die durch die Schulpolitik der Regierung mit unerträglichen Bedingungen zu kämpfen hat. Die Arbeit an diesem Buch, das er "Das Elend der Welt" (1997) nannte, hat bei ihm „das Gefühl von Dringlichkeit intensiviert. Nachdem ich diese Dinge gesehen hatte – und ich habe viel mehr gesehen, als im Buch steht – wurde es für mich unmöglich, mich nicht einzumischen.“



Wissenschaft


Wissenschaft ist seiner Meinung nach nicht wertfrei. Das Ideal der weltanschaulichen Neutralität, dem er sich selbst lange untergeordnet hat, erscheint ihm heute als Weltflucht im Namen der Wertfreiheit, als Versuch, politischen Fragen ganz gezielt aus dem Weg zu gehen. Die Rolle der Intellektuellen sieht er vielmehr darin "Experten gegen die Experten zu sein!"


"Zum Beispiel gegen einen Mann wie Anthony Giddens – ein britischer Soziologe, der zum Vordenker der neoliberalen "Schein-Linken" Tony Blairs geworden ist. Und wer zählt nun mehr gegen Giddens als ein Bourdieu? Ich habe die wissenschaftliche Autorität und ich kenne seine Waffen!".


Die Intellektuellen "sind nicht die Führer der Bewegung, sie arbeiten innerhalb der Kollektive. Man braucht sie wegen ihrer Autorität und wegen ihrer technischen Kompetenz als intellektuelle Arbeiter."



Handeln


Und Bourdieu steht nicht alleine da. Während der Streikbewegung im öffentlichen Dienst im November und Dezember 1995 in Frankreich haben sich die Intellektuellen in Frankreich in zwei Lager gespalten. Die eine Gruppe solidarisierte sich mit den Streikenden und beteiligte sich an ihren Versammlungen, die andere verteidigte den Reformplan der Regierung Juppé.


In dieser Bewegung erkannten Bourdieu und seine Mitstreiter, daß sie sich organisieren müssen, um effektiv gegen den Mainstream angehen zu können. Sie gründeten die Gruppe "Raisons d“agir" (Gründe zum Handeln), ein Zusammenschluß von Intellektuellen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, gemeinsam ihre Analysen und sozialwissenschaftlichen Forschungen zu verbreiten und in die laufenden politischen Auseinandersetzungen einzugreifen. Daraufhin bekamen sie soviel Zustimmung von verschiedenen Vereinen, Gewerkschaften und kritischen Initiativen aus ganz Europa, daß sie anfingen, ein Netzwerk zwischen ihnen zu knüpfen.



Charta


Im Mai 2000 haben sie einen nächsten Schritt getan. Sie haben mit der Charta 2000 alle sozialen Bewegungen in Europa dazu aufgerufen, sich zu vernetzen, um gemeinsam handeln zu können und um an Konzepten für einen neuen europäischen Sozialstaat zu arbeiten.


"Wir müssen die Vorstellung eines sozialen Europas entwickeln. Ein solches Europa würde sich seiner großen wirtschaftlichen Stärke bedienen, um dem Neoliberalismus zu widerstehen: gegen den Abbau des Sozialstaates, für den Erhalt der sozialen Errungenschaften. Das wäre die Chance für Europa und es wäre, glaube ich, auch die Chance für die Menschheit."


Genau in diesem Geist stehen die Mobilisierungen nach Berlin und Prag. Unterstützt die Charta 2000, indem ihr sie unterschreibt und verbreitet und fahrt mit nach Berlin und Prag! Im Internet unter www.raisons.org oder beim Zentrum für Europ. Gesellschaftsforschung, PF 102238, 78462 Konstanz, Fax: 07531-914561


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