Agenda 2010 – Hintergründe und Alternativen

Bundesregierung, Arbeitgeberverbände und Ökonomen geben vor zu wissen, wo die wahren Ursachen der gegenwärtigen Krise und der steigenden Arbeitslosigkeit liegen. Sie liegen „bei den Arbeitslosen selbst“. Die Arbeitslosenunterstützung sei schlicht zu hoch. Deshalb lohne es sich nicht zu arbeiten. Viele Ökonomen um den Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Klaus Zimmermann, befürworten die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, damit „es sich für die Arbeitnehmer lohnt, eine Arbeit überhaupt aufzunehmen.“ Es geht angeblich darum, „Fehlanreize“ zu beseitigen. Das derzeitige Sozialleistungssicherungssstem reizt angeblich dazu, arbeitslos zu werden bzw. zu bleiben. Da man die Ursachen an der Wurzel packen muss, setzt die „Agenda 2010“ den Hebel dabei an, „Arbeitsanreize“ (Gerhard Schröder) für die trägen Arbeitslosen zu schaffen.
Die vorherrschende Theorie des Kapitals besagt, dass die Arbeitslosigkeit ihre Grundursache in der Höhe des Lohns hat. Arbeitslosigkeit drückt aus, dass die Löhne noch nicht auf das Niveau gefallen sind, zu dem die Käufer der Arbeitskraft bereit sind, die Ware Arbeitskraft zu kaufen. Um die Löhne auf dieses angeblich zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit notwendige Hungerniveau abzusenken, müssen alle Hindernisse durch sogenannte „Arbeitsmarktreformen“ abgeschafft werden. Also: Je schlechter es einem geht, desto höher wird der Arbeitsanreiz und desto niedriger die Arbeitslosigkeit. Der Anreiz ist dann am höchsten, wenn man gar keine Sozialhilfe mehr bekommt. So wie in den USA. Das ist die zu Ende gedachte Logik. Dummerweise ist aber die Arbeitslosigkeit in den USA mindestens so hoch wie in Deutschland. Wie hoch müssten die Löhne sein, um angeblich Jobs zu schaffen ? Prof. Hans-Werner Sinn vom Münchner ifo-Institut spricht davon, dass die niedrigsten Löhne wie in den USA bei etwa 30 Prozent der durchschnittlichen Löhne liegen müssten. Das wären heute hierzulande etwa 870 Euro brutto für Männer und 660 Euro brutto für Frauen.

Die Experten und Politiker verweisen auf die offiziell 400000 offenen Stellen, die von den offiziell 4,5 Millionen Arbeitslosen nicht besetzt werden. Sie schliessen daraus, dass die Arbeitslosenunterstützung zu hoch ist. Tatsächlich sind offene Stellen im Durchschnitt nur einige Monate offen, bis sie besetzt werden. Und Arbeitslose sind nicht ewig arbeitslos, sondern in Westdeutschland im Durchschnitt sieben Monate. Die Zahl der unbesetzten Stellen ergibt sich aus der Tatsache, dass Arbeitskräfte ihre Arbeitskraft auf einem Arbeitsmarkt verkaufen müssen. Bis hier ein Käufer eine passende Ware findet, braucht es eben seine Zeit. Das gilt für alle anderen Waren auf den Gütermärkten auch.

Nicht der Umstand, wie eifrig die Verkäufer der Ware Arbeitskraft ihre Ware verkaufen wollen, ist entscheidend.

Vielmehr sinkt die Nachfrage nach Arbeitskraft mit steigender Produktivität der Arbeitskräfte. Deshalb erzeugte das Wirtschaftsystem in den letzten 30 Jahren eine Schere zwischen arbeitssuchenden Arbeitskräften und der relativ dazu geringer werdenden Zahl offener Stellen. Von 1991 bis 2000 z.B. ist die Produktivität von IndustriearbeiterInnen um 75 Prozent gestiegen. Das Kapital nutzte dies, um bei steigender Produktion die Zahl der IndustriearbeiterInnen um ein Viertel zu vermindern. Das Kapital braucht eben immer weniger Arbeitskräfte. Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen hat zwischen 1991 und 2000 um drei Milliarden Stunden abgenommen. Eine an sich erfreuliche Tatsache. Aber die Produktivitätsfortschritte werden nicht über Arbeitszeitverkürzung weitergegeben. Statt dessen wird die Arbeitszeit verlängert. Menschen werden „freigesetzt“. Die Freigesetzten finden nur dann Arbeit, wenn sie wieder einen Käufer finden, der an ihnen verdienen kann. Und daran mangelt es. Man braucht einfach nicht mehr so viele Arbeitskräfte, um Profit zu machen. Das Problem ist also nicht die Faulheit, das „Besitzstandsdenken“ und die „Anspruchsmentalität“ der Lohnarbeiter. Es ist das Wirtschaftssystem, in dem jeder Einzelbetrieb mit wachsender Produktivität die überflüssig Gewordenen dem Arbeitsamt oder sich selbst überlässt. Das wird dann „Eigenverantwortung“ genannt.

Die Arbeitslosenhilfe soll abgeschafft (auf Marketing-Deutsch: Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe) und die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld für über 45jährige erheblich verkürzt werden. Arbeitslose sollen wesentlich schneller in die Sozialhilfe abgedrängt werden. Ausgerechnet Sozialhilfe soll den „Anreiz“ zu arbeiten abgeben, obwohl die Propaganda doch immer behauptet, dass gerade die Sozialhilfe die reinste Hängematte für Faulenzer sei. Was aber bedeutet Sozialhilfebezug ? Offiziell sind für einen Haushaltsvorstand fünf Euro am Tag für Essen und Trinken sowie „Verzehr ausser Haus“ vorgesehen. Ein Capuccino im Cafe‘ bringt den ganzen Tagesbedarf durcheinander. In der Regel muss man mit weniger als fünf Euro am Tag auskommen. Alles, was das Leben angenehm macht, ist für SozialhilfebezieherInnen Luxus. Die neue Sozialhilfe für Arbeitsfähige wird beschönigend Arbeitslosengeld II genannt, obwohl es sogar unter dem Sozialhilfeniveau liegt. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ist ein Mittel, um die Löhne nach unten zu drücken. Nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit ist es zumutbar, für einen Lohn in Höhe der Arbeitslosenunterstützung zu arbeiten.

Die Förderung des Lohndumpings gehört zum Kern der Arbeitslosenversicherung. Je geringer die Arbeitslosenunterstützung, desto grösser ist der Zwang, für weniger Lohn zu arbeiten. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ist dabei nur ein Zug in einem Schachspiel. Nicht umsonst beklagen die Arbeitgeberverbände den mangelnden Mut
der Regierung. Sie verlangen, noch weiterzugehen. Sie reden vom ersten Schritt, dem weitere folgen müssen. Der nächste Schritt zielt dann auf die Sozialhilfe. Denn sie fängt die Kürzungen bei den Arbeitslosen bis zu einem gewissen Grad auf. Sie ist im Gegensatz zu Arbeitslosenunterstützungen in gewissen Grenzen bedarfsorientiert. Die Sozialhilfe wirkt wie ein Mindestlohn. „Die deutsche Sozialhilfe wirkt als Lohnuntergrenze, die die Schaffung von Jobs verhindert.“ Soweit wieder Prof. Sinn. Die Sozialhilfe steht im Visier, weil sie den Fall der Löhne nach unten bremst. Deshalb verlangt der Deutsche Industrie und Handelskammertag DIHK die 25prozentige Kürzung der Sozialhilfe. Das bedeutet 3,75 Euro am Tag für Ernährung. Im Handelsblatt, der grössten Wirtschaftszeitung Deutschlands, verlangte der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen sogar die Halbierung der Sozialhilfe. Das bedeutet 2,50 Euro am Tag für Ernährung.

Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe bereitet die Senkung der Sozialhilfe vor. Die Beschäftigten sollen möglichst im Dämmerschlaf überrascht werden. Deswegen wird uns die Senkung der Sozialhilfe als Kampf gegen Missbrauch, gegen Schmarotzer, gegen Scheinarbeitslose verkauft. Mancherorts auch als Massnahme des Kampfs gegen Bürokratismus, obwohl doch gerade der Bürokratismus immer mehr zunimmt. Die LohnarbeiterInnen müssen begreifen, dass sich Angriffe auf die Sozialhilfe und auf Arbeitslose in erster Linie gegen sie selbst richten. Sie sind gemeint, wenn die Arbeitslosen geprügelt werden! Eine Bundesregierung, die entgegen ihren Versprechungen die Arbeitslosenhilfe streicht, ist auch dazu bereit, die Sozialhilfe entgegen ihren Versprechungen zusammenzustreichen. Sie bereitet die Kürzung der Sozialhilfe vor, die Stoiber verlangt.

Die „Agenda 2010“ greift vor allem diejenigen an, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, die sogenannten Langzeitarbeitslosen. Im Originalton der Bundeskanzler: „Wir setzen damit (mit der Agenda 2010) ein deutliches Signal für diejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die länger als zwölf Monate arbeitslos sind. Niemand … wird es künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen.“ Zur Erinnerung: Die zunehmende Dauer der Arbeitslosigkeit ist nicht eine Folge zunehmender Faulheit, sondern der mit steigender Produktivität sinkenden Nachfrage nach Arbeitskraft.

Wer sind die „Langzeitarbeitslosen“ ? Es sind zu 70 Prozent Arbeitskräfte über 45 Jahre. Sie also sollen auf Trab gebracht werden. Die Älteren sind aber vor allem deshalb arbeitslos, weil die Schwächsten zuerst fliegen. Ältere gelten als Minderleister und deshalb ab 45 als schwer vermittelbar. Sie sind im Durchschnitt zu teuer, haben zu viele Fehlzeiten, sind weniger belastbar und geniessen erhöhten Kündigungsschutz usw. Sie gelten deshalb als „SchwachPerformer“, wie Infineon-Chef Schumacher die „Minderleister“ modern umschreibt. Deshalb hat das Kapital mit steigender Produktivität ein verstärktes Interesse, die älteren in die Arbeitslosigkeit oder die Frührente zu schicken. Die Entsorgung der Älteren war eine Voraussetzung für die ungeheueren Produktivitätssteigerungen. Die Altersgrenze, ab der die Nachfrage nach Arbeitskraft abnimmt, sinkt immer tiefer, je grösser der Arbeitsstress wird, je rascher die Arbeitskräfte verschlissen werden.
60 Prozent aller Betriebe beschäftigen heute niemanden mehr, der älter ist als 50 Jahre. Als Siemens die Entlassung von Hunderten von Spezialisten aus der Hoffmannstrasse in München bekannt gab, waren überwiegend ältere über 45 darunter, darunter viele, denen eigentlich gar nicht mehr gekündigt werden konnte. Das zeigt die Haltung des Kapitals gegenüber älteren Arbeitskräften deutlich. Sie werden ihm immer lästiger. Dieselbe Bundesregierung, die gegen die älteren zu Felde zieht, um sie zur Arbeit anzureizen, unterstützt die Unternehmen energisch dabei, ältere Arbeitskräfte immer früher loszuwerden. Das erste HartzGesetz z.B. sieht für ältere ab 50 vor, dass sie bis zur Rente ohne Grund befristet eingestellt, d.h. ohne Probleme entlassen werden können.

Wegwerfgesellschaft

Ältere gelten als „Problemgruppe“ bzw. „Risikogruppe“. Aber ist nicht eher das Kapital eine „Problemgruppe“, die die Erfahrung des Alters dem Profit opfert, die Menschen rücksichtslos auspresst und dann wegwirft, wie in der Wegwerfgesellschaft üblich? Im Fussball bekommen Spieler, die anderen absichtlich den Ellbogen ins Gesicht rammen, die rote Karte. Die „Agenda 2010“ ist ein schweres Foul an den älteren Arbeitskräften. Warum bekommt die Regierung nicht die rote Karte? Ganz abgesehen von der „Opposition“, der die „Agenda 2010“ noch zu harmlos ist und die ein noch härteres Vorgehen gegen die älteren Arbeitskräfte verlangt.

Auch mit Jugendlichen kann das Kapital immer weniger anfangen. Mit steigender Produktivität brauchen die Unternehmen immer weniger Nachwuchs. Insbesondere nicht den Nachwuchs von Arbeiterfamilien. Nur noch ein Viertel der Betriebe bildet aus. Deshalb explodiert die Jugendarbeitslosigkeit. Die Unternehmen haben weder eine besondere soziale Verantwortung für die älteren noch für die Jungen. Sie sind allein der Vermehrung ihres Kapitals verantwortlich.

Wenn das Kapital mit immer weniger Menschen etwas anfangen kann und sie in Arbeitslosigkeit und Rente schickt, dann soll es aus den von allen erwirtschafteten Gewinnen auch für die entsprechend steigenden Kosten aufkommen. Das gilt nicht nur für die Ausbildung aller Jugendlichen, um deren Arbeitslosigkeit wenigstens zeitweise zu verhindern, sondern auch für die Bezahlung der Kosten der Arbeitslosigkeit insgesamt. Es soll die Verantwortung selber tragen und nicht auf die arbeitslos Gemachten abschieben. Wer einen Unfall verursacht, muss dafür haften. Wer Arbeitslosigkeit verursacht und damit die Energien von Millionen Menschen bremst und verschleudert, der soll ebenfalls dafür haften und sich nicht mit Unterstützung der Regierung davonstehlen dürfen.

Unverblümt verkohlt

„Wir bekennen uns zu unserer besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in dieser Gesellschaft. Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosenund Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau.“ So die SPD in ihrem Regierungsprogramm 2002-2006. Schröder hat sein Wahlvolk unverblümt verkohlt. Mandanten, die von ihren Anwälten betrogen und bekämpft werden, entziehen diesen
Anwälten das Vertrauen und das Mandat. Sollte das nicht überall gelten ?

Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes sind uralte Forderungen der Unternehmerverbände. Der Wahlbetrug zeigt, dass sich die Regierung ausschliesslich dem Kapital gegenüber verpflichtet fühlt. Das bedeutet es, wenn der Kanzler von eins zu eins durchsetzen spricht. Eins zu eins die Interessen des Kapitals durchsetzen, ohne Kompromisse. Die Regierung kennt keine besondere Verantwortung für Arbeitslose. Die Arbeitslosen und alle Lohnarbeiter müssen selbst die Verantwortung für sich tragen und sie nicht in die Hände von solchen Leuten legen, die sie aus ihren Eigeninteressen heraus gar nicht wahrnehmen können.

Die „Agenda 2010“ dient auch dem erklärten Ziel, die sogenannten Lohnnebenkosten zu senken. Mit der Begrenzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds sollen die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gesenkt, mit der Ausgliederung des Krankengelds die Beiträge zur Krankenversicherung gesenkt werden. Die Begründung ist rasch zur Hand: Die demographische Entwicklung erfordere das. Die heutigen Sozials-steme seien nicht mehr finanzierbar.

Demographie statt Ökonomie

Beispiel Rentenversicherung. Vor allem die Arbeiterrentenversicherung ist seit 1993 in der Krise, weil die Industrie immer weniger ArbeiterInnen einstellt und immer mehr in Rente schickt. Deswegen wurde der Rahmen der Sozialversicherung zu eng, nicht wegen der sinkenden Geburtenrate und der Alterung der Bevölkerung. Die männlichen Arbeiter wurden seit 1993 auch gar nicht älter, sondern sie sterben früher. Die Angestellten dagegen werden älter, aber in der Angestelltenversicherung gibt es keine solche Krise wie in der Arbeiterrentenversicherung. Die Krise der Rentenversicherung ist keine Folge der demographischen Entwicklung, sondern der Tatsache, dass das Kapital immer weniger Menschen braucht und denen, die es noch braucht, die Löhne kürzt. Das erschüttert die Ein-
nahmen der Sozialversicherung und erhöht ihre Ausgaben.

Immer weniger Arbeitende ernähren immer mehr Rentner. Ja und ? Immer weniger Landwirte ernähren immer mehr Menschen. Die steigende Produktivität macht es möglich. Immer weniger Arbeiter ernähren immer mehr Wasserköpfe, Verwaltungen, Vorstände, Politiker und sogenannte Dienstleister. Das geht doch auch. Dass Menschen immer älter werden, ist ein Fortschritt. Er kann aus dem Reichtum finanziert werden, der durch die höhere Produktivität erwirtschaftet wird. Aber auf dem sitzt das Kapital. Falsche Information über die Ursachen werden verbreitet, um die Bereitschaft zu erzeugen, die Kürzungen zu billigen bzw. den Hebel bei den Falschen, d.h. bei sich selbst oder den Kinderlosen, anzusetzen. Die Krise der Rentenversicherung kann dadurch angegangen werden, dass die finanzielle Grundlage der Rentenversicherung verbreitert wird. Eine einheitliche Rentenversicherung für alle ist das Gebot der Stunde, nicht die wachsende Zersplitterung und Privatisierung der Sozialversicherung.

Die Kürzung der Renten hat nicht den Zweck, die demographische Entwicklung aufzufangen. Sondern es geht darum: a) den Boden für private Versicherungen zu verbessern, b) vor allem die Beiträge zu senken, um Gewinne zu steigern. Jeder Prozentpunkt geringerer Arbeitgeberbeiträge bringt zusätzliche Profite in Höhe von 7,5 Milliarden Euro. Es ist das Kapital selbst, das die Krise der Sozialversicherung erzeugt. Das soll vertuscht werden.

810 000 Euro

Die Krise der Staatsfinanzen zwingt angeblich zu Einsparungen. Die Streichung der Arbeitslosenhilfe bringt sechs Milliarden Euro. Das soll Wachstumskräfte freisetzen. Schauen wir uns die Staatsfinanzen näher an. Die Gewinnsteuern (Körperschaftsteuer, veranlagte Einkommensteuer und Gewerbesteuer) fielen vor allem aufgrund der Steuerreform von 2000 auf 2001 um über 30 Milliarden Euro. Das riss gewaltige Löcher in die Haushalte. Die Steuerreform wurde jedoch als der „erste Schritt“ zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bezeichnet. Jahre später, obwohl die Steuerreform keine Steigerung der Investitionen gebracht hat, hören wir das gleiche vom Arbeitgeberpräsidenten Dieter Hundt: „Das beste Investitionsförderprogramm sind Steuersenkungen auf breiter Basis.“ Und weil die Herren aus „der Wirtschaft“ ja Bescheid wissen, schwatzt es auch ein Aussenminister nach: „Wir haben an erster Stelle in diesem Land ein Investitionsproblem. Dem muss die Steuerpolitik gerecht werden.“ Die Gewinnsteuern zu senken, um Investitionen zu fördern das ist Propaganda vom gleichen Kaliber wie die Lüge, dass die USA in den Irak einmarschieren mussten, um Massenvernichtungswaffen zu zerstören. Letztere waren genauso wenig da, wie die Investitionen gekommen sind.
Hundt verlangt die Subventionierung der Profite auf Kosten der ganzen Gesellschaft. Alle sollen zahlen, damit sich die Taschen von wenigen füllen. Das Kapital hat Dutzende Milliarden Euro bekommen, angeblich, damit es mehr investiert und Arbeitsplätze schafft. Nichts davon ist geschehen. Mit Beginn der Steuerreform 2001halbierten die Kapitalgesellschaften ihre Investitionen. 2001 gab es offiziell gerade mal 37000 Arbeitslose weniger als 2000. 37000 Arbeitslose weniger für 30 Milliarden Euro Gewinnsteuererlass ! Für schlappe 810000 Euro gab es jeweils einen Arbeitslosen weniger! Man sieht, wie viel die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit der Regierung und dem Kapital wert ist.

2002 stieg trotz der Milliardensubventionen die Zahl der Arbeitslosen, und die Zahl der Arbeitsplätze sank. Die Investitionen fielen weiter. Am Ende wurden 50 bis 60 Milliarden Euro den Unternehmen als Steuergeschenk, gegeben, und als „Gegenleistung“ gab es 400000 Arbeitslose mehr und 900000 Erwerbstätige weniger. Die Steuerreform war kein „erster Schritt“ zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sie war überhaupt kein Schritt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Sie diente ausschliesslich der Sanierung der Unternehmensbilanzen. Die Bundesregierung plant schon weitere Steuersenkungen. Sie will den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer senken. Das allein bringt den Reichen sechs Milliarden Euro aufs Konto. Die Arbeitslosenhilfebezieher sollen sie aufbringen, damit z.B. die Vorstände der Aktiengesellschaften endlich in die Nähe des „gerechten“ Einkommens kommen, das sie verglichen mit den USA eigentlich „verdienten“. Deshalb hält es SPD-Generalsekretär Olaf Scholz auch für „absurd“, die Vermögensteuer für die Reichen wiedereinzuführen. Obwohl hier 14,9 Milliarden Euro zu holen wären (bei einem Steuersatz von nur einem Prozent). Er hält es jedoch nicht für absurd, das Vermögen der Arbeitslosenhilfebezieher „anzurechnen“. Und zwar nicht mit einem Prozent sondern mit 50 Prozent und mehr. Das ist nicht absurd. Denn es wäre ja wirklich ungerecht, den Reichen etwas zu nehmen, wo sie doch andere so hart für ihren Reichtum haben arbeiten lassen. Leistung in diesem Sinne muss sich doch lohnen.

Zweck von Investitionen

Wenn Arbeitslose Geld bekommen, wird ständig gefragt, wie hoch die Wiedereingliederungsquote in den ersten Arbeitsmarkt ist. Ist sie zu gering, werden Gelder gestrichen. Arbeitslose werden nach dem Prinzip behandelt. „Keine Leistung ohne Gegenleistung“. Für sich selbst erkennt das Kapital das nicht an. Es bezieht Milliarden an Leistungen ohne eine einzige Gegenleistung. Und niemand fragt nach, wo die Milliarden geblieben sind, die das
Kapital abkassiert hat. Es gibt keine Evaluation und kein Controlling. Die Milliarden wurden verwandt, um sie an Aktionäre auszuschütten, um Finanzanlagen im Ausland zu kaufen und andere Firmen zu übernehmen und damit noch mehr Arbeitsplätze wegzurationalisieren.

Neueinstellungen ? Von 1970 bis 2000 wurden von den Unternehmen im produzierendem Gewerbe, Handel und Verkehr in Westdeutschland fast 5000 Milliarden DM investiert. Bevor diese 5000 Milliarden investiert wurden, gab es fast keine Arbeitslosen. Danach aber betrug ihre Zahl 2,5 Millionen.

Arbeitslosigkeit ist unter der Regie des Kapitals das Produkt von Investitionen. Sie machen es möglich, dass immer weniger Arbeiter immer mehr Waren herstellen und von daher die Nachfrage nach Arbeitskraft sinkt. Es gibt keinen Kapitalmangel. Und es gibt für das Kapital keinen Mangel an Investitionen, sondern gewaltige überkapazitäten, die durch die bisherigen Investitionen aufgetürmt wurden. Die Senkung der Investitionen ist gerade ein Mittel, um gesunkene Renditen wieder anzuheben.

Die Investitionsquote nimmt seit den 70er Jahren ab. Der Reichtum, der erzeugt wurde, fliesst relativ immer weniger in produktive Investitionen und immer mehr in Finanzanlagen. Von 1991 bis 2000 wuchs das Kapital in Finanzanlagen von 7821 Milliarden DM auf 20880 Milliarden DM. Das Sachanlagevermögen (ohne Wohnungsbau) wuchs nur um 1800 Milliarden DM auf 4500 Milliarden DM. Der Kapitalüberschuss fliesst überwiegend in Kredite, den Kauf von Wertpapieren oder in Aktien, d.h. in Firmenübernahmen, Käufe von Beteiligungen oder Spekulation sowie in Luxuskonsum. Der Kapitalüberschuss war die Grundlage der Aktienh-sterie und des Börsencrash, der folgte. Er ist die Grundlage der ungeheuer gestiegenen Verschuldung des Staates, der Unternehmen und der Konsumenten. Er lähmt immer mehr die produktiven Investitionen, statt sie zu fördern. Das Kapital selbst ist die Schranke der Investitionen, nicht ein angeblich durch LohnarbeiterInnen, d.h. durch Sozialausgaben und überhöhte Löhne, verursachter Kapitalmangel. Es ist gerade die steigende Produktivität und der gestiegene Reichtum, die unter der Regie des Kapitals zur Bedrohung werden. Und je widersinniger die Folgen dieser Logik sind, desto aggressiver müssen die Beschäftigten dafür verantwortlich gemacht werden. Denn nur auf ihre Kosten können die Profitraten wieder angehoben werden, die den einzigen Lebenszweck des Kapitals darstellen.

Ein Angriff auf Menschen

Die „Agenda 2010“ wird massiv kritisiert. Sie sei ein Angriff auf den Sozialstaat. Diese Kritik bleibt aber an der Oberfläche. Die „Agenda 2010“ ist in erster Linie ein Angriff auf die Arbeiter, also auf Menschen, nicht auf den Staat. Sie ist auch kein Angriff auf die deutsche Wirtschaft. Zweifellos senkt die Kürzung von Arbeitslosenunterstützung die Binnennachfrage. Insoweit erzeugt das mehr Arbeitslose. Aber die Unternehmen haben kein Interesse daran, dass der Staat Arbeitslosen Geld gibt, damit diese Waren kaufen können und den Umsatz der Unternehmen
erhöhen. Die Ursache der gegenwärtigen Krise ist nicht zu geringe Nachfrage.

Die Krisen entspringen dem Rhythmus der Kapitalverwertung. Immer wieder wird auf der Jagd nach Renditen über die zahlungsfähige Nachfrage hinaus produziert. Und zwar unabhängig davon, wie hoch die Nachfrage ist. Die Profitwirtschaft produziert gesetzmässig Krisen, in denen die überkapazitäten vernichtet werden, ebenso wie überschüssiges Kapital vernichtet wird und überschüssige Arbeitskraft stillgelegt wird.

Das Kapital hat die Produktivität nicht im Griff. Es reisst ein, was aufgebaut wurde. Die Krisen zeigen eine ungeheuere Ineffizienz, die merkwürdigerweise die Folge einer ungeheueren Effizienz ist. Das Kapital ist nicht der Nachfrage wegen der heimliche Verbündete der Arbeitslosen. Es ist im Gegenteil das Interesse des Kapitals an höheren Profiten, das in seinen Augen die Senkung der Arbeitslosenunterstützung notwendig macht. Deshalb ist die „Agenda“ schon überholt, wenn sie beschlossen wird. Es gibt keinen Stillstand. Eine nachhaltige Konsolidierung ist unmöglich, weil das Kapital mit steigender Produktivität die Basis des Lebensstandards der breiten Masse immer mehr untergräbt. Das stürzt die Sozialversicherung und die Staatsfinanzen immer tiefer in die Krise. Alle Therapien zur Senkung von Sozialleistungen und Löhnen, die bisher von den Doktoren des Kapitals und der Bundesregierung angewandt wurden, haben nichts genutzt. Sie hatten ja auch nur den Zweck, die Profite zu erhöhen und dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken. Und genau das Ziel der Profitvermehrung als Selbstzweck ist die Ursache der Arbeitslosigkeit. Alle Mittel, die Profite anzuheben, vergrössern die Arbeitslosigkeit tendenziell. Es handelt sich nicht um eine falsche Politik, sondern um die den Interessen des Kapitals entsprechende Politik, also die für das Kapital richtige Politik.

Aktuelle Herausforderungen

Schröder sagte am 1. Mai: „Wer glaubt, festzuhalten an dem, was althergebracht ist, der verkennt die Herausforderungen.“

Genau: Althergebracht ist zu glauben, dass die Probleme dieser Gesellschaft gelöst werden können, wenn man nur den Moloch der Privatinteressen des Kapitals und der Reichen befriedigt. Die Hoffnungen, die sich darauf richten, sind realitätsferne Träumereien. Wir brauchen radikale Reformen:

  • Die Sozialversicherung muss komplett umgebaut werden, nicht zugunsten der Allianz, sondern gegen sie.
  • Die Steuerreform muss rückgängig gemacht werden. Dann wäre wieder Geld in den Staatskassen, um die vom Kapital arbeitslos gemachten LohnarbeiterInnen zu unterstützen, um die Löcher in den Sozialversicherungen zu stopfen, die die vom Kapital erzeugte Arbeitslosigkeit aufreisst oder notwendige öffentliche Investitionen zu tätigen. Besitzstände müssen angegriffen werden, vor allem die Besitzstände derer, die lieber Milliarden auf den Finanzmärkten verspekulieren, als dazu beizutragen, dass es überall Ganztagsschulen gibt, dass Kindergärten gebührenfrei sind, dass es genügend billigen Wohnraum gibt.
  • Diejenigen, die alle Reichtümer erzeugen, sollen auch ordentlich leben können. Wir brauchen Mindestlöhne oberhalb der Sozialhilfe, keine Billiglöhne, von denen man seine Miete nicht mehr zahlen kann. Wir brauchen das nicht in erster Linie aus volkswirtschaftlichen Gründen, nicht wegen der Kaufkraft, sondern um der Tendenz entgegenzutreten, dass das Kapital die Löhne immer weiter unter das Existenzminimum senkt.
  • Die Produktivität muss den Arbeitern in Form von Arbeitszeitverkürzung zugute kommen. Die Produktivitätssteigerung der letzten Jahre macht eine drastische Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden möglich. Dadurch könnte die Arbeitslosigkeit erheblich abgemildert werden.
  • Das Kapital und seine Vertreter können nicht umdenken und ihre Politik wechseln. Sie können nur Reformen vorschlagen, die der Kapitalverwertung nutzen, sonst keine. Was sie daran hindern kann, ist nur die energische Mobilisierung der Arbeiter und der Arbeitslosen. Je mehr die ihre eigenen Interessen selbst in die Hand nehmen, die Verantwortung für sich selbst übernehmen, desto eher können sie dem Kapital etwas entgegensetzen. Wer sich der Logik dieses Systems unterwirft, kämpft letztlich gegen sich selbst. Wenn man damit Schluss machen will, dass Arbeitslose zum Sündenbock gemacht werden, dann muss man sich damit beschäftigen, wie dieses Wirtschaftssystem, wie die Kapitalverwertung die Probleme erzeugt, die sie ihren Opfern anlastet. Nur dann kann man sich letztlich offensiv verteidigen.

    Rainer Roth ist Professor für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt Armut und Sozialhilfe an der Fachhochschule Frankfurt. Vorliegender Text ist die leicht gekürzte Version eines am 28.05.2003 bei einer Veranstaltung von ATTAC Aschaffenburg gehaltenen Vortrages.

    Fussnoten:

    1 Financial Times Deutschland, 26. Mai 2003
    2 Rainer Roth, Nebensache Mensch, Frankfurt 2003, S. 186-206
    3 Natürlich wären auch Löhne unterhalb des Sozialhilfeniveaus zumutbar, d.h. beispielsweise Minijobs. Ihr Stundenlohn soll (bis jetzt jedenfalls) dem ortsüblichen Lohn entsprechen.
    4 Handelsblatt, 23.08.2001
    5 Regierungserklärung vom 14.03.2003
    6 Frankfurter Rundschau, 7.5.2003
    7 Rainer Roth, a.a.O., Seite 242 Frankfurt (Main) 2003, 600 Seiten, 15,Euro, ISBN 3-932246-39-X

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