Niemand wird als Egoist geboren

Obwohl es unglaublichen Reichtum in unserer Welt gibt, müssen Milliarden Menschen in bitterer Armut leben. Dafür ist nicht die menschliche Natur verantwortlich.Rücksichtsloses Verhalten ist überall zu beobachten. Seien es Agrarkonzerne, die Nahrungsmittel lieber vernichten, als sie den Hungernden zu schenken. Sei es ein Vorstandsvorsitzender bei Mannesmann, der 50 Millionen Euro kassiert und darüber die Interessen der Beschäftigten und sogar der Anleger vergisst.
Auch in unserer unmittelbaren Umgebung sehen wir solches Verhalten, wenn auch auf niedrigerem Niveau. Ein Taschendieb klaut meine letzten 20 Euro, oder jemand drängelt sich an der Supermarktkasse einfach vor.
Aber zum Glück ist das nicht das einzige, was ich von den Menschen sehe. Ich habe die ungeheure Opferbereitschaft nach der Flutkatastrophe im Osten 2002 gesehen. Tausende freiwilliger und unentgeltlicher Helfer haben ihren eigenen Job riskiert, um anderen Menschen in der Not beizustehen. Auch die Spendenbereitschaft für Hilfsbedürftige in aller Welt ist, vor allem bei einfachen Leuten, stark ausgeprägt.
Der Widerspruch von Rücksichtslosigkeit und Hilfsbereitschaft entspringt der widersprüchlichen Situation, in der wir gefangen sind. Einerseits ist der Mensch ein gesellschaftliches Wesen. Ohne Zusammenarbeit, Arbeitsteilung und Koordination könnte die Gesellschaft nicht existieren. Wir würden keine Woche überleben. Das gilt gleich bleibend in der gesamten Menschheitsgeschichte seit Millionen Jahren.
Auf der anderen Seite wird im Kapitalismus die gesellschaftliche Arbeitsteilung größtenteils über den Markt geregelt. Konkurrenz ist dabei das A und O.
Dieses Prinzip belohnt systematisch den rücksichtslosesten Egoismus. Auf der Ebene der Unternehmen ist das offensichtlich. Wer es nicht schafft, die eigenen Profite über die der anderen hinaus zu steigern, geht unweigerlich unter. Die auf dem Markt überlebenden Konzerne teilen sich, was von den unterlegenen übrig bleibt.
Die Konkurrenz macht nicht vor unserer Haustür halt. In der Vergangenheit haben sich die Kapitalisten die alleinige Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel gesichert: das Land, das Wasser, die Gebäude und Maschinen. So ist die große Mehrheit gezwungen, zu verkaufen, was uns noch verblieben ist: unsere Arbeitskraft.
Darum sind wir den Spielregeln des Systems unterworfen. Wir stehen untereinander in Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Wir bestimmen nicht darüber, wie unsere Fähigkeiten eingesetzt werden und wofür.
Das Ergebnis ist oft Resignation und Frustration. „Wenn ich an der allgemeinen Ungerechtigkeit sowieso nichts ändern kann“, sagen sich viele, „ist das einzige, was zählt, dass ich selber halbwegs durchkomme.“
Immer wieder durchbrechen Menschen diesen Teufelskreis, wenn sie eine Möglichkeit sehen, gemeinsam mit anderen für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. Jeder, der einmal an einem Streik beteiligt war – egal ob an der Universität oder im Betrieb – kennt die solidarische Stimmung, die Aufopferungsbereitschaft, die alle Beteiligten erfasst.
Plötzlich sind die eigenen Interessen nicht mehr von den Interessen der anderen zu trennen. Das ist der Keim einer Gesellschaft, in der wir gemeinsam und demokratisch über unser Schicksal entscheiden und nicht mehr der Willkür der Konkurrenz und des Marktes das Feld überlassen.
Erst, wenn wir wirklich selbst bestimmen können, werden wir unsere Fähigkeit, für andere da zu sein, voll entfalten können. Das wird das endgültige Ende des künstlichen Gegensatzes „Ich oder die anderen“ sein.
Das wird aber nur möglich sein, wenn wir den Kapitalisten die Kontrolle über die Produktion entziehen; denn nicht die Natur des Menschen, sondern der Kapitalismus ist das Hindernis für eine wahrhaft gerechte Welt.
Um allerdings dahin zu kommen, müssen wir schon heute beginnen, Solidarität zu organisieren.

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