Frankreich: Proteste

In Frankreich haben mehr als 100.000 Lehrer, Elternvertreter und Schüler gegen die Bildungspolitik der Jospin-Regierung demonstriert. 60% der Lehrer streikten – der größte Streik im Bildungswesen seit dem "heißen Herbst" 1995. Die Bildungsproteste sind der bisherige Höhepunkt einer ganzen Welle von Streiks, Demonstrationen und Besetzungen. Der Druck von unten auf die Jospin-Regierung nimmt zu.


"Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück, das ist die Politik der Regierung", sangen protestierende Schüler. Anlaß der Proteste ist die Weigerung der Regierung, den Haushaltsüberschuß in das Bildungswesen zu investieren.


Genau wie Schröder in Deutschland argumentierte Jospin, daß Reformen im Sozialwesen erst möglich sind, wenn die Wirtschaft wächst.


Jetzt boomt die französische Wirtschaft. Der Finanzminister hat zum dritten Mal den Haushaltsüberschuß nach oben korrigiert. Doch es wird klar, daß die französische Regierung nichts tut, um das kaputtgesparte Sozialwesen zu reparieren.



Protest


Im Gegenteil: Jospin plant, den Haushaltsüberschuß für die Senkung der Unternehmenssteuer zu verwenden. Die Früchte des Booms sollen den Bossen in die Tasche fließen. Diese Ungerechtigkeit, unterstützt von der linkesten Sozialdemokratie in Europa, hat in Frankreich eine Protestwelle ins Rollen gebracht.


Zeitgleich mit den Schülern waren mehrere tausend Finanzbeamte auf der Straße, um gegen Einsparungen im öffentlichen Dienst zu protestieren. Der französische Arbeitgeberverband MEDEF warnt schon vor einer Neuauflage der Massenstreikwelle 1995.


Die Bosse fürchten sich aus gutem Grund, denn in der französischen Arbeiterbewegung gärt es. Hauptstreitpunkt ist das Gesetz zur 35-Stunden-Woche, welches am 1. Februar in Kraft getreten ist. Die 35-Stunden-Woche war 1997 das Herzstück des Wahlkampfs, mit dem die Sozialistische Partei die Wahlen gewann.


Doch was als Maßnahme zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit startete, ist durch das Einknicken der Jospin-Regierung vor den Bossen zu einem Angriff auf die Arbeiter verkommen.



Jospin


"Flexible" Arbeitszeiten sollen eingeführt werden. Das bedeutet, daß die 35-Stunden-Woche nur ein Durchschnitt über das ganze Jahr sein muß. Arbeiter können so bis zu 56 Stunden pro Woche arbeiten – ohne Überstundenzuschläge!


Kein Wunder, daß in 86% der Firmen noch keine Einigung über die 35-Stunden-Woche erzielt wurde. Mehr und mehr verlagert sich der Streit über die 35-Stunden-Woche vom Verhandlungstisch auf den Kampf in den Betrieben. Air France-Personal, Postarbeiter und Pflegepersonal haben schon für eine Neuregelung des 35-Stunden-Wochen-Gesetzes gestreikt.


Jospins Popularität befindet sich zum ersten mal seit seinem Amtsantritt im Sinkflug. Bisher konnte die Regierung das Wiederaufleben einer breiten sozialen Protestbewegung durch linke Rhetorik und halbherzige Reformen verhindern.


Doch die Streiks und Bildungsproteste zeigen, daß die Geduld der französischen Arbeiter erschöpft ist. Der Alptraum der Bosse, ein "heißer Frühling", könnte schnell Realität werden.

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