Die revolutionäre Partei

Der Dreh- und Angelpunkt
des Marxismus ist, daß die Entwicklung des Kapitalismus selbst
die Arbeiter dazu treibt, gegen das System zu revoltieren.

Wenn solche Revolten
beginnen – sei es als Massendemonstrationen, als bewaffneter Aufstand
oder auch nur als große Streikwelle – entwickelt sich das
Bewußtsein der Arbeiterklasse mit erstaunlichem Tempo. Die
ganze geistige Energie, die die Arbeiter bis dahin auf hundertundeine
Weise verplempert hatten – angefangen mit Fußball über die
Bildzeitung bis zum Fernsehen – richten sie plötzlich auf das
eine Ziel: wie man die Gesellschaft verändern kann. Millionen
Menschen, die sich diesem Problem zuwenden, bringen dann Lösungen
hervor, die nicht nur die herrschende Klasse, sondern oftmals auch
"gestandene" Revolutionäre verblüffen.

So wuchs in der ersten
russischen Revolution 1905 eine völlig neue Form von
Arbeiterorganisation heran – der Sowjet oder Arbeiterrat aus einem
Streikkomitee, das während eines Druckerstreiks gebildet worden
war. Zunächst begegneten sogar die Entschlossensten unter den
revolutionären Sozialisten, die Bolschewiki, den Sowjets mit
Mißtrauen. Sie glaubten nicht, daß die bis dahin
unpolitischen Arbeiter plötzlich in der Lage sein sollten,
wirklich revolutionäre Kampforgane hervorzubringen.

Ähnliche Erfahrungen
kann man in vielen Streiks machen. Die etablierten Vertreter sehen
sich überrascht, wenn Arbeiter, die bis dahin "rechts"
von ihnen standen und ihre Ratschläge in den Wind schlugen,
plötzlich selbst kämpferische Aktionen entwickeln.

Diese Spontaneität
ist absolut wichtig.

Aber es ist falsch, daraus
den Schluß zu ziehen – wie es die Anarchisten und Spontis tun –
daß diese Spontaneität eine revolutionäre Partei
überflüssig mache.

In einer revolutionären
Situation ändern Millionen Arbeiter ihre Ansichten unglaublich
schnell. Aber sie ändern nicht alle ihre Ideen auf einen Schlag.
In jedem Streik, jeder Demonstration, jedem bewaffneten Aufstand gibt
es wiederkehrende Argumente. Einige Arbeiter sehen ihre Aktionen als
Auftakt zur Revolution, andere kämpfen nur halbherzig mit, weil
sie meinen, daß ihre Aktionen die "natürliche
Ordnung" stört. In der Mitte steht die Masse der Arbeiter,
die zwischen beiden Vorstellungen schwankt.

Auf der einen Seite wird
die herrschende Klasse ihre ganze Propagandaindustrie, Zeitungen,
Fernsehen und Radio benutzen, um die Aktionen der Arbeiter zu
verleumden. Sie wird darüber hinaus ihre bewaffnete Gewalt
einsetzen, von der Polizei und Armee bis hin zu faschistischen
Organisationen, um die Arbeiterbewegung zu zerschlagen.

Auf der Seite der Arbeiter
muß es dann eine Organisation von Sozialisten geben, die die
Lehren aus den vergangenen Klassenkämpfen in die Gegenwart
einbringen können, die die Argumente für den Sozialismus in
die Waagschale werfen können. Es muß eine Organisation
geben, die die wachsenden Erfahrungen der Arbeiter im Kampf
zusammenbringt, damit es eine einheitliche Aktion zur Änderung
der Gesellschaft gibt.

Und diese revolutionäre
sozialistische Partei muß vorhanden sein, noch bevor der Kampf
beginnt, denn diese Art der Organisation entsteht nicht spontan. Die
Partei entsteht durch eine ständige Erprobung von
sozialistischen Ideen und Erkenntnissen auf der "Teststrecke"
der täglichen Klassenauseinandersetzungen.

Es reicht nicht aus, die
Gesellschaft zu verstehen. Nur durch die Anwendung solcher Ideen und
Theorien im täglichen Klassenkampf, in Streiks, Demonstrationen
und Kampagnen werden die Arbeiter sich ihrer Stärke bewußt,
etwas verändern zu können, und daraus das nötige
Selbstbewußtsein entwickeln.

An bestimmten Wendepunkten
kann das Eingreifen einer sozialistischen Partei entscheidend sein,
kann sie das Kräftegleichgewicht umkippen lassen zugunsten der
revolutionären Machtübernahme durch die Arbeiter, zugunsten
einer sozialistischen Gesellschaft.

Die revolutionäre
sozialistische Partei muß demokratisch sein. Um ihre Rolle
erfüllen zu können, muß die Partei ständig in
Kontakt mit dem Klassenkampf stehen, und das heißt, in Kontakt
mit ihren eigenen MitgIiedern und Anhängern in den Betrieben, wo
die Kämpfe stattfinden. Sie muß demokratisch sein, damit
ihre Führung stets die gemeinsamen Erfahrungen des Kampfes
aufnehmen kann.

Gleichzeitig ist diese
Demokratie nicht einfach ein Wahlsystem, sondern eine ständige
Auseinandersetzung innerhalb der Partei – eine ständige
Wechselwirkung zwischen den sozialistischen Ideen der Partei und den
Erfahrungen des Klassenkampfes.

Aber die revolutionäre
Partei muß auch zentralistisch sein, weil sie eine aktive
Partei ist und kein Diskussionsclub. Sie muß fähig sein,
geschlossen in den Klassenkampf einzugreifen und schnell zu
reagieren. Deshalb braucht sie eine Führung, die die täglichen
Entscheidungen im Namen der Partei treffen kann.

Wenn die Regierung z.B. die
Verhaftung von Streikposten anordnet, muß die Partei sofort
reagieren, ohne Konferenzen einberufen zu müssen, um erst einmal
demokratische Entscheidungen zu fällen. Die Parteiführung
entscheidet zunächst und auf dieser Grundlage handeln die
Parteimitglieder. Die Demokratie kommt danach ins Spiel, wenn die
Partei diskutiert, ob die Entscheidung richtig war oder nicht – und
möglicherweise die Führung auswechselt.

Die revolutionäre
Partei muß ein ausgewogenes Verhältnis von Demokratie und
Zentralismus finden. Der Ausgangspunkt ist, daß die Partei kein
Selbstzweck ist, sondern ein Mittel, um den revolutionären
Wandel zum Sozialismus zu organisieren – und das kann nur durch
Klassenkampf erreicht werden.

Deshalb muß sich die
Partei ständig den Kämpfen selbst anpassen. Wenn die Kämpfe
schwach sind und nur wenig Arbeiter an die Möglichkeit einer
revolutionären Veränderung glauben, dann wird die Partei
auch klein sein – es sei denn, sie verwässert ihre eigenen
politischen Ideen, um mehr Mitglieder zu gewinnen. Aber wenn es zu
einem Aufschwung von Klassenkämpfen kommt, ändern viele
Arbeiter ihre Ansichten sehr schnell, weil sie im Kampf ihre Stärke
erfahren – dann muß die Partei in der Lage sein, ihre Türen
zu öffnen. Gelingt es der Partei in einer solchen Situation
nicht, rasch zu wachsen, wird sie in der Isolation bleiben.

Die Partei kann die
Arbeiterklasse nicht ersetzen. Sie muß Teil des Klassenkampfes
sein und ständig versuchen, die klassenbewußtesten
Arbeiter zusammenzubringen, um so eine Führung für den
Kampf herzustellen. Die Partei kann der Arbeiterklasse auch nicht
befehlen. Sie kann sich nicht einfach zur Führung erklären,
sondern muß diese Position erringen, indem sie die Richtigkeit
ihrer Ideen in der Praxis beweist – vom kleinsten Streik bis zur
Revolution.

Einige Leute meinen, daß
die revolutionäre Partei ein Vorläufer des Sozialismus sei.
Das ist völlig falsch. Sozialismus kann nur entstehen, wenn die
Arbeiterklasse die Kontrolle über die Produktionsmittel
übernimmt und diese einsetzt, um die Gesellschaft zu verändern.

Wir können keine
sozialistische Insel im Meer des Kapitalismus sein. Versuche von
kleinen Gruppen von Sozialisten, sich diesem Meer zu entziehen und
ein Leben entsprechend den sozialistischen Ideen zu führen, sind
auf Dauer alle gescheitert – denn der wirtschaftliche und
ideologische Druck bleibt. Solche kleinen Gruppen versuchen, sich vom
Kapitalismus zu isolieren und isolieren sich gleichzeitig von der
Arbeiterklasse, die als einzige den Sozialismus erkämpfen kann.

Sozialisten kämpfen
selbstverständlich täglich gegen die erniedrigenden
Auswirkungen des Kapitalismus, gegen Rassismus, Sexismus, Ausbeutung,
Brutalität. Aber wir können das nur, wenn wir uns auf die
Stärke der Arbeiterklasse stützen.

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