Klassenkämpfe in der Revolution 1989

Jahrzehnte wurde in Westdeutschland des 17. Juni 1953 in der DDR als eines Volksaufstands gedacht, obwohl es sich um einen reinen Arbeiteraufstand gehandelt hatte. Die Erhebung hatte die Form eines Generalstreiks der Arbeiter gegen die herrschende Bürokratie angenommen, an der weder die alten bürgerlichen Klassen, noch die neuen Mittelschichten der Intelligenz teil hatten.

Die Herbstrevolution von 1989 fand vor allem auf der Straße statt. Die Masse der Demonstranten waren auch dieses Mal Arbeiter. Aber im Unterschied zu 1953 blieb der Generalstreik aus, die Erhebung blieb dem Anschein nach eine Volkserhebung, die mehr oder weniger alle unterdrückten Schichten und Klassen umfaßte und an der die Arbeiter nur als Bürger auf der Straße teilnahmen.

Und doch läßt sich weder der Verlauf noch der Ausgang der Erhebung verstehen, wenn wir nicht das von Marx entdeckte Bewegungsgesetz der Geschichte auch in diesem Fall anwenden, wonach „alle geschichtlichen Kämpfe, ob sie auf politischen, religiösem, philosophischen oder sonst ideologischem Gebiet vor sich gehen, in der Tat nur der mehr oder weniger deutliche Ausdruck von Kämpfen gesellschaftlicher Klassen sind …“ [1]

In der DDR standen sich wie überall im Ostblock im wesentlichen zwei Klassen gegenüber: die herrschende Klasse der Partei- und Staatsbürokraten auf der einen und die Arbeiterklasse auf der anderen Seite.

Die Bürokratie wird bis heute auch als Politbürokratie oder Politische Klasse bezeichnet. [2] Das ist irreführend, weil die Macht dieser Klasse sich wie die jeder herrschenden Klasse nicht aus dem Monopol über die Politik, sondern aus der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, die Ökonomie ableitet. Der Begriff des Volkseigentums war ein Kampfbegriff der Bürokratie, der die wirklichen Besitzverhältnisse verschleierte. Das Volk, d.h. die große Mehrheit der unterdrückten Klassen, kann nicht Eigentümer sein von verstaatlichten Produktionsmitteln, wenn es den Staat selbst nicht besitzt.

Die angeblich herrschende Arbeiterklasse war von allen wichtigen wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen ausgeschlossen. Nach einer 1989 von Soziologen in einem Kombinat durchgeführten Umfrage, fühlten sich 38,8% der Befragten auf der untersten Ebene der Arbeitskollektive „kaum vertreten„, auf Betriebsebene waren es 82%, im Territorium 84,5% und in der Gesellschaft 90,1%.

Die zahlreichen Aufrufe der Bürgerrechtsgruppen gegen den Ausverkauf des Volkseigentum an den westdeutschen Kapitalismus trafen bei den Arbeitern auf taube Ohren, weil sie nicht verteidigen wollten, was ihnen ohnehin nicht gehörte.

In den industriellen Ballungszentren des Südens der DDR litt jedes zweite Kind wegen Umweltbelastung an Atemwegserkrankungen.

Die Wochenarbeitszeit der Arbeiter war mit 43,7 Stunden höher als in Ungarn und Rußland. 2,8 Millionen Rentner und Rentnerinnen lebten am Rande der Armutsgrenze. Alleinstehende Rentnerinnen erhielten in der Mehrheit nur die Mindestrente von 330.– DM. Der Jahresurlaub eines Arbeiters betrug 2 Wochen.

 

 

Mittelschichten

Zwischen Bürokratie und Arbeiterklasse standen Mittelschichten, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen sich sowohl von denen der herrschenden Klasse wie auch der Arbeiter charakteristisch unterschieden. Die Mittelschichten, zu denen Pfarrer, Arzte, Rechtsanwälte, Professoren, Künstler, Techniker, Leistungssportler, Ingenieure, Wissenschaftler und Angestellte in gehobenen aber nicht führender Funktion gehören, waren auch in der DDR gegenüber den Arbeitern privilegiert. Sie litten nicht in der gleichen Weise unter den Versorgungsengpässen, Niedriglöhnen und Niedrigrenten, miserablen Wohnungen, gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen. So gab z.B. eine spezielle „Altersversicherung der Intelligenz“ für ausgewählte Techniker, Ärzte und Ingenieure sowie „besonders verdiente Staatsbürger„. Sonder- und Zusatzleistungen gab es für Angehörige des Staatsdienstes.

Aber auch die Mittelschichten litten natürlich unter den materiellen Verhältnissen und noch mehr unter der geistigen Knechtung.

Man darf sich das nicht so vorstellen, daß lauter Ärzte, Techniker und Verwaltungsfachleute für ihre egoistischen Standesinteressen aufgetreten wären. Wie andere Klassen bringt auch der Mittelstand seine politischen Vertreter, Sprecher und Organisationen hervor, die ihrer Bildung und ihrer individuellen Lage nach himmelweit von ihnen getrennt sein können.

Diejenigen, die sich berufsmäßig mit der Produktion und Verbreitung von Ideen, Lehren, Illusionen und Phantasien beschäftigten, taten sich als Vertreter des Mittelstand hervor.

Zu ihnen gehörten Pfarrer, Künstler, Schriftsteller, Rechtsanwälte, aber auch eine große Zahl jener „Aussteiger„, die in den achtziger Jahren in irgendwelchen Nischen überlebt hatten und die alles andere als mittelständische Existenzen geführt hatten.

Von den 4000 Pfarrern der DDR waren überproportional mehr aktiv in den Bürgerrechtsgruppen als von den 40.000 Arzten. Künstler- und Schriftstellerverbände traten als Initiatoren von Demonstrationen und Veranstaltungen auf.

Diese auch als „Intelligenz“ bezeichneten Berufsgruppen sind in allen modernen Klassengesellschaften die Diener der herrschenden Macht. Diese gesellschaftliche Funktion hatten sie über vierzig Jahre auch in der DDR eingenommen.

Natürlich gab es immer einzelne Schriftsteller, Musiker, Künstler, Pfarrer usw., die gegen ihre „Arbeitgeber“ rebellierten. Aber eine wirkliche politische Oppositionsbewegung der „Intelligenz“ entwickelte sich schrittweise erst seit Mitte der achtziger Jahre und zeitlich parallel zu der Ära Gorbatschow in Rußland.

Der sozialen Zwischenstellung des Mittelstands entspricht, wie Marx in seiner Charakterisierung des Kleinbürgertums seiner Zeit nachweist, eine politische Zwischenstellung als vermittelnde, versöhnende Kraft zwischen den beiden Polen der Gesellschaft, die die Gegensätze zwischen oben und unten, zwischen herrschender Klasse und Arbeiterklasse abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln trachtet.

Die politischen Vertreter des demokratischen Kleinbürgertums „dünken sich erhaben über den Klassengegensatz überhaupt„, schrieb Marx, weil sie eine „Übergangsklasse“ vertreten, „worin die Interessen zweier Klassen sich zugleich abstumpfen“. [3]

Marx weist nach, daß es geradezu ein Wesenszug des Kleinbürgertums ist, seine Interessen als klassenübergreifende Volksinteressen auszugeben und im Namen des Volksrechts Politik zu machen.

Auch in der DDR traten die Bürgerrechtsgruppen nicht als die auf, die sie waren, nämlich als politische Vertreter des Mittelstands und deren Sonderinteressen, sondern als Sprecher des gesamten Volks. Die Hauptparole vom Oktober ("Wir sind das Volk!") verschleierte, daß es auch im unterdrückten Volk unterschiedliche Klassen und Interessen gab. Als die Arbeiterklasse im November zuerst in Leipzig und dann überall mit eigenen Parolen, Forderungen und Kampfmethoden auftrat, waren die selbsternannten Volksvertreter der Bürgerrechtler beleidigt.

Die wichtigste politische Kraft dieser Zwischenschichten war das im September 89 gegründete Neue Forum. Aus einer für Berlin vorliegenden Befragung von NF-Mitgliedern ergibt sich Ende 1989 „das Bild des Übergewichts der Intelligenz und der Hochschulabsolventen (die Hälfte), wohingegen nur ein Achtel sich als Arbeiter bezeichnete.“ [4] Der Anspruch des NF war freilich, eine Bewegung aller Bürger zu sein.

Dem kometenhafter Aufstieg zu Beginn der Revolution entsprach ein ebenso kometenhaftes Verglühen in den Monaten danach und zeigt nur, daß die Arbeiter sich nicht mit den mageren demokratischen Parolen abspeisen lassen wollte, die ihnen das Neue Forum und die anderen Bürgerrechtsgruppen anboten.

 

 

Chinesische Lösung?

Voraussetzung für den Ausbruch der Revolution in der DDR war wie bei jeder Revolution, daß die herrschende Klasse nicht mehr weiter konnte wie bisher, mit ihrem Latein am Ende war und die unterdrückten Klassen nicht mehr weiter wollten.

In Polen, Rußland, der Tschechoslowakei und China war es im Frühjahr und Sommer 1989 zu Massenstreiks von Arbeitern und zu Studentenunruhen gekommen. Nur in China hatte die bürokratische Klasse noch das Selbstvertrauen in die eigene Kraft und Stärke, eine solche Bewegung im alten stalinistischen Stil mit Panzern und Maschinengewehren niederzuschmettern. Über 2000 Tote und zehntausend Verletzte waren der blutige Preis.

Die Tatsache, daß Honeckers Stellvertreter und späterer Nachfolger Egon Krenz die chinesische Regierung für ihren „Erfolg“ beglückwünschte, sollte natürlich die eigene Opposition einschüchtern.

Aber es kommt darin auch zum Ausdruck, daß die bürokratische Klasse der DDR im Unterschied zu der anderer osteuropäischer Länder nicht bereit war, dem Kurs Gorbatschows und seiner Perestroika zu folgen. Sie wollte unter allen Umständen eine politische Öffnung des Regimes mit dem Ziel des kontrollierten Umbaus der politischen Macht verhindern.

In Polen und Ungarn war dieser Umbau im September 1989 bereits weit vorangeschritten. Die demokratische Opposition von Solidarnosc war in Polen bereits Regierungspartei. Natürlich hatte sich die bürokratische Klasse zuvor Sicherheiten für den Schutz ihrer sozialen Privilegien geben lassen.

Die Nomenklatura der DDR wußte, daß dies nur zum Untergang der DDR und damit auch zum Ende ihrer eigenen Herrschaft führen würde und daß die DDR, nur als sozialistischer Staat“ überleben könnte.

 

 

Gewaltfreiheit

Die politischen Vertreter des Mittelstands sind bis heute der Ansicht, daß sie und ihre kluge Taktik der strikten Gewaltfreiheit es waren, die den Stasi-Staat schließlich in die Knie zwangen. Sie beanspruchen insofern auch das historische Verdienst der Befreiung für sich.

"Die strikte Gewaltfreiheit war der Hebel„, schrieb das Gründungsmitglied des Neuen Forums Jens Reich, „der das System zum Einsturz brachte, ihn überhaupt ermöglichte und den Gegenschlag der Nomenklatura elegant vermied.“ [5]

Dies ist eine fromme Selbsttäuschung, die für dieses Mal noch unertappt durchgeht.

Was hat einen Krenz und einen Mielke daran gehindert, wie 1953 zur bewaffneten Gewalt zu greifen?

Das Tonbandprotokoll einer Krisensitzung der Stasi-Bezirksleiter vom 31. August 89 gibt die Antwort. Daraus geht hervor, daß Mielke die Bürgerrechtsgruppen nicht für eine Umsturzkraft hielt. Mielkes ganze Aufmerksamkeit galt den Betriebe. „Und wie ist die Stimmung in den Betrieben?„, fragte er seine Bezirksleiter. Einen unterbricht er mitten im Vortrag: „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?“ [6]

Nicht nur für die Arbeiter, auch für die Bürokratie war der 17. Juni 1953 ein traumatisches Erlebnis. Die Arbeiter hatten eine bittere Niederlage erlitten. Ihr Generalstreik konnte aber nur mit Hilfe russischer Truppen niedergeschlagen werden.

Die Aufkündigung der Breschnew-Doktrin durch Gorbatschow hatte eine neue Lage geschaffen, über die sich die SED-Führung von Beginn an klar war. Die Krenzschen Chinaglückwünsche vom Juni waren schon damals ein ungedeckter Scheck, ein Bluff.

Instinktiv schauten auch die Gründer des Neuen Forum auf die Arbeiter als Bündnispartner. Schließlich hatten Massenstreiks in Polen und der Sowjetunion nur wenige Wochen zuvor erneut gezeigt, daß die staatlichen Repressionsapparate gerade vor Arbeiterstreiks zurückgewichen waren.

Das Gründungsmitglied des Neuen Forum Bärbel Bohley wies in einem Spiegel-Interview noch vor Ausbruch der Revolution darauf hin, daß das Beispiel Polen, wo die „Arbeiterklasse über eine starke Lobby“ verfüge, für die Opposition in der DDR „interessant sei„. Zugleich warnte sie jedoch davor, „den polnischen Weg einfach für die DDR zu übernehmen„, weil das die Existenz der DDR gefährden könne. [7]

In dieser Äußerung Bärbel Bohleys kommt das ganze Elend und die Halbherzigkeit des Neuen Forum und der Bürgerrechtsbewegung der DDR zum Ausdruck.

Man sieht natürlich die große Macht der Arbeiterklasse, wendet sich instinktiv an diese, weiß, daß ohne deren Kraft, die alte Macht zu gar nichts zu bewegen ist; fürchtet sich jedoch zugleich davor, daß sich die Arbeiter nicht damit begnügen würden, die Fußtruppen einer demokratischen Reformbewegung zu spielen, daß sie die gewonnen demokratischen Recht nützen würde, ihre sozialen Rechte zu erkämpfen.

Die Bürgerrechtsgruppen sprachen sich zwar für das Streikrecht aus, waren sich aber mit der herrschenden SED einig, daß wirtschaftliche und politische Streiks in der damaligen Situation eine Stabilisierung der DDR-Wirtschaft hinderlich wäre.

Das Neuen Forum wollte die herrschende Macht nicht stürzen, sondern durch begrenzten Druck zu Reformen zwingen. Jens Reich formulierte dieses Programm in seiner Rede am 4. November vor einer halben Millionen Menschen in Berlin: „Wir müssen Druck erzeugen, damit es endlich vorwärts geht … Unsere Bürgerbewegungen haben Kontrollaufgaben. Nicht jeder von uns wird regieren wollen, aber jeder muß aufpassen, daß nichts unter den Teppich kommt.“ Und Rolf Henrich (NF) sagt: „Jetzt nur nicht den Verwalter der ganzen Pleite machen! Die sollen ihre Suppe selbst auslöffeln.“ [8]

Die Angst vor der Radikalisierung der Bewegung durch einen Generalstreik der Arbeiter, vor einem neuen 17. Juni, beherrschte nicht nur das Handeln der SED-Führer. Sie beherrschte ebenso das Handeln der Bürgerrechtsgruppen, selbst jener Gruppen, sie sich theoretisch wie die Vereinigte Linke auf den Marxismus und die Arbeiterklasse beriefen.

Die weitere Entwicklung sollte zeigen, daß die Vertreter der Intelligenz sich mit zunehmender Radikalisierung der Arbeiter im industriellen Süden der DDR auf die Seite der herrschenden Bürokratie schlugen und damit von einer halbherzig revolutionären zu einer halbherzig konterrevolutionären Macht absanken, soweit man hier noch von Macht sprechen kann.

 

 

Aufbruch

Die Fluchtwelle vom August und September über Prag und Ungarn nach Westdeutschland war von der sozialen Zusammensetzung her eine proletarische Bewegung, d.h. es handelte sich in der Mehrzahl um junge Arbeiter und Angestellte, die nicht mehr bereit waren, ihre Arbeitsleistung für Niedrigstlöhne und unter menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen zu verkaufen.

Schon hier, in der Geburtsstunde der Revolution, zeichnete sich die zukünftige Spaltung zwischen Intelligenz und Arbeitern ab. Das Neue Forum kritisierte die Flüchtlinge in ihrem Gründungsaufruf verächtlich ("Fluchtbewegun gen … sind anderswo durch Not, Hunger und Gewalt verursacht. Davon kann bei uns nicht die Rede sein.") Zugleich kommt es in Plauen, Dresden und den Städten entlang der Bahngleisen, wo die Flüchtlingszüge aus der CSSR über DDR-Gebiet nach Westen fahren, immer wieder zu Solidaritätskundgebungen mit den Flüchtlingen. Ein Plauener Arbeiter spricht von der „unheimlich Begegnung mit Menschen, die frei sind„… „Wir klatschen und winken – warum? Ja, das Gefühl die haben’s geschafft.“ [9]

Die Fluchtwelle vom August war das Signal auch zum inneren Aufbruch. Es war der Schock der Bilder von den Botschaftsbesetzungen durch DDR-Flüchtlinge aus Warschau und Prag, die bei der übergroßen Mehrheit einen qualitativen Sprung ausgelöst hatte. Der Faden war gerissen, die Geduld der Menschen war zu Ende.

Die Vertreter der Intelligenz verbreiten bis heute, daß sie es waren, die die Freiheit für andere erkämpft hätten. Wahrnehmbar sei eine „veränderte Zusammensetzung der Demonstrationszüge„. Im Oktober und Anfang November habe „eher die alternative Szene, Studenten und junge Intellektuelle das Bild geprägt„, während im Dezember „junge Arbeiter das Geschehen auf der Straße beherrschen. Sie bringen auch andere Interessen zur Geltung.“ [10]

Die Realität sah freilich anders aus.

Am 2. Oktober gingen 20.000 Menschen in Leipzig, am 7. Oktober 20.000 in Plauen und am 9. Oktober 80.000 in Leipzig auf die Straße. Die große Mehrheit dieser Demonstranten waren nicht Künstler oder Schriftsteller oder „alternative Szene“, sondern gewöhnliche Arbeiter. Weder in Plauen noch in Leipzig spielten Studenten eine aktive Rolle in der Entstehungsphase der Bewegung.

Das persönliche Risiko, das tausende junge Arbeiter in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober in Dresden auf sich nahmen, als sie sich um das Bahnhofsgelände stundenlang bürgerkriegsähnliche Schlachten mit der bewaffneten Staatsmacht lieferten, war sicher nicht geringer als das der Autoren von Manifesten und Aufrufen in Berlin.

Richtig ist lediglich, daß die politische Führung der Bewegung bis Anfang November in den Händen der Bürgerrechtsgruppen lag, vor allen des Neuen Forum, dem innerhalb weniger Wochen 200.000 Menschen in allen Teilen der DDR durch ihre Unterschrift beitraten.

Die Bürgerrechtsgruppen stellten die Redner, sie bestimmten den politischen Ton.

Die Antriebsfeder ihrer Handlungen war die Sorge um den Erhalt der Eigenständigkeit der DDR. ("Wir engagieren uns im NEUEN FORUM, weil wir uns Sorgen um die DDR machen …„, Flugblatt des NF 1.10.89). Die Hauptsorge galt dem Erhalt der Eigenstaatlichkeit der DDR, nicht dem Sozialismus. In den Programmen und Reden der Bürgerrechtler vom Herbst 1989 kommt diese Reihenfolge freilich nicht zum Ausdruck. Der Kampf um einen reformierten Sozialismus nimmt gewissermaßen den Rang einer moralischen Rechtfertigung der Eigenstaatlichkeit ein.

Das läßt sich schon allein daraus erkennen, daß die große Mehrheit der „sozialistischen“ Bürgerrechtler sich vom Sozialismus abwandten, als die Perspektive einer Wiedervereinigung reale Gestalt annahm. Ein Teil der Bewegung, namentlich die Pfarrer- und Rechtsanwältefraktion von „Demokratie Jetzt!„, „Demokratischer Aufbruch„, aber auch Teile des Neuen Forum gingen mit fliegenden Fahnen ins konservative Lager Kohls über.

So stellten sie sicher, daß sie ihre gesellschaftliche Stellung als Diener der Macht weiter erfüllen konnten.

Andere scheinen sich heute nicht gerne ihrer sozialistischen Parolen vom Herbst 1989 zu erinnern. So schrieb Jens Reich im Nachhinein: „Wir hätten gar nichts erreicht (vielleicht nur den Tienanmin-Platz), wären wir mit der Uberwindung des Sozialismus und der DDR als erstes herausgerückt.“ [11] Als hätte das Bekenntnis zum Sozialismus und zur DDR von Beginn an nur taktischen Wert gehabt!

Tatsächlich führte die Sorge um den Erhalt der DDR dazu, daß die Bürgerrechtsbewegung den Kampf zu mäßigen versuchte und statt des Sturzes des SED-Stasi-Machtapparats den Kompromiß mit diesem suchte.

Die SED, die diese Schwäche der Bürgerrechtsgruppen sehr rasch erkannte, ging noch im Oktober auf eine Politik des Dialogs mit diesen über und beteiligte sich über Stasi-Spitzel in den neuen Organisation massiv daran, die Bewegung in solche Bahnen der konstruktiven Zusammenarbeit mit der alten Macht zu lenken.

So entstand schrittweise ein neuer Block der Zusammenarbeit zwischen Bürokratie und Mittelstand, SED und Bürgerrechtsbewegung, der im Dezember in die Politik des Runden Tisches überging und in den Regierungseintritt Ende Januar mündete.

Die Großkundgebung vom 4. November in Berlin war ein erster Erfolg dieses neuen Kurses der SED. Vor einer halben Million Menschen durften der oberste Spionage-Chef Markus Wolf und andere SED-Spitzen zusammen mit Sprechern der Opposition auftreten.

Die Parole der Opposition in Berlin war: „SED allein – das darf nicht sein„.

Zwei Tage später kam der Bezirkschef der SED in Leipzig vor Hunderttausenden nicht mehr zu Wort: „SED ade!“ und „Zu spät, zu spät„, skandierten dort schon die Massen.

Die nächste Schlacht ging um die Frage der Freizügigkeit und Reisefreiheit.

Die Haltung der Bürgerrechtsgruppen war auch hier zweideutig. Auf der „genehmigten“ Berliner Demonstration vom 4.11. hatte es keine einzige Forderung nach Öffnung der Mauer gegeben. Nur 5 Tage später wurde diese von den Massen erstürmt.

SED und Neues Forum treten für ein neues Reisegesetz ein, wenn auch das Neue Forum großzügigere Regelungen verlangt. Bärbel Bohley forderte, daß die BRD im Gegenzug zu einer kontrollierten Freizügigkeit die DDR-Staatsbürgerschaft anerkenne, damit DDR-Flüchtlinge nur noch über Asylantrag nach Westdeutschland übersiedeln können.

 

 

Die Maueröffnung

Am Tag nach der Maueröffnung kritisiert Bärbel Bohley die Offnung der Mauer „ohne Vorbereitung„. Jens Reich stellte dazu fest: „Das war ehrlich, aber von politisch verheerender Wirkung. Es wurde der Bruchpunkt unser Popularitätskurve.“ [12]

In einem Flugblatt der Initiativgruppe Neues Forum zum Fall der Mauer (12.11.) wurde beklagt, daß das Volk „weder zum Bau der Mauer noch zu ihrer Öffnung befragt“ worden sei. Das ist falsch, denn ihre Öffnung erfolgte im Unterschied zum Bau auf breites und massives Drängen des Volkes.

Die Maueröffnung führt dazu, daß Millionen nach Westen gingen und das Wohlstandgefälle persönlich erlebten.

Bärbel Bohley sprach vom „Konsumrausch„, der Schriftsteller Stefan Heym gar vom „Aschermittwoch in der DDR„. Aus dem Volk sei eine „Horde von Wütigen, die Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach glitzerndem Tinnef“. [13] Die Schriftstellerin Monika Manon schrieb dazu, daß aus dieser Art des Spottes „die Arroganz des Satten“ spreche, „der sich vor den Tischmanieren eines Ausgehungerten ekelt“

Konsumkritische Argumente waren in der Oppositionsbewegung der DDR weit verbreitet gewesen. Sie verbanden sich teilweise mit einer ökologisch begründeten Kritik des westdeutschen „Konsumdenkens“.

So heißt es etwa bei „Demokratie Jetzt“: „Der Sozialismus darf nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht …“ In einem Flugblatt des NF zur Maueröffnung wird den Arbeitern Armut in Würde versprochen: „Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine Gesellschaft haben, in der Schieber und Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen.“

Die Arbeiter mißtrauten diesem Sozialismus der Armut in Würde aus den Mündern und Köpfen von Pfarrern und Schriftstellern. Sie mißtrauten ihnen, weil sie wußten, daß diese, wenn sie von Armut sprachen, nicht die eigene meinten.

Bei der Währungsreform im Juni 1990 wurde beim Umtausch der Sparguthaben bekannt, daß vier Millionen Sparer (20%) 120 Milliarden DM (oder 30.000 DM jeder [1*]) besaßen, 12 Millionen Sparer (80%) besaßen 50 Milliarden DM (4166.– DM jeder Sparer im Durchschnitt).

Die Warnungen vor den Ellenbogen der westdeutschen Kapitalisten konnten sie nicht erschrecken. Gab es doch tagtäglich Enthüllungen darüber, wie „Schieber und Ellenbogenmenschen“ im eigenen Staat unter sozialistischen Parolen „den Rahm abschöpften„.

 

 

Generalstreik?

In den der ersten Dezembertagen begann der Sturm auf die Stasi. In einzelnen Städten wie in Schmalkalden und Suhl kommt es zu Massenbesetzungen der Stasi-Zentralen. Als die Massen in Suhl am 5. Dezember die örtliche Stasi-Zentrale mit Rufen wie „Holt die Stricke raus!“ und „Verhaftet sie alle“ stürmten und sich auch von Tränengasgranaten der Wachmannschaften nicht aufhalten ließen, und sich ein verängstigter Stasi-Offizier mit seiner Dienstwaffe erschoß, da waren auch die Tage der verhaßten Diktatur gezählt.

Die Bürgerrechtsgruppen riefen zur Gewaltlosigkeit und gegen Haß auf, bildeten Menschenketten um die Stasi-Zentren, um die Akten vor der Vernichtung durch die Volkswut zu schützen. Sie waren es nun, die den Stasi-Apparat vor der Zerschlagung durch die Massen schützten.

In den industriellen Ballungszentren des Südens DDR gerieten Teile der Bürgerrechtsgruppen zunehmend unter Druck der Arbeitermassen.

So berichtete ein Vertreter des Neuen Forum Leipzig auf einem Kongreß der Vereinigten Linken in Berlin (26.11.), daß sich inzwischen 30 Betriebsgruppen dem örtlichen Neuen Forum angeschlossen hätten.

Am 1. Dezember rief der Sprecherrat des Neuen Forum im südlichen Bezirk Karl-Marx-Stadt ultimativ zu einem Generalstreik für den 6. Dezember auf. Der Aufruf war auf Initiative von Arbeitern zustande gekommen, die sich an das Neue Forum gewandt hatten. Wichtigste Forderungen der Arbeiter waren die sofortige Auflösung der Stasi, Rückzug der SED aus den Betrieben und eine Volksabstimmung über die Wiedervereinigung.

Bärbel Bohley wies im Namen des Neuen Forum in Berlin den Streikaufruf umgehend zurück. Sofort setzte eine Medienkampagne gegen den Aufruf ein. Die Berliner Zeitung bezeichnete den Aufruf als „ungeheuerlich“ und sprach von „Abenteurertum„. Auch der zweite Vorsitzende der SDP (später SPD), Markus Meckel, wandte sich gegen einen Generalstreik. „Wir sind auch gegen einen allgemeinen Generalstreik, weil er unsere Wirtschaft noch mehr zusammenbrechen ließe.“ [14]

Trotzdem kam es am 6.12. in Plauen und Umgebung zu einem zweistündigen Warnstreik mehrerer Großbetriebe na. für einen Volksentscheid zur Wiedervereinigung. Zu Streiks gegen die Machenschaften der Stasi kam es auch in Suhl, Rostock und an deren Städten. „Die Stimmung in den volkseigenen Betrieben wurde immer explosiver„. (Der Spiegel, 11.12.89)

Überall im Land bildeten sich Bürgerkomitees zur Überwachung der Stasi-Auflösung. Zum Teil fanden sich Betriebe bereit, für bestimmte Aufgaben der Bürgerkomitees Mitglieder von der Arbeit freizustellen. Die Bezirkszentralen wurden in Sicherheitspartnerschaften zwischen Bürgerkomitees und Staatsmacht geschlossen und versiegelt.

 

 

Runder Tisch

Der Stasi-Apparat war geschwächt, aber noch keineswegs zerschlagen. Die SED trat in dieser zugespitzten Lage einen taktischen Rückzug an. Sie suchte politische Deckung durch engere Zusammenarbeit mit den Bürgerrechtsgruppen.

Am 7.12 kam es zur Bildung eines „Runden Tisches“ zwischen den Bürgerrechtsgruppen und der bereits stark geschwächten Macht der Bürokratie. Der Runde Tisch sollte eine Art Kontrollorgan der Regierung sein. Stattdessen war er eine Schwatzbude, der der angeschlagenen Macht eine neue Legitimation verlieh.

So hielt der „Reformer“ Modrow den Runden Tisch mit einem Bericht über den Stand der Auflösung der Stasi über sechs Wochen lang hin. Die einzige konkrete Vereinbarung des Runden Tisches war der Termin für Volkskammerwahlen im Mai 1990.

Der Runde Tisch stellte sich schützend zwischen die alte Macht und die sich radikalisierenden Arbeiter. Man versuchte die zugespitzte Stimmung in den Straßen und Betrieben von Leipzig zu dämpfen. Am 4.12. erntete der Leipziger Sprecher des Neuen Forum, Jürgen Tallig, eine grelles Pfeifkonzert von 150.000 Menschen für seine Bitte, Plakate mit der Forderung nach Wiedervereinigung zunächst zu Hause zu lassen. Am 13.12. schlugen Vertreter der Kirche und der Bürgerrechtsgruppen von Leipzig vör, die letzte Montagsdemonstration vor Weihnachten als Schweigemarsch „ohne Plakate und Sprechchöre“ stattfinden zu lassen und über Weihnachten und Neujahr eine Demonstrationspause einzulegen. Die Fortführung der Demonstrationen im neuen Jahr sollte von „der politischen Lage“ abhängig gemacht werden.

Die Lage schien sich infolge der Demonstrationspause zu beruhigen. Sofort benutzte die alte Macht die Situation, um die Gegenrevolution in die Offensive zu bringen. Sie tat dies unter dem ideologischen Deckmantel des Antifaschismus.

Überall in der DDR kam es in den ersten Januartagen zu „antifaschistischen“ Demonstrationen. Die größte mit 250.000 fand in Berlin statt. Das ganze Manöver diente dazu, den angeschlagenen Gewaltapparat der Stasi vor der Auflösung zu retten. Angeblich brauchte man einen Sicherheitsdienst, um die Nazis zu bekämpfen.

Der Versuch von SED/PDS, die Wiedervereinigungsbewegung der Arbeitermassen als Teil einer faschistischen Verschwörung hinzustellen, hat dazu beigetragen, den Antifaschismus in den Augen junger Arbeiter zu diskreditieren und hat den Spielraum von Nazigruppen in der Endphase der DDR tatsächlich vergrößert.

Die Verlogenheit des Manövers war unübertroffen: Naziübergriffe auf Linke waren von Polizei und Stasi 1988 in Berlin wohlwollend toleriert worden. Die Krenz-Regierung hatte noch im November den Haß auf die Polen gezielt geschürt, indem sie ein Gesetz erließ, das Ausländern“ den Kauf von bestimmten knappen Konsumgütern nur gegen Vorlage des Reisepasses genehmigte und suggerierte damit, daß die „kaufwütigen Polen“ schuld an Versorgungsengpässen wären.

Das Manöver der SED/PDS wurde durchschaut, die Wut der Massen entbrannte doppelt. Am 15. Januar kam es zur Erstürmung des zentralen Stasigebäudes in der Normannenstraße in Berlin.

Unter dem Druck von unten hatte das Neue Forum zu DDR-weiten Antistasi-Demonstrationen aufgerufen.

Der Generalstreik lag in den Januartagen erneut in der Luft: Überall im Land häuften sich die Streiks. In Zwickau traten Ende Januar die Straßenbahn- und Omnibusfahrer in Streik: für höhere Löhne und die Auflösung der SED.

Die Modrow-Regierung stand Ende Januar vor dem Abgrund.

Die SED-Führung habe „das Trauma vom 17. Juni verinnerlicht, daß sie an einem Pfahl baumeln könnten„. Diese Worte Katja Havemanns (Der Spiegel, 9.10.89) gewannen nun aktuelle Bedeutung.

Vor die Wahl zwischen „Pfahl“ und Kohl gestellt, zog es die bürokratische Klasse vor, sich in die weiten Arme Kohls zu werfen. Der gescheiterten Januar-Offensive folgte als einzig mögliche Konsequenz, daß Modrow sich nun, am 31. Januar, auch für „Deutschland einig Vaterland“ erklärte.

Weder Kohl noch die hinter ihm versammelten westdeutschen Unternehmer hatten ein Interesse daran, daß Modrow noch vor den Wahlen am 18.3. stürzte. Er mußte seine Aufgabe als Konkursverwalter der DDR so ausüben, daß die Machtübergabe möglichst störungsfrei abgewickelt werden konnte.

Die Blockparteien CDU und LDPD suchten angesichts der herannahenden Volkskammerwahl eine neue Legitimationsbasis. Die SED-PDS brauchte ebenfalls eine Bescheinigung, daß sie sich demokratisch gewendet habe.

Durch den Eintritt der Bürgerrechtsgruppen in die „Regierung dem nationalen Verantwortung“ Anfang Februar war allen gedient: Modrow und der PDS, und den gewendeten Blockparteien, allen voran der CDU, die nun mit den Demokraten Arm in Arm vom das Volk treten konnten. Teile der Bürgerrechtsgruppen traten sogar der CDU bei, freilich zunächst verschämt als Wahlbündnis „Allianz für Deutschland„.

Die Diener der Macht, die eben noch für einen verbesserten DDR-Sozialismus eingetreten waren, suchten jetzt in hellen Scharen instinktiv die Nähe der neuen Macht, die nun auch bald in den Osten Deutschlands einziehen würde.

Die Bürgerrechtsgruppen rechtfertigten ihren Regierungseintritt damit, daß nur so das Land vor dem Absturz in das Chaos bewahrt werden und nur so auch die Parlamentswahlen vom 18. März „unter geordneten Verhältnissen“ stattfinden könnten.

 

 

Arbeiter

Die Arbeiterklasse der DDR sah in der Wiedervereinigung den einzigen Weg, um ihre soziale Lage zu verbessern. Ihre Sorgen und Nöte, ihre Klasseninteressen fanden sich in den Programmen der Bürgerrechtsgruppen nicht wieder oder nur, wie in der Böhlener Plattform der Vereinigten Linken, in abstraktester Form.

In den Reden von Schriftstellern und Intellektuellen wurde der Sozialismus immer wieder als „Traum“ und als „Utopie“ beschworen, etwa in der Rede von Christa Wolf am 4. November („Stell Dir vor es ist Sozialismus, und keiner geht weg“).

Die Arbeiter spürten, daß ihnen auch in diesem Sozialismus der Pfarrer und Schriftsteller nur eine Objektrolle zugeschrieben war.

Der Werkzeugmacher Hans Teschnau sagt vor einer Viertelmillion Leipzigern, er habe vierzig Jahre Sozialismus ertragen und keine Lust mehr auf neue Varianten. „Keine Experimente mehr. Wir sind keine Versuchskaninchen."

Unter den bestehenden Bedingungen des starken Wirtschaftsgefälles und dem Bankrott des „realen Sozialismus“ war ein direkter Übergang zu einem wirklichem Sozialismus von unten nicht möglich. Das gilt für ganz Osteuropa und für Rußland und es galt noch mehr für die DDR.

Über vierzig Jahre, in Rußland über sechzig Jahre, waren die Arbeiter im Namen des Sozialismus schärfster Unterdrückung und Ausbeutung unterworfen gewesen.

Anstatt auf die Eigenständigkeit der DDR um jeden Preis zu pochen, hätten Sozialisten die Aufgabe gehabt, die tatsächlichen Arbeiterkämpfe voranzutreiben. Ein Generalstreik gegen die Stasi und für eine Volksabstimmung zur Wiedervereinigung wäre Anfang Dezember möglich gewesen.

Eine aus einem Generalstreik hervorgegangene revolutionäre Übergangsregierung hätte den Auftrag gehabt, die Stasi und den alten Machtapparat vollständige aufzulösen und mit der Kohl-Regierung die Bedingungen für eine Wiedervereinigung auszuhandeln.

Doch statt die Macht zu ergreifen, handelten die Bürgerrechtsgruppen am Runden Tisch einen Wahltermin aus!

Die inzwischen auf den 18. März vorgezogene Wahl begünstigte die alte bürokratische Macht und die neue bürgerliche Macht aus dem Westen mit ihren mächtigen Medienkonzernen und gut geölten Wahlkampfmaschinerien.

Dabei war die alte Macht der Staatsbürokratie keineswegs allein, ja nicht einmal mehr vorrangig durch die SED/PDS vertreten. In dem Maße wie sich die Niederlage des realen Sozialismus“ abzeichnete und die Wiedervereinigung durch den gewaltigen Druck der Arbeiter unumgänglich wurde, sattelte die Bürokratie politisch um. Von den über 300 Kombinatsdirektoren waren schon im Januar bis auf fünf alle aus der SED ausgetreten. Man wechselte das Hemd, der Körper blieb aber derselbe. Die CDU löste die SED als führende Partei der Bürokratie ab.

Der Bürokratie konnte es jetzt nur noch darum gehen, möglichst viele ihrer Privilegien in das vereinigte Deutschland hinüberzuretten. Die Blockparteien CDU und LDPD stellten sich an die Spitze der Einheitsbewegung und gewann so die Mehrheit der Arbeiter im Handstreich.

Die Linke, einschließlich der SPD, sah in der Einheitsbewegung nur die zukünftige Gefahr eines neuen deutschen Nationalismus und nicht die Hoffnungen der untersten Klasse der DDR auf ein besseres Leben. In ihren Programmen und Wahlparolen kam zum Ausdruck, daß die Einheit, wenn überhaupt, dann besser „langsam“ vollzogen werden sollte.

Die SPD, die nach Umfragen auf den Leipziger Montagsdemonstrationen im Dezember noch unbestritten in Führung gelegen hatte, verlor so auch ihre natürliche Basis unter den Arbeitern Sachsens und Thüringens an die CDU.

Die Verschleppung dem Machtfrage auf den Wahltag führte dazu, daß die alte Macht immer noch an den Schalthebeln der Macht saß, nun in Form der antisozialistisch gewendeten Blockparteien CDU und LDPD (FDP).

Es war kein Zufall, daß an ihrer Spitze mit de Maizière ein Stasi-Mitarbeiter stand.

Jürgen Habermas schrieb im November 1989: „Nicht ‚Zweistaatlichkeit‘ oder ‚Anschluß‘ sind die Alternative, sondern vorbehaltlose Orientierung am Ziel einer radikalen Demokratisierung, die denen, die die Konsequenzen tragen, auch die Entscheidung überläßt.“ [15]

Diese radikale Demokratisierung ist ausgeblieben, dem alte Machtapparat der Bürokratie wurde zwar geschwächt, aber nicht völlig zerstört. Er blieb soweit intakt, daß er zumindest den Prozeß der Wiedervereinigung noch in seinem Sinne lenken und steuern konnte.

Ohne die helfende Hand der Intelligenz in Gestalt dem Bürgerrechtsbewegung hätte die Bürokratie wahrscheinlich nicht das rettende Ufer des 18. März erreicht, der ihrer noch verbliebenen Macht eine neue Legitimationsbasis gab.

Es bleibt aber das geschichtliche Verdienst dem namenlosen Arbeitermassen, die bürokratische Diktatur gestürzt zu haben. Die Revolution hat nicht nur die Wiedervereinigung der herrschenden Klassen gebracht, sie hat auch die Arbeiterklasse wieder vereinigt. Der Kampf geht weiter!

 

 

Anmerkungen

1. Friedrich Engels, Vorrede zu Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, von K. Marx

2. Sozialgeschichte der DDR, hersg. von H. Kaelble …, S.346f.

3. K.Marx, Der Achtzehnte Brumaire …

4. G.Haufe, K.Bruckmeier (Hrsg), Die Bürgerbewegungen in der DDR und in den ostdeutschen Ländern, Opladen 1993, S.46

5. Jens Reich, Rückkehr nach Europa, 1991, S.182

6. Hartmut Zwar, Die DDR auf dem Höhepunkt der Staatskrise 1989, in Sozialgeschichte der DDR, herausgegeben von H.Kaelble, J. Kocka, H.Zwahr.

7. Der Spiegel, 40/1989

8. ebda., S.182

9. Es war das Volk. Die Wende in Plauen. Eine Dokumentation, Plauen 1991, S.118

10. H.Bahrmann, Ch.Links, Chronik der Wende, Berlin 1994, S.188

11. Jens Reich, a.a.O., S.139

12. Jens Reich, a.a.O., S.201

13. Der Spiegel, Nr.49/1989

14. Bahrmann, Links, Chronik der Wende, S.175

15. Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt 1990, S.157

 

Anmerkung

1*. Im Original heißt es „120.000 DM“.

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