Die Arbeitswertlehre

»Aber Menschen und
Kapital sind für die Produktion genauso wichtig wie Arbeit. Wenn
das so ist, dann soll auch das Kapital seinen Anteil am Gewinn
bekommen, genauso wie die Arbeit. Jeder Produktionsfaktor soll einen
Anteil bekommen.«

So würde jemand, der
von bürgerlichen Wirtschaftstheorien beeinflußt ist, gegen
die marxistische Analyse von der Ausbeutung und des Mehrwerts
argumentieren. Auf den ersten Blick scheint der Einwand
gerechtfertigt. Denn ohne Kapital lassen sich doch ganz sicher keine
Produkte herstellen. Die Marxisten haben niemals das Gegenteil
behauptet! Aber unser Ausgangspunkt unterscheidet sich von dem der
bürgerlichen Theoretiker. Wir fragen erst einmal: Woher kommt
das Kapital? Wie sind die Produktionsmittel ursprünglich
entstanden?

Die Antwort darauf zu
finden, ist nicht schwer. Alles was die Menschen in ihrer Geschichte
benutzt haben, um zu produzieren (sei es eine neolithische Steinaxt
oder ein moderner Computer), ist einmal durch menschliche Arbeit
hergestellt worden, selbst wenn die Axt mit Werkzeugen hergestellt
wurde. Denn auch diese wurden zuvor durch Arbeit erzeugt.

Deshalb verwandte Karl Marx
auch den Begriff der vergangenen oder toten Arbeit, wenn er von
Produktionsmitteln sprach. Wenn Unternehmer stolz von ihrem Kapital
reden, das sie besitzen, so handelt es sich in Wahrheit um die Arbeit
vergangener Generationen – und zwar keineswegs um die ihrer eigenen
Vorfahren, die ebensowenig gearbeitet haben wie sie selbst.

Die Lehre von der Arbeit
als Quelle allen Reichtums – die Arbeitswertlehre – war nicht die
Entdeckung von Karl Marx. Alle bürgerlichen Ökonomen vor
Marx vertraten diese Lehre.

Männer wie der
schottische Ökonom Adam Smith oder der englische Ökonom
Ricardo verfaßten ihre Schriften zu einer Zeit, als der
industrielle Kapitalismus noch ziemlich jung war – in den Jahren kurz
vor und nach der französischen Revolution von 1789; die
Kapitalisten hatten damals noch keine vorherrschende Stellung
erlangt.

Mit der Entwicklung des
Kapitalismus wurde es notwendig, zu begreifen, was die Quelle des
Reichtums war. Die Theorie von Smith und Ricardo erklärte, daß
die Arbeit den Reichtum schaffe und daß es deshalb erfoderlich
sei, die Arbeit von jeder Kontrolle und Beschränkung durch die
alten, vorkapitalistischen Herrscherklassen zu "befreien",
damit der Reichtum wachsen könne.

Aber es dauerte nicht
lange, bis andere Denker aus dem Umfeld der Arbeiterklasse dieses
Argument gegen die Freunde von Smith und Ricardo kehrten: wenn Arbeit
den Reichtum schaffe, dann schaffe Arbeit auch das Kapital. Und die
"Rechte des Kapitals" sind dann nichts anderes als die
Rechte gestohlener Arbeit. Bald erklärten die bürgerlichen
Ökonomen die Arbeitswertlehre für ungültig. Aber wenn
man die Wahrheit zum Hauptportal hinauswirft, kehrt sie gewöhnlich
durch den Hintereingang zurück.

Man braucht sich nur die
Kommentare während des Stahlarbeiterstreiks um den Einstieg in
die 35-Stunden-Woche vom Winter 78/79 in Erinnerung zu rufen. Da
waren täglich die Zeitungen voll damit, daß die
Arbeitsleistung gefährdet sei, daß eine nationale
Katastrophe drohe, wenn weniger gearbeitet würde. Lassen wir
einmal außer acht, ob das Argument stimmt oder nicht. Achten
wir lieber darauf, wie die Begründungen lauten. Da war nie die
Rede davon, daß die "Maschinen weniger arbeiten"
würden. Nein, es ging stets um die Menschen, um die Arbeiter.

Da war immer die Rede
davon, daß bei kürzerer Arbeitszeit weniger produziert
würde, und daß sich das zum Schlechten auf die Anschaffung
neuer Maschinen und Anlagen auswirken würde. Die Menschen, die
so schrieben, waren sich bestimmt nicht dessen bewußt, daß
sie nichts anderes sagten, als daß mehr Arbeit auch mehr
Kapital bedeute. Oder daß Arbeit die Quelle des Reichtums der
Kapitalisten ist.

Nehmen wir an, ich habe
einen Zehnmarkschein in der Tasche. Warum ist es nützlich, ihn
zu besitzen? Schließlich ist es nur ein Stück bedrucktes
Papier. Sein Wert besteht für mich darin, daß ich im
Tausch für den Geldschein etwas Brauchbareres bekommen kann, was
durch die Arbeit anderer geschaffen worden ist. Der Geldschein ist
daher nichts anderes als ein Anrecht, ein Titel auf eine
entsprechende Menge Arbeit. Ein Zwanzigmarkschein auf doppelt soviel
Arbeit usw.

Wenn wir Reichtum messen
wollen, dann messen wir nichts anderes als die Arbeit, die für
seine Produktion notwendig war.

Natürlich schafft
nicht jeder in einer bestimmten Zeit mit seiner Arbeit so viel wie
ein anderer. Wenn ich mich z.B. daran machte, einen Tisch
herzustellen, dann würde ich mit Sicherheit mindestens fünf-
bis sechsmal soviel Zeit dafür wie ein gelernter Tischler
brauchen. Aber niemand, der nur ein bißchen Grips im Kopf hat,
käme auf die Idee zu behaupten, mein Tisch sei fünf- oder
sechsmal soviel wert wie der eines gelernten Tischlers. Stattdessen
würde man den Wert danach schätzen, wie lange der Tischler
arbeiten müßte, um ihn herzustellen, nicht aber wie lange
ich dazu bräuchte.

Nehmen wir an, ein Tischler
würde eine Stunde brauchen, um einen Tisch herzustellen. Dann
würden wir sagen, der Wert des Tisches gleiche einer Stunde
Arbeit. Das ist die Arbeitszeit, die für die Herstellung eines
Tisches notwendig ist, wobei ein bestimmter Stand der Technik und der
beruflichen Qualifikation, wie er in unserer Gesellschaft heute
vorherrscht, zugrunde zu legen ist.

Deshalb bestand Marx
darauf, daß das Maß des Wertes irgendeines Produktes
nicht einfach die Zeit sein könne, die irgendjemand zu seiner
Herstellung braucht, sondern die Zeit, die ein Mensch mit
durchschnittlicher Qualifikation und mit durchschnittlicher
technischer Ausrüstung dazu braucht. Marx nannte diese
durchschnittlich notwendige Arbeitszeit auch die gesellschaftlich
notwendige Arbeitszeit.

Diese Aussage ist sehr
wichtig, da im Kapitalismus ständig technische Neuerungen
stattfinden, was gleichbedeutend ist damit, daß immer weniger
Arbeit nötig ist, um eine Sache herzustellen.

Als z.B. Radios noch mit
Elektroröhren hergestellt wurden, waren sie ziemlich teuer, weil
viel Arbeit notwendig war, um die Röhren herzustellen, sie zu
verdrahten usw. Dann wurde der Transistor entwickelt, der mit weniger
Arbeit verdrahtet und hergestellt werden konnte.

Plötzlich war die
Arbeit all jener Arbeiter viel weniger wert, die immer noch
Röhrenradios herstellten. Denn der Wert der Radios wurde nun
nicht mehr nach der Arbeitszeit bestimmt, wie sie bei der Verwendung
von Röhren notwendig war, sondern stattdessen nach der Zeit, die
nötig war, um sie mit Transistoren herzustellen.

Eine letzte Anmerkung
hierzu. Die Preise der Waren schwanken beträchtlich – oft genug
innerhalb von Wochen oder Tagen. Diese Schwankungen können durch
ganz andere Faktoren als die Arbeitszeit hervorgerufen werden, die zu
ihrer Herstellung notwendig ist.

Wenn in Brasilien die
Kaffeepflanzen durch Frost vernichtet werden, steigen die
Kaffeepreise in der ganzen Welt, weil es zu einer Kaffeeknappheit
kommen kann und die Menschen bereit wären, einen höheren
Preis zu bezahlen. Wenn morgen durch eine Naturkatastrophe in
Deutschland alle Autos zerstört würden, dann schössen
ohne Zweifel die Autopreise steil in die Höhe. Was die Ökonomen
mit "Angebot und Nachfrage" bezeichnen, beeinflußt
ganz sicher die Preisschwankungen.

Deshalb sagen viele
bürgerliche Ökonomen, daß die Arbeitswertlehre
unsinnig sei. Sie sagen, daß nur Angebot und Nachfrage den
Preis beeinflussen. Aber das ist Unsinn. Denn bei diesem Argument
vergessen sie, daß schwankende Dinge immer um eine mittlere
Linie schwanken. Das Meer steigt und fällt mit den Gezeiten.
Aber das bedeutet nicht, daß wir nicht von einer mittleren Höhe
ausgehen, die wir als "Meereshöhe" bezeichnen.

Ähnlich ist es mit den
Preisen. Die Tatsache, daß sie von Tag zu Tag schwanken,
schließt keineswegs aus, daß sie um einen bestimmten
festen Wert schwanken. Wenn nach unserem Beispiel heute alle Autos
vernichtet würden, dann gäbe es eine große Nachfrage
nach den ersten neu produzierten Autos und sie wären sehr teuer.
Aber es würde nicht lange dauern, bis es wieder immer mehr Autos
auf dem Markt gäbe, und durch die Konkurrenz der verschiedenen
Hersteller würde der Preis auf ihren Wert sinken, gemessen an
der Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung notwendig ist.

Konkurrenz und
Akkumulation

Es gab eine Zeit, da schien
es, als wäre der Kapitalismus ein dynamisches und
fortschrittliches System. Den größten Teil der
Menschheitsgeschichte hatten Frauen und Männer unter Plackerei
und Ausbeutung gelitten. Der Industriekapitalismus hat
daran erst einmal nichts geändert, seit er sich mit dem 18. und
19. Jahrhundert rasch ausbreitete.

Aber es
schien, als bekämen Plackerei und Ausbeutung nun einen
nützlichen Zweck. Statt riesige Reichtümer für das
Luxusleben einiger schmarotzender Aristokraten oder für den Bau
von Luxusgräbern toter Könige oder für sinnlose
Erbfolgekriege zu verschwenden, schaffte der Kapitalismus mit seinen
Reichtümern die Voraussetzungen und Mittel, um noch mehr
Reichtum hervorzubringen. Der Aufstieg des Kapitalismus war eine
Periode des Wachstums der Industrie, der Städte und
Transportwege. Und das alles vollzog sich in einem Tempo, das nie
zuvor in der Geschichte auch nur annähernd erreicht worden war.

Die ersten Textilfabriken
Englands – Oldham, Halifax oder Bingley – waren Weltwunder. Niemals
zuvor in der Menschheitsgeschichte waren so große Mengen Wolle
und Baumwolle in so kurzer Zeit zu Stoffen verarbeitet worden, mit
denen Millionen eingekleidet werden konnten. Das war nicht
irgendwelchen Wundergaben der Kapitalisten zu verdanken. Die kannten
schon immer nur ein Ziel: nämlich möglichst viel Reichtum
an sich zu reißen, indem sie möglichst wenig für die
von ihnen beanspruchte Arbeit ausgaben.

Viele herrschende Klassen
vor ihnen haben sich genauso verhalten, ohne eine Industrie
aufzubauen. Denn die Kapitalisten unterschieden sich in zwei
wichtigen Punkten.

Der erste Unterschied war:
sie besaßen keine Arbeiter, sondern bezahlten ihnen stattdessen
stundenweise ihre Fähigkeit zu arbeiten, ihre Arbeitskraft. Sie
setzten Lohnsklaven statt Sklaven ein. Zweitens verbrauchten sie
nicht selbst die Güter, die von ihren Arbeitern hergestellt
wurden. Der Feudalherr lebte direkt von dem Fleisch, Brot, Käse,
Wein, die seine Leibeigenen produzierten. Der Kapitalist lebte davon,
daß er die Güter, die von seinen Arbeitern hergestellt
wurden, an andere Menschen weiter verkaufte.

Das gab den einzelnen
Kapitalisten weniger Freiheit als dem einzelnen Feudalherren oder
Sklavenhalter. Um Waren zu verkaufen, mußte der Kapitalist
diese so billig wie möglich herstellen. Der Kapitalist besaß
die Fabrik und konnte innerhalb dieser schalten und walten, wie er
wollte. Aber er konnte seine Allmacht nicht nutzen, wie er wollte. Er
mußte sich den Anforderungen der Konkurrenz mit anderen
Fabriken beugen.

Nehmen wir das Beispiel
unserer Lieblingskapitalistin, Frau Mustermann. Nehmen wir an, daß
in ihrer Fabrik in zehn Arbeitsstunden eine bestimmte Menge Wolle in
Tuch verwandelt wurde, daß aber in einer anderen Fabrik die
gleiche Menge Tuch in nur fünf Arbeitsstunden hergestellt werden
konnte. Frau Mustermann wäre nicht in der Lage, für ihr
Tuch den entsprechenden Wert von zehn Arbeitsstunden zu verlangen.
Niemand würde ihr diesen Preis bezahlen, wenn man gerade um die
Ecke das Tuch zum halben Preis bekommen könnte.

Ein jeder Kapitalist, der
überleben will, muß dafür sorgen, daß seine
Arbeiter so schnell wie möglich arbeiten. Aber das ist noch
nicht alles. Er muß auch dafür sorgen, daß seine
Arbeiter mit den modernsten Maschinen arbeiten, damit ihre Arbeit
ebensoviel Güter in einer Stunde hervorbringt wie die Arbeit
jener, die für eine andere Fabrik arbeiten. Der Kapitalist, der
im Rennen bleiben will, muß sicherstellen, daß er immer
größere Mengen Produktionsmittel besitzt oder – wie Marx
es ausdrückte – er muß Kapital akkumulieren.

Der Wettbewerb zwischen den
Kapitalisten schuf eine Macht: das Marktsystem, das jeden und alle
Kapitalisten im Griff hatte. Diese Macht zwang sie, das Arbeitstempo
ständig zu verschärfen und soviel wie möglich in neue
Maschinen und Anlagen zu investieren. Und sie konnten sich die neuen
Maschinen nur leisten, wenn sie die Löhne ihrer Arbeiter so
niedrig wie möglich hielten.

Marx sagt in seinem
Hauptwerk "Das Kapital", daß der Kapitalist sich wie
ein Schatzbildner verhält, besessen davon, mehr und mehr
Reichtum zu bekommen. Aber:


»Was aber bei
diesem als individuelle Manie (persönliche Besessenheit)
erscheint, ist beim Kapitalisten Wirkung des gesellschaftlichen
Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist … Die Entwicklung der
kapitalistischen Produktion macht eine fortwährende Steigerung
des in einem industriellen Unternehmen angelegten Kapitals zur
Notwendigkeit, und die Konkurrenz herrscht jedem individuellen
Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen
Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf. Sie zwingt
ihn, sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten,
und ausdehnen kann er es nur vermittels progressiver Akkumulation …

Akkumuliert,
akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!«

Produziert wird nicht zur
Befriedigung menschlicher Bedürfnisse – nicht einmal der
Bedürfnisse der Kapitalistenklasse – sondern, um es einem
Kapitalisten zu ermöglichen, gegen den anderen zu konkurrieren.

Die Arbeiter des einen
Kapitalisten erfahren, daß ihr Leben vom Zwang ihres
Kapitalisten beherrscht wird, rascher als seine Konkurrenz zu
akkumulieren.

Wie Marx im Kommunistischen
Manifest schrieb:


»In der
bürgerlichen Gesellschaft ist die lebendige Arbeit nur ein
Mittel, die angehäufte Arbeit zu vermehren … Das Kapital ist
selbständig und persönlich, während das tätige
Individuum unselbständig und unpersönlich ist.«

Der Zwang
für die Kapitalisten, in Konkurrenz miteinander zu akkumulieren,
erklärt den großen Sprung nach vorn, den die Industrie in
den Anfangsjahren ihrer Entwicklung durchgemacht hat. Aber etwas
anderes entstand zugleich: wiederkehrende Wirtschaftskrisen. Krisen
sind nichts Neues. Sie sind so alt wie das System selbst.

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