Der Weg in den Holocaust

Am 27. Januar vor 56 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Die Barbarei des Holocausts war einzigartig in der Geschichte. Die technischen Möglichkeiten eines hochindustrialisierten Staates wurden auf höchst effektive Weise genutzt – mit dem Ziel ein ganzes Volk auszulöschen. Wie konnte dieser barbarische Akt geschehen? Ist eine Wiederholung möglich?

Die vorherrschende Meinung in der Debatte ist die Meinung des konservativen Hitler-Biographen Joachim Fest. Er stellt den Nationalsozialismus und den Holocaust als das Werk eines Wahnsinnnigen dar – dem Dämon Hitler.

Der Holocaust ist ein wahnsinniger Akt. Deswegen ist die These Fests auch so weit verbreitet. Wahnsinnig heißt aber nicht unerklärlich. So irrational und pseudo-wissenschaftlich der Antisemitismus ist, so hat er doch eine Logik. Um diese kranke Logik zu verstehen, müssen wir auf die Bewegung sehen, die dieser Ideologie zum Durchbruch verhalf.


Die soziale Basis der Nazibewegung war das Kleinbürgertum. An Hitlers Putsch 1923 waren neben ihm 16 Männer direkt beteiligt: Vier Kaufleute, drei Bankangestellte, drei Ingenieure, ein Rat am obersten Landgericht, ein Rittmeister, ein Schlosser, ein Hutmacher, ein Oberkellner und ein Diener.


Auch später waren Mittelständler und Angestellte überdurchschnittlich stark in der NSDAP vertreten.


Grundsätzlich lassen sich zwei Elemente des Kleinbürgertums unterscheiden. Das Kleingewerbe besteht aus den Besitzern von Läden, Kleinbetrieben und so weiter. Die sogenannten "neuen Mittelschichten" sind höhere Angestellte, Beamte oder Akademiker.


Beide Schichten hatten unter der Weltwirtschaftskrise nach 1929 stark zu leiden, stärker als die organisierten Arbeiter. Der Antisemitismus bot diesen Schichten eine pseudo-wissenschaftliche Erklärung für ihre Misere und eine pseudo-revolutionäre Perspektive – die Utopie einer "Volksgemeinschaft" frei von allen Übeln, also frei von allen Juden.


Ab 1929 wurde der ökonomische Druck auf das Kleingewerbe erheblich verstärkt.


Sie gerieten von zwei Seiten unter Druck. Auf der einen Seite durch das Finanz- und Großkapital. Die Banken erhöhten die Kreditzinsen, das Großkapital fegte sie in einem gnadenlosen Konkurrenzkampf vom Markt.


Auf der anderen Seite gerieten sie durch die organisierte Arbeiterbewegung unter Druck, die die Löhne oben hielt.


Der Antisemitismus passte zur sozialen Situation des Kleinbürgertums, eingeklemmt zwischen den beiden Hauptklassen Bourgeoisie und Arbeiterklasse. Er konnte eine scheinbare Erklärung für die Misere bieten: Die jüdische Weltverschwörung. Um das deutsche Volk zu vernichten, hätten sich das jüdische Finanzkapital und die "jüdisch-bolschewistische Arbeiterbewegung" miteinander verschworen.


Auch die neuen Mittelschichten empfanden diesen Druck von oben und unten. Ebenso wie die Arbeiter verelendeten sie durch Lohndruck und Entlassungswellen. Anders als die Arbeiter hatten sie aber nicht einmal den minimalen Schutz, den Gewerkschaften und Tarifverträge boten.


So traf die Krise das Milieu der Angestellten, Professoren und Beamten noch härter als die Arbeiter. Professoren waren vom Hungertod bedroht, die Löhne von Büroangestellten und bisher gut bezahlten Technikern sanken teilweise unter das Niveau der Arbeiterlöhne.


Diese Krise war es, die dem faschistischen Pol immer mehr Menschen zutrieb. Menschen, die noch Jahre zuvor als unbescholtene, friedliche Bürger galten, schlüpften nun in das braune Hemd der NSDAP.


Entgegen ihrer Behauptung bildeten die Nationalsozialisten jedoch eine Allianz mit den Schlüsselsektionen des Großkapitals. Sie hatten gemeinsame Interessen, wie die Zerschlagung der Arbeiterbewegung.


Fritz Thyssen hatte die NSDAP schon lange unterstützt. 1931 beschlossen führende Vertreter des Großkapitals Hitler finanzielle Hilfen zu gewährleisten, darunter die Allianzversicherung und der Konzern IG Farben.


Die soziale Basis des Nationalsozialismus waren jedoch die Opfer der Krise. Deswegen fürchtete die herrschende Klasse auch die Radikalität der Bewegung.


Den Antisemitismus jedoch nahm die herrschende Klasse als Preis für die Zerschlagung der Arbeiterbewegung in Kauf. Leo Trotzki brachte dieses Verhältnis zwischen Faschismus und Kapital auf den Punkt:


"Die untergehende Bourgeoisie … braucht den Faschismus als Waffe der Selbstverteidigung, zumindest in den kritischsten Augenblicken. Die Großbourgeoisie liebt den Faschismus (aber) ebensowenig wie ein Mensch mit kranken Kiefern das Zahnziehen."


Mittel


Aus der Verdammung der Juden als Verursacher jeglichen Übels ergab sich in der Nazilogik auch die Lösung: "Die Entfernung des Juden aus dem arischen Volkskörper", wie Hitler es in "Mein Kampf" deutlich sagt. Mit welchen Mitteln das zu geschehen hatte, war Gegenstand eines längeren Entscheidungsprozesses innerhalb der Naziführung.


Die allgemeine Vorgehensweise zielte bis 1938 darauf ab, den Auswanderungsdruck auf die Juden zu erhöhen – durch den Boykott jüdischer Geschäfte und zahllose Schikanen.


Hunderttausende hatten schon Deutschland verlassen, als 1938 eine drastische Verschärfung der Gangart gegenüber Juden einsetzte.



Reichspogromnacht


Am neunten November brach der Terror offen über die Juden herein. Der Parteimob der NSDAP steckte 190 Synagogen in Brand.


Das Ziel der Reichspogromnacht war, ein Signal an die Partei zu geben, dass man es "ernst meinte". Gleichzeitig sollte in einem Gewaltakt die Bevölkerung für radikale antisemitische Politik gewonnen werden. Letzteres scheiterte komplett – die Reichspogromnacht geriet zum innenpolitischen Desaster. Die Empörung in der Bevölkerung war groß und reichte sogar in Parteikreise hinein. Die Reaktionen im Ausland waren ebenfalls von bedrohlicher Heftigkeit. Die internationale Boykott-Bewegung gegen Waren aus Nazi-Deutschland gewann an Unterstützung, und deutsche Exportfirmen verloren bis zu 30 Prozent ihres Auslandsumsatzes.


Nach der Reichspogromnacht wechselten die Nazis ihre Politik: Die "Reinigung des arischen Volkskörpers" sollte nicht mehr Sache des offen auf der Straße agierenden "Mobs" sein, sondern durch die systematische Zusammenarbeit von Institutionen des Staats und der Partei erfolgen. Damit setzte sich der Ansatz durch, der später für den Holocaust kennzeichnend wurde– die Einsetzung der Bürokratie und des kompletten Staatsapparates eines modernen Industriestaates, zur Entfernung und Vernichtung von Menschen.



Krieg


Die konkreten Umstände, die den radikalen Antisemitismus in eine industrielle Massenvernichtung münden ließen, wurden durch den Krieg gesetzt.


Mit der Eroberung Polens bekam das "Judenproblem", wie es für die Nazis bestand eine völlig neue Dimension. Die unter deutscher Herrschaft befindlichen Juden zählten nun nicht mehr Hunderttausende, sondern Millionen. Wie einer der zentralen Holocaust-Planer, der "Bevölkerungsökonom" Peter Heinz Seraphim äußerte, war die Judenfrage nun zur "bevölkerungspolitischen Massenfrage" geworden.


Die Zusammenfassung der Juden in Ghettos begann. Diese legte den nächsten Schritt in Richtung Holocaust nahe: Ausrottung durch Hunger. Denn die Ghettobewohner hatten keine Möglichkeit, ihre Existenz selbst zu sichern. Wurden die Ghettos nicht versorgt, musste der Hunger zu massenhaftem Sterben führen.



Unternehmen Barbarossa


Der Überfall auf die Sowjetunion 1941 gab den Startschuss für die Ausrottung der Juden im großen Maßstab. Der Ostfeldzug ging konform mit den Expansionszielen des deutschen Großkapitals, das sich Rohstoffe und Industrieanlagen sichern wollte.


Für die Nazis war der Krieg gegen Russland jedoch weit mehr, wie SS-Chef Himmler 1942 bei einer Rede vor dem Führungskorps der SS-Division "Das Reich" klarstellte: "Man musste sich in diesem Winter darüber klar werden, dass hier zwei Rassen brutal und bedingungslos gegeneinander kämpfen, dass hier zwei Träger des rassischen und völkischen Vernichtungskampfes vorhanden sind und vorhanden sein mussten".


Für die Nazis war die Sowjetunion die staatgewordene Ausgeburt der "jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung".


Deshalb war der Russlandfeldzug ein Vernichtungskrieg. Wohin die Wehrmacht vorrückte, folgten ihr mobile Tötungseinheiten von SS und "Sondereinsatzgruppen". In den eroberten Städten wurden die jüdischen Bezirke abgeriegelt, um sofort mit Massenerschießungen zu beginnnen. 500.000 Juden wurden bei der ersten Welle der Tötungsaktionen erschossen. 2 Millionen Juden verblieben im deutschen Einflussbereich.



Vernichtung


Auf sie warteten die Vernichtungslager, der endgültige Umschlag von Judenverfolgung in massenhafte industrielle Vernichtung. Konzentrationslager zur Internierung großer Zahlen von Häftlingen waren schon 1933 errichtet wurden. Die Idee, in solchen Lagern "am Fließband" zu morden, ergab sich aus zunehmenden Problemen mit den Sondereinsatzgruppen: Die Erschießungen erwiesen sich für die Ausführenden als dermaßen belastend und zermürbend, dass fieberhaft nach Möglichkeiten gesucht wurde, die Massenvernichtung "unpersönlicher" durchzuführen.


Die Vergasung in Lagern bot diese Möglichkeit. Sie ermöglichte den Nazis, den ungeheuren Akt des millionenfachen Mordes so rationell und bürokratisch ablaufen zu lassen, wie in jedem anderen Industriebetrieb auch.


Das Kapital war nicht die treibende Kraft hinter dem Holocaust. Als der Prozess jedoch erst mal am Laufen war, versuchten die deutschen Konzernherren, nach Kräften zu profitieren: Durch Enteignung, Zwangsarbeit und schließlich die industrielle Verwertung der Ermordeten.



Der Kapitalismus ist für den Holocaust verantwortlich. Nicht direkt, aber er schuf die Voraussetzungen, unter denen eine pathologische Bewegung die Macht ergreifen konnte.


Deswegen können die Bedingungen, die den Holocaust hervorbrachten, auch heute wieder entstehen.


Es gibt aber keinen Grund daran zu verzweifeln. Denn Hitler hätte gestoppt werden können, wenn sich die Arbeiterbewegung gegen ihn vereint hätte. Der Ausgang der zukünftigen Geschichte hängt davon ab, ob Menschen Lehren aus der Vergangenheit ziehen.

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