Markt und Plan im Sozialismus

In der klassischen marxistischen Tradition wird die sozialistische Revolution alsein politischer Umbruch gesehen – die Zerschlagung des bestehenden Staates und seine
Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiterräte. Aber dieser Abschnitt, so
entscheidend er ist, um (wie Marx schrieb) "den Staat von einer Institution,
die über der Gesellschaft steht, in eine, die ihr vollständig untergeordnet ist,
zu verwandeln
"2, stellt nur den Beginn eines wesentlich längeren und umfangreicheren
Umgestaltungsprozesses dar. Marx beschrieb die Diktatur des Proletariats, die er mit den umfassend demokratischen Formen der Pariser Kommune gleichsetzte, als "nichts mehr als den Übergang zur Abschaffung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft"3.

Der Aufbau einer kommunistischen
Gesellschaft wird in der revolutionären Tradition verstanden als ein Prozeß, der
verschiedene Phasen umfaßt, die durch unterschiedliche Verhaltensweisen gekennzeichnet
sind: So unterschied Marx in der Kritik des Gothaer Programms niedrige und höhere Phasen
des Kommunismus: Während der niedrigen (der Diktatur des Proletariats), wird das Sozialprodukt
nach dem Prinzip "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner
Arbeitsleistung
" verteilt
werden; die Ungleichheiten, zu denen dies führen wird, da die Menschen sich sowohl in ihrer
Leistungsbereitschaft wie in ihrer Begabung unterscheiden, wird in einer "höhern Phase der
kommunistischen Gesellschaß
", in der sowohl die höhere Entwicklung der
Produktivkräfte[4]

wie die Veränderung der persönlichen Motivationen die Anwendung eines neuen Verteilungsprinzips
ermöglicht: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen!
"5 […]

Politischer Rahmen

Sozialismus im Sinne eines Übergangszeitraums zwischen
Kapitalismus und Kommunismus darf deshalb weniger im Hinblick auf irgendwelche besonderen
wirtschaftlichen Maßnahmen � wie beispielsweise die Verstaatlichung der Produktionsmittel �
verstanden werden, sondern als der politische Rahmen, basierend auf der Rätedemokratie, in der
die kapitalistischen Produktionsbeziehungen nach und nach beseitigt werden. […]

Dieser Übergangszeitraum wird in wirtschaftlicher Hinsicht durch unterschiedliche
Kombinationen von sozialistischer Planung und Marktmechanismen gekennzeichnet sein.
Jedoch darf man Markt und Plan nicht als gesellschaftlich neutrale Techniken begreifen:
sie repräsentieren zwei unterschiedliche Produktionsverhältnisse � Kapitalismus beziehungsweise
Kommunismus � die im gegenseitigen Konflikt innerhalb eines sozialistischen politischen Ordnung
nebeneinander bestehen. Die Diktatur des Proletariats wird im klassischen Marxismus als eine
Vorbedingung für den Kommunismus begriffen: deshalb ist das Verhältnis von Plan und Markt
dergestalt, daß der erstere sich zunehmend gegenüber dem letzteren durchsetzt.

Die Übergangsperiode ist kein statischer »Marktsozialismus«, sondern durch eine
dynamische, vom Markt wegführende Bewegung gekennzeichnet. Den Markt als grundlegenden
Regulierungsmechanismus des wirtschaftlichen Lebens zu bewahren heißt, Bedingungen
aufrechtzuerhalten, die aller Wahrscheinlichkeit nach soziale Ungleichheiten schaffen,
die eine neue Basis für die Ausbeutung darstellen, und die dazu neigen, heftige Schwankungen
der Produktion, Arbeitslosigkeit und ungehinderte Umweltverschmutzung zu verursachen. […]

[Nove6] argumentiert, daß
[eine kommunistische Gesellschaft ohne Markt] Überfluß
voraussetzt, definiert als "die Möglichkeit, alle Bedürfnisse kostenlos zu
erfüllen, so daß keine vernünftige Person unzufrieden ist oder mehr von irgend etwas
(oder zumindest von irgendeinem reproduzierbaren Gut) zu erlangen sucht
".
Eine solche Situation würde "Konflikte um die Verwendung von Mitteln" beseitigen,

"da definitionsgemäß für jeden genug da ist, so daß es keine sich wechselseitig ausschließenden
Wahlmöglichkeiten gibt, daher keine Möglichkeit [der Bedürfnisbefriedigung] ungenutzt
bleibt und es deswegen auch keine
Opportunitätskosten
7 gibt". Nove weist diese Annahme
als utopisch zurück.

Bedürfnisse

Betrachten wir seine Behauptung, die bleibende relative Knappheit [an Gütern] die
Aufrechterhaltung des Markts unvermeidlich macht.
Sie bedeutet nichts anderes als ein Standardaxiom der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die Annahme
der Unstillbarkeit der menschlichen Bedürfnisse. Die Wünsche sind unbegrenzt: Die Befriedigung eines
Wunsches in einem bestimmten Ausmaß bewirkt einfach entweder das Verlangen nach seiner intensiveren
Befriedigung oder seine Ersetzung durch einen neuen Wunsch. Diese Entwicklung schafft immer wieder
neue Knappheit und deshalb Konflikte.
Der Markt stelle den wirksamsten und demokratischten Mechanismus zur Lösung dieser Konflikte dar,
indem er die Stärke der Bedürfnisse verschiedener Menschen nach einem bestimmtem Gut an dem
Geldbetrag mißt, den sie bereit sind, für es zu bezahlen. Die Voraussetzung dieses Arguments �
die Unstillbarkeit der Wünsche � kann von Marxisten nicht einfach verworfen werden, da sie eine
dynamische Auffassung der menschlichen Natur vertreten. Marx schrieb beispielsweise: "Der
Mensch unterscheidet sich von allen anderen Tieren durch die Unbegrenztheit und Veränderlichkeit
seiner Bedürfnisse.
"

Die Entwicklung der Produktivkräfte[8] führt zur
Ausweitung der menschlichen Möglichkeiten ebenso wie der menschlichen Bedürfnisse, auch wenn
viele der letzteren in einer Klassengesellschaft unbefriedigt bleiben oder nur in einem begrenzten
Maß erfüllt werden. Aber Bedürfnisse sind nicht das gleiche wie Wünsche. Sogar die Umgangssprache
unterscheidet zwischen den beiden Begriffen. Es ist möglich, x zu benötigen, ohne sich dessen bewußt
zu sein, aber dem Betreffenden ist es notwendig bewußt, sich x zu wünschen. Dieser begriffliche
Unterschied zeigt die größere Objektivität der Bedürfnisse, die ihren Ursprung in den grundlegenden
Interessen eines Menschen, nicht in den vorübergehenden Vorlieben haben. […]

Geras[9] folgert daraus, daß der Kommunismus verbunden ist
mit "Überfluß in
Bezug auf «vernünftige» Bedürfnisse, der, so umfangreich und reichlich er auch sein könnte,
dennoch weil entfernt von jeder Phantasie eines unbegrenzten Überflusses wäre
".

Überfluß

Wenn wir solche «vernünftigen» Bedürfnisse im wesentlichen mit den
Bedürfnissen gleichsetzen, die zuweilen als »Grundbedarf« an solchen Dingen wie Nahrung,
Kleidung, Wohnung, Heizung, Licht, Bildung und Transport bezeichnet werden, wird klar, daß in Bezug auf
diese Güter Überfluß im Sinne Noves � kostenlose Versorgung � erreicht werden kann.
Lange[10] erkannte, daß die Nachfrage für bestimmte
Güter (er benutzt Salz als Beispiel) tendenziell inelastisch wird:

"Wenn der Preis eines solchen Gutes unter und das Einkommen der Konsumenten über
einem bestimmten Minimum ist, dann wird dieses Gut behandelt als wäre es ein freies Gut."
In den Fällen, in denen die Nachfrage nach Gütern auf diese Weise befriedigt werden kann, "kann die
freie Vergabe als Verteilungsmethode angewandt
werden.
"11 […]
Es gibt natürlich unzählige Einwände gegen die Vorstellung einer Wirtschaft, in der die
Grundbedürfnisse durch die freie Verteilung der Güter und Dienstleistungen befriedigt werden.
Hinige sind ausschließlich wirtschaftlicher Natur und betreffen beispielsweise die Schwierigkeiten,
die offensichtlich dadurch entstehen, daß es auch bei Grundbedürfnissen unterschiedliche Möglichkeiten
ihrer Befriedigung gibt � jeder braucht Kleidung, aber wer würde in einer Gesellschaft leben wollen, in
der alle gleich anzogen sind? �, und daß sich die Grenzen zwischen Grund- und Luxusbedürfnissen, die durch
technischen Fortschritt und steigende Erwartungen entstehen (man denke beispielsweise an die Bedeutung,
die langlebigen Konsunigütern wie Fernsehgeräten und Waschmaschinen in modernen Industriegesellschaften
erlangt haben), beständig verschieben.

Es scheint aber dennoch nichl so, als daß dies unüberwindliche Schwierigkeiten für eine kommunistische
Gesellschaft darstellen würde: Es könnten beispielsweise Mittel für Gruppen von Menschen bereitgestellt
werden, die Neuerungen entwickeln wollen und Mechanismen (die auch begrenzte Formen des Markts umfassen)
könnten angewendet werden, um zu prüfen, ob es einen gesellschaftlichen Bedarf für ihre Güter gibt. Es
ist zudem klar, daß mehr über das Wesen demokratischer Formen der Planung, die auch horizontale
Beziehungen zwischen unterschiedlichen Produktionseinheiten und zwischen Produzenten und Verbrauchern
umfassen, nachgedacht werden muß und weniger über die vertikalen Strukturen der stalinistischen
Kommandowirtschaft, die durch die bindende Kontrolle zentraler Planstellen, Industrieministerien
und Unternehmen gekennzeichnet sind. Aber es ist nichts als neoliberaler Dogmatismus, darauf zu
bestehen, wie es Nove und andere Wissenschaftler, die seiner Denkweise folgen, tun, daß die einzige
Form, die diese Beziehungen annehmen können, die des Markts ist.

Menschliche Natur

Eine zweite Gruppe von Einwänden betreffen die ihnen zufolge
überzogenen Anforderungen, die in einer solchen Gesellschaft an die menschliche Natur gestellt
werden. Steht es nicht fest, daß das Wachstum an Produktivität und Produktion,
das benötigt wird, um selbst den "vernünftigen" Überfluß, den Geras verteidigt,
aufrechtzuerhalten, nur durch materielle Anreize erreicht werden kann, die sich aus Belohnungen
für individuelle Anstrengungen, die dem für das Ergebnis dieser Anstrengung auf dem Markt erzielten
Preis entsprechen, ergeben? Und wenn dem so ist, dann ist eine kommunistische Gesellschaft ein
begrifflicher Widerspruch, da ihre materiellen Voraussetzungen von der Existenz des Markts abhängen.

Marx erkennt tatsächlich die Notwendigkeit materieller Anreize in der Übergangszeit zum
Kommunismus, in der die Einkommensunterschiede die Anteile der Individuen an der Produktion
widerspiegeln, an. Aber die Sache verhält sich im Kommunismus selbst anders, in dem das
Sozialprodukt nach den Bedürfnissen, nicht nach der Arbeitsleistung verteilt wird. Marx
beschreibt die Voraussetzungen dieser Situation in einem berühmten Abschnitt der Kritik
des Gothaer Programms:
"In einer höhern Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die
knechtende Unterordnung des Einzelnen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz
zwischen geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem Arbeit nicht nur Mittel
zum Leben, sondern das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der
Individuen auch die Produktivkräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossenschaftlichen
Reichtums voller fließen � erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten
werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach
seinen Bedürfnissen.
"[12]

Die wesentliche Behauptung, die Marx hier aufstellt, ist möglicherweise,
daß im Kommunismus die Arbeit sich zum "ersten Lebensbedürfnis" entwickeln wird.
Das spiegelt die für seine Theorie der menschlichen Natur zentrale Auffassung wider, daß die Arbeit
nicht nur die Aktivität
darstellt, mittels derer Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen, sondern auch, potentiell, den Bereich,
in dem sie sich am umfassendsten selbst verwirklichen können. Dieser Unterschied wird durch eine
wunderbare Beobachtung, die in Marx‘ ökonomischen Manuskripten enthalten ist:
"Milton produzierte «Paradise Lost» aus dem gleichen Grund,
aus dem eine Seidenraupe Seide produziert.
Es war eine seinem Wesen entsprechende Aktivität. Später verkauft
er das Produkt für £5.
"13

Marx sagt voraus, daß die Menschen dann, wenn ihre Grundbedürfnisse befriedigt sind, Erfüllung durch
solche Formen der Arbeit erreichen, die
sie als "ihrem Wesen entsprechende Aktivitäten" wahrnehmen.
Marx glaubt allerdings
nicht, daß "Arbeit [ , die] travail attractif[14]
Selbstverwirklichung des
Individuums sei, … bloßer Spaß sei, bloßes amusement
[15], wie Fourier es sehr grisettenmäßig[16]

naiv auffaßt. Wirklich freie Arbeiten, z.B. Komponieren, ist grade zugleich verdammtester Ernst,
intensivste Anstrengung.
"17 Seiner Vorstellung zufolge verwirklichen sich die Menschen im Kommunismus
mittels anspruchsvoller, aber schöpferischer Tätigkeilen. Wie wirklichkeitsnah ist diese Ansicht?
Eine Schwierigkeit besteht in der Wahrscheinlichkeit, daß es gesellschaftlich notwendige Arbeiten
geben wird, die niemand erfüllend findet. Fourier18 setzt eine grundsätzlich bestehende Harmonie
zwischen der Vielfalt der sozialen Bedürfnisse und der Verschiedenheit der menschlichen Vorlieben
voraus, die der Gestalt der Natur selbst eingeschrieben sei: so würde die Vorliebe kleiner Jungen
für Dreck die Frage, wer den Abfall im Kommunismus einsammelt, lösen (eine Annahme, die darauf
schließen läßt, daß Fourier nicht viel Zeit mit kleinen Kindern verbracht hat). Davon geht Marx
nicht aus. Tatsächlich
argumentiert er in einem Abschnitt; "Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das
Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der
Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion", die "das
Reich der Notwendigkeit bleibt
".

Folgerichtig hängt "die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre.
Reich der Freiheit
" von der "Verkürzung des Arbeitstages" als seiner "Grundbedingung" ab.19 Einige
Arbeiten bleiben daher auch im Kommunismus eine Belastung, die nur als "Mittel zum Leben" ausgeführt
werden, auch wenn dies nun weniger für den Einzelnen als für die Gesellschaft als Ganze gilt. Aber wie
wird diese Last, so sehr sie auch durch Produktivitätssteigerungen, die eine starke Verkürzung der
Arbeitszeit ermöglichen, erleichtert wird, verteilt werden? Diese Frage kann am besten anhand des
Problems der Konfliktlösung in einer kommunistischen Gesellschaft behandelt werden, das ich im
folgenden betrachten werde.

Arbeitsteilung

Ein verbreiteter Einwand gegen Marx‘ Vorstellung von der Rolle der Arbeit im
Kommunismus ist, daß er unrealistischerweise die Abschaffung der Arbeitsteilung erwarten würde.
Ein besonderer Angriffspunkt dieses Spotts ist seine berühmte Vorhersage in der Deutschen Ideologie,
daß "in einer kommunistischen Gesellschaff, in der Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit
hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion
regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen,
nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich
gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.
"20

Eine der überraschenden Eigenschaften dieses Abschnitts ist, daß die Tätigkeiten, die er
aufführt, alle vorindustrieller Art sind. Es ist tatsächlich schwer vorstellbar, wie ein
weniger idyllischer Kommunismus ohne jede Spezialisierung auskommen könnte: könnte ich
genauso einfach von, nehmen wir an, der Gehirnchirurgie zur Flugzeugentwicklung wechseln
wie von einer der von Marx genannten bäuerlichen Tätigkeiten zu einer anderen? Könnte ich
das überhaupt tun?

Ali Rattansi stellt fest, daß Marx in späteren Schriften, wie zum Beispiel im Kapital,
dazu neigt, die materiellen Zwänge des »Reichs der Notwendigkeit« sehr viel mehr zu
betonen und das Augenmerk auf die Abschaffung der Trennung zwischen geistiger und körperlicher
Arbeit als Teil der Entwicklung, durch die die Arbeiter die gemeinsame Kontrolle über die Produktion
erlangen, zu richten.21 Dennoch hält G. A. Cohen auch den späteren Marx für wirklichkeitsfern.
Die Idee "der allseitigen Entwicklung des Individuums" ist, Cohen zufolge, utopisch, da es allgemein
dem Einzelnen unmöglich ist, alle seine Fähigkeiten zu entwickeln. Jedenfalls ist Selbstverwirklichung
oft in einer spezialisierten Konzentration auf einige besondere Fähigkeit oder verwandte Fähigkeiten
möglich: Hätte Rembrandt sich stärker verwirklichen können (oder die Gesellschaft einen größeren Gewinn
gehabt), wenn er nicht ausschließlich ein Maler gewesen wäre?20

Diese Kritikpunkte betreffen aber nicht die zentralen Inhalte der Vorstellung, die Marx von der Rolle der
Arbeit im Kommunismis hatte. Sein hauptsächlicher Einwand gegen die Arbeitsteilung ist, daß die jeweilige
berufliche Stellung vorherbestimmt ist: die Position des Einzelnen in der Arbeitsteilung ist nicht
selbstgewählt, bestimmt aber die Möglichkeiten, die das Leben dem Betreffenden bietet. Das wird aus den
Zeilen, die dem bekannten Abschnitt aus der Deutschen Ideologie unmittelbar vorausgehen, deutlich:
"Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis
der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt
oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will [..]
"23

Das hier ausgeführte Problem ist das, was Marx in dem oben zitierten Abschnitt der Kritik des Gothaer
Programms
"die knechtende Unterordnung des Einzelnen unter die Teilung der Arbeit" nennt.
Das beseitigen heißt nicht, jegliche Spezialisierung abzuschaffen. Es bedeutet, daß die Menschen
Zugang zu Ausbildung für diejenigen Tätigkeiten, von denen sie
annehmen, daß sie ihnen ermöglichen, sich selbst zu verwirklichen, haben und daß sie auch tatsächlich
die Möglichkeiten (Umschulung usw.) erhalten, die ihnen erlauben, von einem Beruf in einen anderen
zu wechseln. Die damit verbundene Abschaffung des "Gegensatzes zwischen geistiger und körperlicher Arbeit"

setzt weitergehende Veränderungen voraus: zum Beispiel die Umwandlung eines Bildungssystems, das die
meisten Menschen für untergeordnete, niedrig bezahlte Arbeiten ausbildet, unabhängig davon, ob es
sich um Produktionsoder Büroarbeit handelt, und die Abschaffung der materiellen Vorteile, des
gesellschaftlichen Einflusses und des kulturellen Prestige, die mit bestimmten Berufen verbunden
sind, von denen in einer kommunistischen Gesellschaft zumindest einige (zum Beispiel ausgebildete
medizinische Fachleute) gebraucht würden. […]

Konflikte

Die Veränderungen, die mit dem Erreichen des Kommunismus verbunden sind, hängen von den
materiellen Zwängen des »Reichs der Notwendigkeit« ab. Das bedeutet sowohl, daß Menschen
einen Teil ihrer Zeit darauf verwenden müssen, Arbeit zu leisten, mit der sie sich nicht
verwirklichen können, als auch, daß einige ihre Bedürfnisse unbefriedigt bleiben werden.
Beide Tatsachen werden wahrscheinlich Konflikte hervorrufen. […]

Viele sehen in tler Erkenntnis, daß Marx‘ Kommunismus nicht Fouriers Harmonie entspricht,
daß die Abschaffung der Klassen nicht gleichbedeutend ist mit der Abschaffung von Konflikten,
das Eingeständnis des Scheiterns. […] Beispielsweise schreibt David Held Marx die Ansicht
zu, daß "das Ende der Klassen das Ende jeder legitimen Basis für Konflikte bedeutet". Ähnlich
äußert sich Jon Elster, der Marx beschuldigt zu glauben, daß die "gesellschaftliche
Entscheidungsfindung ohne. Konflikt ablaufen kann, durch einstimmige Zustimmung oder Wahl
"

Tatsächlich gibt es keinen Hinweis darauf, daß Marx etwas so Dummes geglaubt hat, und die
bestehenden Hinweise zeigen in die entgegengesetzte Richtung. Zunächst ist der Kommunismus
eine Gesellschaft, die vom Ziel der Selbstverwirklichung geleitet wird. Sie ist, wie er im
Kommunixtischen Manifest sagt, "eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die
Bedingung für dir. freie Entwicklung aller ist
"24. […]
Weit davon entfernt, eine Vereinheitlichung der Persönlichkeit zu erzwingen, würde eine
kommunistische Gesellschaft eine Ausweitung der Vielfalt mit sich bringen. Perry Anderson
argumentiert, daß "eine sozialistische Gesellschaft eine wesentlich komplizierte Gesellschaft
als diejenige, die wir heute erleben, sein. Es erscheint völlig klar, daß in einer
sozialistischen Gesellschaft, in der die Produktion, die Macht und die Kultur tatsächlich demokratisiert sein würden,
eine riesige Verbreitung un-. terschiedlicher Lebensweisen eintreten würde. Die
Menschen würden wühlen, wie sie leben wollen, und es ist völlig offensichtlich,
daß die Menschen unterschiedliche Temperamente, Begabungen und Werte haben. Diese
Unterschiede werden von der kapitalistischen Marktwirtschaft und der bürgerlichen
Gesellschaft unterdrückt und auf einen sehr engen Bereich eingeengt.
"25

Diese "Verbreitung unterschiedlicher Lebensweisen" würde unvermeidlich Anlaß zu
Konflikten geben. […] Genau dies gesteht Marx zu. wenn er schreibt:
"Die bürgerliche Produktionsweise ist die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen
Produktionsprozesses � antagonistisch nicht im Sinne individueller Gegensätze, sondern eines
Antagonismus, der sich aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen ergibt.
"
Dies ist aber nicht die widerwillige Hinnähme einer unerwünschten Wirklichkeit: im
folgenden Salz sagt er, daß der Sturz des Kapitalismus das Ende der "menschlichen Vorgeschichte" bedeutet,
eine Anmerkung, die zeigt, wie weit Marx von der Idee vom "Ende der Geschichte", die von Fukuyama populär
gemacht wurde, entfernt ist.26 Sobald die Menschheit in die Epoche ihrer wirklichen Geschichte eintritt,
könnte der "individuelle Antagonismus" eine der hauptsächlichen Triebkräfte des sozialen Wandels in einer
Welt werden, die nicht mehr vom Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen
bestimmt wird. […]

Es ist deshalb dem klassischen Marxismus fremd, den Kommunismus mit der Abwesenheit von Konflikten
gleichzusetzen. Daraus ergeben sich zwei Fragen.
Erstens: wie unterscheidet sich der "individuelle Antagonismus" von den Konflikten der Klassengesellschaft?
Die Antwort ist sicherlich, daß die Konflikte, die in einer kommunistischen Gesellschaft entstehen,
nicht mit systematischen Unterschieden der sozialen Macht, die die Kontrolle oder den Mangel an
Kontrolle, den der Einzelne über die Produktivkräfte hat, widerspiegeln, zusammenhängen. Es ist
wahrscheinlich, daß Konflikte entstehen werden, weil sich, in Andersons Worten, die Individuen in
"Temperamenten, Begabungen und Werten" unterscheiden.

Aber diese Unterschiede werden wohl nicht zu einer systematischen sozialen Polarisierung führen,
so daß dieselben Gruppen von Individuen sich in jeder einzelnen Frage gegenüberstehen. Vielleicht
werde ich mit jemandem übereinstimmen, daß Autos abgeschafft werden sollten, aber seinen Vorschlag,
daß die Großstädte in kleinere, verstreute Siedlungen aufgelöst werden sollten, ablehnen. Solche
Unterschiede gibt es auch heute, aber die Tatsache, daß die Individuen in der Verwirklichung ihrer
Ziele, wie vielfältig sie auch sein mögen, von ihrer Position in antagonistischen Produktionsverhältnissen
(d. h. von ihrer Klassenlage) abhängig sind, bedeutet, daß sich eine übergreifende Polarisierung der
Interessen entwickelt.

Demokratie

Eine kommunistische Gesellschaft würde, indem sie die Lage der Individuen in Bezug auf die
Produktionsverhältnisse einander angleicht, diejenige pluralistische Ordnung ermöglichen, die
den Behauptungen angelsächsischer Politikwissenschaftler zufolge eine Eigenschaft der westlichen
liberalen Demokratien sein soll, aber durch die ihnen zugrunde liegenden Ungleichheiten in der
Verteilung der Macht über die Produktivkräfte verhindert wird. Jede Frage wird ihre eigene
unterschiedliche Aufteilung der Meinungen bewirken, so daß sich die Individuen in unterschiedlichen
Fragen in unterschiedlicher Zusammensetzung gegenüberstehen und so ein Kaleidoskop sich überschneidender
und kurzlebiger Parteien ausbilden, die aufgrund bestimmter Fragen entstehen und anläßlich dieser um
Unterstützung für ihre Position werben, um sich aufzulösen oder zu verkleinern, wenn sie zumindest
vorläufig entschieden ist.

Zweitens: auf welche Weise werden derartige Konflikte gelöst werden? Wieder ist die Antwort
offensichtlich genug: durch irgendein Verfahren. Entscheidungen auf der Grundlage des Prinzips der
Mehrheitsentscheidung zu fällen. Lenin weist die Idee, daß das Absterben des Staates gleichbedeutend
mit dem "Beginn eines Gesellschaftssystem, in dem das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter
die Mehrheit nicht existiert
",27 sei, zurück. Marx trifft eine ähnliche Unterscheidung, wenn er
voraussagt, daß im Kommunismus "die öffentliche Gewalt den politischen Charakter" verliert: "Die
politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte. Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung
einer anderen.
"28

Der klassische Marxismus unterscheidet zwischen dem Staat, der ein Phänomen der Klassengesellschaft
ist, und der "öffentlichen Gewalt", die auch im Kommunismus existiert, in dem sie vorn Mehrheitsprinzip
bestimmt wird. Die Begründung für diesen Gegensatz liegt in der Auffassung von Marx und Lenin, daß der
Staat als besonderer Unterdrückungsapparat sowohl eine Konsequenz der Existenz des Klassengegensatzes
ist als auch dazu dient, ihn aufrechtzuerhalten. Hierin liegt die Bedeutung der Entstehung von Formen
der Arbeitermacht, beginnend mit der [Pariser] Kommune, die, wie Engels schrieb, "aufhörte, ein Staat
im eigentlichen Sinne zu sein.
"29
Die sozialistische Demokratie als eine Form des Staates, die, wie wir sahen, die systematische
Beteiligung der arbeitenden Mehrheit in der Selbstverwaltung beinhaltet, ist auf eine
Gesellschaftsform ausgerichtet, in der ein besonderer Unterdrückungsapparat
nicht mehr notwendig ist. Diese Gesellschaft ist der Kommunismus, sagt Lenin, "da niemand unterdrückt
werden kann � »niemand« im Sinne einer Klasse, eines systematischen Kampfs gegen einen bestimmten Teil
der Bevölkerung
"30 Daraus folgt nicht, daß eine solche Gesellschaft ohne eine "öffentliche Gewalt", in
anderen Worten, ohne Mechanismen, Konflikte zu lösen und Entscheidungen auf der Basis demokratischer
Verfahren, die in den langen Kämpfen um die Emanzipation in feudalen und später in kapitalistischen
Gesellschaften entwickelt wurden, zu treffen und durchzusetzen. […]

Anmerkungen

 1 Originaltext: A. Callinicos: The Revenge of History, Polity Press, Oxford 1991, Kap. 4.3 ("Towards Comrnunism") Alle Zitate sind, soweit nicht anders angegeben, nach dem Text von Callinicos übersetzt. Einige Fußnoten, die auf englische Veröffentlichungen verweisen, wurden im vorliegenden Text gestrichen, die Zwischenüberschrift hinzugefügt. Abkürzung: . MEW: K. Marx, F. Engels: Werke, Berlin (DDR)

 2 K, Marx, F. Engels: Collected Works, London 1975ff., Bd. XXIV, S. 94
 3 K. Marx (vgl. Fn. 2): Bd. XXXIX, S. 62 und 65
 4 [Produktivkräfte: die natürlichen, technischen und intellektuellen (Bildung) Bedingungen des Arbeitsprozesses]
 5 K. Marx (vgl. Fn. 2): Bd. XXIV, S. 87 [hier zitiert nach: K. Marx: "Kritik des Gothaer Programms", in: MEW, Bd. XIV, S. 211

 6 [Alec Nove, britischer ‚Marktsozialist‘]
 7 [Opportunitätskosten: fiktive Kosten, die dadurch entstehen, dass bei einer anderen als der tatsächlichen Verwendung der Mittel ein höherer Ertrag oder Nutzen erreicht worden wäre]
 8 K. Marx: Results. S. 1068

 9 [Norman Geras, ehem. Mitherausgeber der Zeitschrift New Left Review]
10 [Oskar Lange, polnischer Volkswirtschaftler. 1904-1965, seit 1949 Mitglied des ZK der polnischen KP]
11 O. Lange, F. M. Taylor: On the Economic Theory of Socialism. New York 1964. S. 139-141 [..]
12 K. Marx (s. Fn-5)

13 K. Marx: Theories of Surplus-Value, Bd.I, Moskau 1963, S. 401
14 [anziehende Arbeit]
15 [Vergnügen]
16 [etwa: milchmädchenhaft]

17 K. Marx: Grundrisse [der Kritik der politischen Ökonomie), Harn K Hids worin 1973. S. all [hier nach: MEW, Ed. 42, 1583, S. 512]
18 [Charles Fourier, französischer utopischer Sozialist, 1772-1837]
19 K. Marx. Das Kapilal. Moskau 1971. Bd. III, S. 820 61 [hiernach: MEW, Bd. 25, 1988, S. 828]
20 K. Marx (vgl, Fn. 2): Bd V, S. 47 [hier nach: ders.: Die deutsche Ideologie. in: MEW. Bd. 3, 1981, S 33]

21 A. Rattansi: Marx and the Division] Labour, London 1982
22 G. A. Cohen: "Reconsidering Historical Materialism", in: A. Callinicos (Hg.): Marxist Theory. Oxford 1989, S. 159-161 […]
23 K. Marx (s. Fn. 20)
24 K. Marx, F. Engels (vgl. Fn. 2): Bd. VI, S. 506 [hier nach: MEW, Bd. IV, S. 482]

25 P. Anderson: "Modernity and Revolution", in. C. Nelson, L. Grossberg: Marxism and the Interpretation of Culture. Basingstoke 1988, S. 336. Anderson spricht hier von Sozialismus, beschreibt aber eine Gesellschaftsform, die erst mit dem Übergang zum Kommunismus stabil erreicht werden kann.
26 K. Marx: A Contributation to ihe Critique of Political Economy (London 1971), S. 2lf […]
27 Lenin: Collected Works, Moskau 1974, Bd. XXV, S. 461
28 K. Marx, F. Engels (vgl. Fn. 2). Bd. IV, S. 505 [hier nach: MEW. Bd. IV. S.482]

29 K. Marx, F. Engels (vgl. Fn. 2): Bd. XXIV, S. 71
30 Lenin (vgl. Fn. 27): S. 469

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.